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2

Tage kamen, die waren wie Schneegestöber, wenn der Mond als trüber Fleck verstört herabschaut, Freude und Angst in den Runzeln.

Truppenabteilungen wurden zum Rathaus geführt, Tschapygin trat hinaus und hielt feurige Reden im Namen des Sicherheitsausschusses, wischte sich vor Erregung die breite Stirn mit dem Taschentuch und sank, in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt, aufgelöst in einen Sessel.

In den ersten Tagen hörten sich die Soldaten jede beliebige Rede schweigend an, so als blickten sie sich zuerst vorsichtig um, ob die Herrschaften sich nicht zum Vergnügen bloß einen Scherz mit ihnen machten …

Als Petrowskij nach den Haussuchungen in seine Kompanie zurückkam, starrten ihn die Soldaten verständnislos an; was eigentlich los war, war ihnen noch nicht ins Bewußtsein gedrungen; nur eins haftete fest im Gedächtnis: es gab keinen Zaren mehr. In den Augen flimmerte ein Glimmen auf – und erlosch wieder, berauschend in die Tiefe sinkend. Das freiheitliche Wort »Genosse« fraß sich ins Innere, sprengte jahrhundertealte Fesseln.

Petrowskij war der erste, der den Bauernsoldaten den »Armeebefehl Nr. 1« erklärte. Er wurde in den Kompanieausschuß gewählt, in der Offiziersversammlung reichte ihm der Hauptmann darauf nicht mehr die Hand, der Regimentskommandeur aber trat mit dem jungen Manne beiseite und riet ihm, vorsichtig zu sein. Aus dem Kompanieausschuß kam Petrowskij bald in den Regimentsausschuß, dessen erste Forderung war: besseres Essen und Urlaub heim aufs Dorf.

Die bei der Haussuchung bei Lossew beschlagnahmten Dokumente hatte Tschapygin zu sich nach Hause genommen, um sie durchzusehen und zu bearbeiten, da er aber Tag und Nacht so beschäftigt war, daß er sich immerzu den Schweiß von der Stirn tupfte, vergaß er sie bald, und auch der Ausschuß hatte an andere Dinge zu denken. Die Papiere lagen auf Tschapygins Schreibtisch herum. Sein Diener Akim studierte sie und ließ sie allmählich verschwinden, neue Papiere häuften sich auf dem Tische – schließlich verschwand auch Lossews Redaktionsmaterial. Lossew, nach einiger Zeit aus dem Gefängnis entlassen, tauchte wieder in seiner Wohnung auf. Am gleichen Abend, als es dunkel geworden war, sprach Akim bei ihm vor.

Beim Teetrinken sagte der herrschaftliche Diener im Flüsterton:

»Wissen Sie übrigens, Iwan Matwejewitsch, die Papierchen habe ich an mich gebracht.«

»Was für Papierchen?«

»Die Papiere unseres Bundes! Mein Gnädigster hatte sie auf seinen Schreibtisch geworfen, andere Papiere darüber gehäuft; anfangs wagte ich mich nicht heran, dann aber sah ich, daß niemand sich um sie kümmerte, da habe ich sie denn für Sie aufgehoben. Ich habe das Bündel in ein Tuch geknüpft und mitgebracht …«

»Die frohe Botschaft hättest du mir altem Manne auch gleich mitteilen können!«

»Sie sollen ein alter Mann sein?!«

»Im Gefängnis wird auch der Frischeste alt … Hä-hä-hä!«

Lossew verbarg die Papiere wieder im türkischen Diwan und brummte dabei: »Liegt nur ganz still, meine Wertesten, ganz still – einmal kommt auch euer Tag.«

Akim sprach oft vor, erzählte von Tschapygin.

»Beständige Hetzjagd, Dauerbetrieb, die Weste schlottert ihm nur so um den Leib.«

»Bringt er noch Weiber mit in seine Wohnung?«

»Hat sich was!«

Lossews Töchterchen, die kleine Manja, kehrte des Abends spät nach Hause zurück. Die Mutter begegnete ihr mit besorgtem, der Vater mit mißtrauischem Blick. Er fragte sie über den Ausschuß, über Tschapygin aus.

»Ich habe dir doch gesagt, du möchtest die Durchschläge nach Hause bringen, die Durchschläge!«

»Was für Durchschläge meinen Sie, Papa – wieviel Mehl die Stadt braucht?«

»Durchschläge der Geheimpapiere, verstehst du, mein Töchterchen?«

»Geheimpapiere gibt's bei uns gar nicht – jedes Papier wird an die Presse gesandt.«

Lossew glaubte seiner Tochter nicht, fürchtete, daß Tschapygin sie in seine Netze gefangen habe oder ihr auf die Finger sähe.

Beim Diktieren lächelte Tschapygin seiner Typistin zärtlich zu, beugte sich über die Schreibmaschine, um das Niedergeschriebene zu lesen. Die weiße Bluse des jungen Mädchens berührte weich seine Wange, kitzelte sein Ohr, die Kleine bog sich errötend zurück, und Tschapygin war entzückt über ihre Schämigkeit. Er war immer freundlich, beurlaubte sie während der Arbeitsstunden, und eines Abends, als die Arbeit sich bis spät hingezogen hatte, sagte er mit müder Stimme zu ihr und zwei anderen Maschinenschreiberinnen:

»Also endlich sind wir fertig! …«

Die jungen Mädchen sprangen auf, stülpten krachend den Holzdeckel über die Schreibmaschinen.

»Dürfen wir jetzt gehen, Michail Iwanowitsch?«

»So hungrig laß ich Sie nicht fort, wir essen zusammen Abendbrot.«

Er brachte die Mädchen in den Klub und setzte ihnen ein Abendessen vor. An Stelle des Kwas wurde an seinem Tische – dem Tische des Klubvorsitzenden und also des Hausherrn hier – Wein in dunklen Limonadennaschen gereicht. Die Stimmung hob sich, es wurde ein lustiger Abend, die Mädel wollten gar nicht mehr fort. Im Eilschritt ging's schließlich durch die dunklen Straßen nach Hause. Es roch nach jungen klebrigen Birkenblättchen, was einem berauschender als Wein zu Kopf stieg. Tschapygin, so lebensfroh, erschien der kleinen Manja als etwas Besonderes, ein Haß gegen ihren Vater, der sie mit knarrender Stimme immer nach Geheimnachrichten und Papieren ausfragte, erwachte in ihr.

 

Am ersten Mai wogten riesige rote Fahnen über den Köpfen der Soldaten und Arbeiter, die Lieder singend nach Tschapygins Wäldchen vor der Stadt hinauszogen. Im Namen des Soldaten- und Arbeiterrats sprach Petrowskij; er schloß seine Rede mit dem Ausruf: »Krieg den Palästen, Friede den Hütten!«

In der Menge bemerkte er Lossew, gedachte der Haussuchung, der bei Lossew beschlagnahmten Papiere und ging am Abend zu Drakin. Der Ingenieur war in nervöser Stimmung, ein Zucken lief immerfort über sein Gesicht.

»Was machen Sie da, Nikodim Alexandrowitsch? …« wandte er sich an Petrowskij.

»Revolution, mein Herr!«

»Über Ihre Rede im Wald spricht die ganze Stadt. Sie reißen nieder!«

»Ein neues Haus errichtet man nicht auf altem Fundament; bloß in Ihrem Sicherheitsausschuß werden Trümmer gesammelt und mit Sand zusammengeleimt.«

»Es kann nicht zwei Machtzentren nebeneinander geben! Die provisorische Regierung sagt …«

»Jawohl, sie sagt, sie redet, sie handelt aber nicht. Wart ihr es nicht, die das Ende des Krieges herbeiwünschten? Jetzt aber, da auch die Soldaten dasselbe wünschen, sagt ihr ihnen: »Es wird weitergekämpft!« Dabei ist der Krieg aber bereits zu Ende!«

Petrowskij übernachtete bei Drakin.

Die Fabrik stand. Die geringe Hanfernte vom Herbst war vor Frühlingsanbruch verarbeitet worden. Drakin hatte niemand entlassen, das Fabrikkontor zahlte noch immer regelmäßig jede Woche die Löhne aus. In der Teehalle der Fabrik saß der Arbeiterrat. Ignat, in seiner Soldatenbluse, stieg hinkend und mit seinem Stock auf den Boden klopfend, auf das Podium und schwang die Glocke, um die Ruhe wieder herzustellen, wenn es in den Versammlungen gar zu ungestüm herging.

Am nächsten Tage fragte Petrowskij den Ingenieur:

»Was ist übrigens aus den Papieren geworden, die ich bei den Haussuchungen beschlagnahmt habe?«

»Welche Papiere meinen Sie?«

»Lossews. Ich bin deshalb hergekommen.«

»Ach so, ich entsinne mich. Die hat Tschapygin zu sich genommen, er versprach, sie zu bearbeiten.«

»Es waren Namenlisten darunter, und die brauche ich. Sie müssen wissen, dieser Lossew und seine Helfer – ich bin überzeugt, daß alles von ihm ausgeht – entfachen überall sinnlosen Haß und Erbitterung unter den Arbeitern und Soldaten. Ich möchte diese Listen haben. Ignat behauptet, Lossew wiegle auch Ihre Arbeiter auf. Solche Leutchen müssen entfernt werden; es sind Feinde!«

 

Harzfeuchte Knospen, junges klebriges Laub und das flinke Fahrzeug mit Traber und Gummireifen, das Tschapygin vor dem Rathaus erwartete, das alles vereinigte sich zu einer Frühlingsflut, die die kleine Manja dahinriß, hinaus aus der Stadt. Ihr schwindelte ein wenig, ihre Lippen wurden heiß, und durch den Körper strömte es willenlos, ergeben, zwingend. Erst nach Mitternacht kehrte sie heim. Lossew kam in schlürfenden Pantoffeln zur Tür, öffnete seiner Tochter, Manja schlüpfte hastig in ihr Zimmer, um seine knarrenden Worte nicht zu hören.

»So lange schreibst du Papiere ab?! Die müssen wohl sehr dringend sein … Wo bist du gewesen? … Wo? Paß du mir auf – ich jage dich zum Hause hinaus, auf die Straße …«

Unruhig erkundigte er sich bei Akim, als dieser ihn aufsuchte.

»Wie geht es dir? Was gibt es Neues? Bringt Tschapygin niemand zu sich nach Hause?!«

»I wo … Der ist immer in allen möglichen Ausschüssen …«

»Stimmt das auch wirklich?!«

»Na, ich muß es ja wohl wissen, Iwan Matwejewitsch!«

Mit Gesang zogen Truppen durch die Straßen, die vor dem Abmarsch an die Front standen; die Bäuerlein in den feldgrauen Mänteln knackten Sonnenblumensamen und feixten in den Bart. Zu den Übungen erschienen sie in aller Gemächlichkeit, und der Gedanke an die schwarzen Ackerstreifen ausgefallener Frühlingssaat zog sie nach Hause, aufs Dorf.

Tschapygin erschien auf dem Balkon des Rathauses und gab den abziehenden Truppen schöne Worte mit auf den Weg, redete sich heiß, spornte zum Kampf »bis zum siegreichen Ende« an.

Kurz lohte der Sommer dahin.

Die langen Wahllisten der Sozialrevolutionäre brachten Tschapygin einen Sitz in der Stadtverwaltung ein.

Auf Lastautos, unter flatternden roten Fahnen, ratterten Soldaten und Arbeiter durch die Stadt, überschütteten die Straßen mit einem roten Regen bolschewistischer Proklamationen.

Die trägen Bürger, von so viel Worten und Versprechungen betört, steckten diese fertigen Kandidatenlisten in die dunklen Holzkisten, die Wahlurnen.

Drakin bat Tschapygin um Lossews Papiere und erklärte ihm kurz, wozu er sie brauche. Tschapygin schlug sich an die Stirn und versprach, demnächst über die Angelegenheit Bericht zu erstatten. Auf seinem Schreibtisch durchwühlte er alle Papiere, brachte alles in Unordnung.

»Akim, hast du nicht die Papiere des Bundes »Erzengel Michael« gesehen?«

»Ich rühre auf Ihrem Schreibtisch nichts an, das wissen Sie doch, Herr …«

»Vielleicht erinnerst du dich, wo ich sie hingelegt habe?«

»Haben Sie sie denn hergebracht, Michail Iwanowitsch? Ich kann mich gar nicht entsinnen, Sie haben mir nichts davon gesagt …«

Tschapygin durchstöberte Tische und Bücherschränke.

»Vielleicht haben Sie die Papiere im Ausschuß liegenlassen?«

Tschapygin schritt suchend von Zimmer zu Zimmer – als Junggeselle bewohnte er bloß die üblichen vier Zimmer.

Mit schuldbewußter Miene ging er seitdem in die Duma, wich dem Ingenieur aus. Dieser erinnerte ihn an die Sache auf einer Sitzung, wurde hartnäckig, und als Tschapygin erklärte, die Papiere müßten wohl im Ausschuß sein, riß dem Ingenieur die Geduld.

»Meine Herren, Sie wissen ja, weshalb wir die Haussuchungen vornehmen ließen, Sie wissen, daß es sich um Feinde der Revolution handelt! …«

Rechtsanwalt Korenew unterbrach ihn und suchte den Ingenieur und den Ausschuß zu beruhigen.

»Wozu die Aufregung! Die russische Revolution hat alles hinweggefegt, was vom zusammengebrochenen Regime übriggeblieben war, und alle versöhnt. Jene betrogenen Bürger, die durch Drohungen der Monarchisten einst für die Sache des »Erzengel Michael« gewonnen wurden, stehen heute auf unserer Seite, sie sind nicht mehr Gegner der Herrschaft des Volkes, nein! Die russische Revolution hat alle ihre Feinde verschlungen und aufgelöst in dem großen Meer ihrer Freiheit!«

Drakin antwortete nicht, verließ schweigend die Sitzung und kehrte nicht wieder in den Ausschuß zurück, und in den Wahllisten blieb der Platz vor seinem Namen leer.

Des Morgens pflegte er einen Rundgang durch die Fabrik zu machen, paffte seine Pfeife, sprach im Fabrikausschuß des Arbeiterrats in der Teehalle vor, fragte Ignat über die Arbeiter, über die herrschende Stimmung aus, suchte ihm klarzumachen, daß er keine weitere Lohnerhöhung gewähren könne, sagte:

»Die Fabrik erzeugt nichts mehr, ich verausgabe die Lebenssäfte des Betriebs, ihr wißt selbst, daß wir in diesem Jahr auch kein halbes Pfund Hanf hereinbekommen – der Bauer kommt nicht mehr dazu, Hanf zu bauen –, und ich zahle die Löhne nur darum noch weiter, um mir den Grundstock der gelernten Arbeiter, die Betriebskräfte, zu erhalten und die Fabrik wieder in Gang bringen zu können, sobald sich die erste Möglichkeit dazu bietet. Das alles wissen Sie, Ignat!«

Ignat entgegnete ruhig:

»Jawohl, ich weiß das, Kirill Kirillowitsch, aber trotzdem ist eine Zulage notwendig: es reicht nicht mehr zum Leben aus.«

»Dann übernehmt selbst die Fabrik, bringt sie in Gang, ich bin mit allem einverstanden, aber richtet die Fabrik und dadurch euch selbst nicht zugrunde. Ich bin bereit, als euer Verwalter, als einfacher Meister zu arbeiten, aus Liebe zur Sache … Glaubt ihr mir denn nicht?«

Der Meister wandte sich ab und begann aufs neue von einer Zulage zu sprechen.

»Also ihr glaubt mir nicht? Ich werde doch nicht selbst mein Lebenswerk vernichten wollen?«

»Ich glaube Ihnen ja, der Arbeiterrat aber nicht …«

Ignat schob den lahmen Fuß vor und schloß gesenkten Blicks:

»Es wird behauptet, Sie hätten viel Geld auf die Seite geschafft, der Fabrik, den Arbeitern, so das Blut ausgesaugt, und wollten sich nicht von dem Gelde trennen, das Sie im Auslande in Sicherheit gebracht hätten …«

»Wer behauptet das? Wer?«

Ignat zuckte die Achseln.

»Die Arbeiter reden so untereinander …«

Am Abend ließ Drakin Petrowskij kommen, drückte ihm seinen Ärger über den Arbeiterrat der Fabrik aus, saugte finster an seiner Pfeife.

»Die Leute glauben mir nicht, verstehen Sie? Sie wollen mir nicht glauben!«

»Und Sie werden Ihnen niemals glauben, solange Sie nicht mit ihnen gehen. Treten Sie in die Partei ein. Sie sind aus eigenem Antrieb aus dem Sicherheitssauschuß ausgetreten, haben es abgelehnt, an den Stadtverordnetenwahlen teilzunehmen. Sie trauen den Leuten nicht, verlangen aber, die Leute sollten Ihnen trauen …«

»Man würde mir nicht trauen, selbst wenn ich mich euch anschlösse …«

»Das hängt ganz von Ihren Handlungen ab.«

Drakin antwortete nicht, begann von seiner Nichte Fenja zu sprechen.

»So eine Verrückte! Ich habe ihr geschrieben, telegraphiert – sie kommt nicht … Ihr Kind ist hier, ihre alte Mutter ist in Sorge um sie.«

 

Gegen Ende des Sommers, als die Bauernsoldaten bei Tarnopol nicht zum Angriff übergehen wollten, sandte die Regierung, die nicht mehr ein noch aus wußte, ihre Vertreter an die Front, um die Soldaten durch gute Worte zu überreden. Die Soldaten hörten den Reden zu, grinsten – und gingen nicht zum Angriff vor, sondern strömten auf den Dächern der Eisenbahnwagen, auf Tendern, Puffern, Trittbrettern in Scharen nach Hause, um das Land der Gutsbesitzer unter sich aufzuteilen. Selten einmal krachten gewohnheitsmäßig des Morgens Geschütze, verschlafene Abteilungen schafften Munition herbei, verlegten die Stapel der Geschosse von einer Stelle zur anderen. Die Offiziere machten in den kleinen Landgütern der Nachbarschaft Besuche, aus den Kellern wurde Wein geholt, man spielte Karten, Geldscheine knisterten – »Zarennoten« –, denn das Kerenskijgeld war nicht beliebt. In Bauernhäusern und Erdhütten spielten auch die bärtigen Soldaten Karten, bis in die Nacht hinein, kochten sich in Feldflaschen Tee, tranken dickflüssigen säuerlichen Fusel – Hausbrand – aus Gerste und Mais. Vorsichtige Fähnriche und Offiziere kehrten aus dem Urlaub und von Dienstfahrten nicht mehr zurück.

Trockene, schöne Herbsttage kamen. In den Lazaretten hinter der Front herrschte Stille und Heiterkeit, die Schwestern empfingen Besuche, die welkenden Wälder luden zu selbstvergessenen Spaziergängen ein. Des Morgens durchschritten die Höhlenbewohner die Stacheldrahtverhaue, um sich mit dem Feinde zu »verbrüdern«, die Artillerie schoß auf die eigenen Leute, die danach wieder in ihre Laufgräben krochen, bereit, mit dem Bajonett dem eigenen Heer in den Rücken zu fallen. Beim Feuerschein der brennenden Gutshöfe, hoffend und gläubig, warfen sie die Wahlzettel zur verfassunggebenden Versammlung in die Urnen.

 

Im Herbst, als stämmige, wind- und wettergebräunte Matrosen mit flatternden Mützenbändern, wiegenden Ganges, durch die Straßen der Hauptstadt zogen, als der Kreuzer »Aurora« im Hafen von Kronstadt die Anker lichtete, um seine Geschütze gegen Petersburg zu richten, nahmen verkleidete Gardeoffiziere, Fähnriche, verzweifelte Damen, Gemeine auf Bahnhöfen und Nebengeleisen die Züge im Sturm.

Ein rothaariger, hinkender Riese mit durchbrochenem Nasenbein stieß die drängelnde Menge unbekümmert auseinander.

»Bleiben Sie nicht hinter mir zurück, Fjokla Timofejewna, geben Sie gut acht!«

Schon mehrere Male war die kleine Fenja auf den Bahnhof gefahren und wieder in das leerstehende Lazarett zurückgekehrt – es wollte ihr nicht gelingen, in den Zug zu kommen; sie wußte nicht mehr aus noch ein.

Afonka Kaljabin sprach oft des Abends auf ihrem Zimmer vor, klopfte freudig erregt an die Tür der Schwester.

»Ach, Fjokla Timofejewna, was sitzen Sie immer hier im Lazarett, sehen Sie sich doch mal an, was da auf den Straßen vor sich geht.«

»Ich wage mich nicht auf die Straße hinaus, Kaljabin.«

»Wenn ich dabei bin, haben Sie nichts zu fürchten.«

Er bemerkte ihre gepackten Koffer.

»Sie wollen nach Hause reisen?! …«

»Sie haben gut reden, Kaljabin, Sie rührt niemand an. Auch ich habe keine Angst, ich will mich aber keinen Erniedrigungen aussetzen – ich habe das nicht verdient.«

»Sie allein am Abend auf dem Newskij – ja, da haben Sie recht, das geht nicht, das geht jetzt nicht, das geht ganz und gar nicht. Mit mir zusammen aber haben Sie nichts zu fürchten, mit mir kommen Sie jetzt bis ans Ende der Welt! …«

Er machte mit dem Arm eine weitausholende Bewegung, als wollte er die ganze Welt umfassen. Die kleine Fenja lächelte – es sah so komisch aus. Ihr wurde wieder fröhlich zumute, sie bekam Lust, sich das Treiben auf den Straßen anzusehen; tief drinnen erstand die Erinnerung an den Tag, da Kaljabin sie mit seinem Leibe vor der Kosakenpeitsche beschützt hatte – sie war überzeugt, daß er auch jetzt getreuer als ein Ritter sein würde.

»Kommen Sie, sehen Sie sich die Sache an! Sie gehören ja zu uns. Es soll nur jemand wagen, Ihnen zu nahe zu treten … Wenn ich dabei bin, versucht es niemand. Nach Hause kommen Sie noch immer früh genug. Wir reisen zusammen – wohin Sie gehen, da komme ich hinterher; ich lasse Sie in dieser Zeit nicht allein.«

»Gehen Sie jetzt schlafen, morgen wollen wir sehen; ich will mir's überlegen.«

Afonka ging zu Bett, streckte sich, ließ die Muskeln spielen und spürte, wie Müdigkeit ihn allmählich umfing und das Blut in verlangsamtem Kreislauf still wurde.

Den ganzen Tag irrte er durch die Straßen; aus dem Arbeiterrat kommend, setzte er sich auf ein mit Soldaten angefülltes Lastauto und rollte durch die Stadt, atmete tief und freudig, murmelte vor sich hin: »Das Leben gehört jetzt uns, nicht mehr den Herrschaften – wir sind jetzt selber die Herren! … Das ist jetzt unser Leben!«

Am Spätnachmittag eilte er auf den Newskij, um die Luft der Menge zu atmen, die sich in wildem Freiheitstaumel erging; wenn er an der Passage vorüberkam, spuckte er aus, er mußte an vergangene Zeiten denken.

An Straßenecken, in Torwegen standen Damen in alten Astrachanpelzen, Holztablette mit hausbackenen Pastetchen in den Händen; Matrosen mit ihren Mädchen, Soldaten traten heran, warfen verächtlich Kerenskijscheine hin und gingen, an den Pastetchen kauend, grinsend weiter.

»Sie mögen es jetzt mal am eigenen Leibe kennenlernen, das Leben, das wir bisher haben führen müssen! Die hochnäsige Bande!«

Afonka musterte prüfend die Verkäuferinnen, ganz darauf erpicht, wenigstens eine jener Damen unter ihnen zu entdecken, die ihn in das »Haus der Zusammenkünfte« in der Wladimirskaja Straße zu bestellen pflegten, und er lachte zufrieden, wenn Mädchen, die gestern noch arme Straßendirnen waren, feinen Damen witzelnd Pastetchen abkauften.

»Das ist euch nicht mehr die Wladimirskaja, Luder!«

»Was sind Sie denn so allein, Genosse, ohne Dame? Fahren wir irgendwohin.«

Er wandte sich ab, fluchte.

»Hol' euch der Teufel, ich will nichts mehr von euch wissen, habe jetzt meine eigene!«

Er traf Shenja, seine ehemalige Freundin, mit einem Matrosen. Sie erkannten einander, das Mädchen war hocherfreut, lief auf ihn zu. Der Matrose blieb stehen und wartete.

»Afonja, Liebster! Wie viele Jahre haben wir uns nicht gesehen!«

Kaljabin sah sie an wie etwas Entrücktes, Vergessenes, sagte:

»Lebst also noch?«

»Komm mit …«

»Du hast ja schon einen Kavalier – da wartet er – schau hin!«

Shenjas Augen blitzten fröhlich auf, sie rief ihrem Begleiter zu:

»Verzeihung, Genosse, ich habe einen alten Freund getroffen, drei Jahre haben wir uns nicht gesehen!«

Der Matrose machte kehrt, Afonka rief ihm nach:

»Genosse, wohin? Gehen wir doch zusammen, zu dritt ist's lustiger!«

Shenja schmiegte sich an Kaljabin, blickte ihm flehend in die Augen, flüsterte:

»Afonja, Liebster, wir haben uns doch so lange nicht gesehen …«

Er entriß ihr seine Hand und schritt auf den Matrosen zu.

»Dumme Trine, zu dritt ist's doch lustiger! Weshalb den Genossen kränken – hak ein, Shenja.«

Zu dritt gingen sie weiter, Afonka hinkend, wodurch er seine Freundin und den Genossen aus dem Gleichschritt brachte. Shenja erzählte über ihr Leben seit ihrer Trennung, prahlte mit ihrem Verdienst; es fuhr ihr etwas durch den Sinn, sie lachte.

»Weißt du, deine Fettmadame hat mal nach dir gefragt …«

»Welche?«

»Die Gräfin, die in der Wladimirskaja verkehrte … Jetzt verkauft sie Pastetchen, ist ganz mager geworden, man kann sie kaum erkennen!«

»Wo handelt sie?«

»Am Litejnij.«

»Die will ich mir mal ansehen; gehen wir hin!«

Er gedachte der telephonischen Anrufe, der hartnäckigen Aufforderungen des Hausverwalters, der ihn zu überzeugen suchte, daß er, Afonka, nicht das Recht habe, seine Dienste zu verweigern und dadurch eine gut zahlende Klientin vor den Kopf zu stoßen, gedachte der Worte, die er über diese Dame seiner Freundin Shenja gesagt hatte – daß er der Gräfin am liebsten die Gurgel aufschlitzen möchte, von unten angefangen –, und schritt hastiger aus. Als sie auf den Litejnij Prospekt kamen, stieß Shenja ihn mit dem Ellenbogen an und wies mit den Augen auf eine Dame. Afonka hatte unterwegs dem Matrosen von der Gräfin erzählt und freute sich, sie wiederzusehen, vergangener Zeiten zu gedenken; es schien ihm ein Hauptspaß.

Shenja wählte Pastetchen aus, der Matrose zog den Geldbeutel, um zu zahlen, und sah Kaljabin erwartungsvoll an, Afonka trat heran, grüßte und feixte herausfordernd.

»Meine Hochachtung, Gnädigste! … Sie wollen einen alten Bekannten wohl nicht erkennen?«

Die Dame im Astrachan fuhr zusammen, errötete.

»Sie wünschen Pastetchen, Genosse? …«

»Die Wladimirskaja haben Sie wohl vergessen?! Ha, Luder!«

Neugierige blieben stehen, sahen zu, kicherten … Ein Soldat lachte ermunternd. Shenja ließ fröhlich die Augen blitzen und wartete begierig darauf, was weiter folgen würde.

»Also an Ihren Afonka erinnern Sie sich nicht mehr?!«

Der Astrachanmantel begann zu zittern, zwei erschrockene Augen weiteten sich und blickten hilflos, auf dem Tablett hopsten die Pastetchen; die Zuschauer grinsten. Und plötzlich hob sich Afonkas Hand – die Rächerhand für ein ganzes trübes Leben – und griff langsam nach der Gurgel der Dame. Der Matrose packte ihn am Ellenbogen.

»Laß dich nicht ein mit dem Aas, Genosse!«

Afonkas Hand zuckte, streifte einen Ohrring, zwei Finger erfaßten diesen Ring, und im gleichen Augenblick preßte Afonka in unbewußter, quälender Wut den Ohrring zwischen den Fingern zusammen und zog ihn mit einem Ruck nach unten, dabei schrie er: »Luder!« Mit dem Goldstreifen riß das Ohrläppchen aus, an Afonkas Fingern klebte Blut, er schüttelte die Hand, so daß die Finger schnalzend gegeneinander schlugen und der goldene Ohrring weit davonflog, wandte sich gleichzeitig um und schritt, mit den Stiefeln auf die verstreuten Pastetchen tretend, ohne sich umzusehen nach dem Newskij zurück; im Gehen wischte er die Blutflecke vom Mantel.

Kurze Bemerkungen wechselnd, zerstreuten sich die Zuschauer.

»Ha, so'n Luder! Gräfin dazu!«

»Das hat er fein gemacht – Abrechnung für früher …«

Man ging wieder zu dritt; Afonka war die kleine Fenja in den Sinn gekommen; er schwieg finster. Shenja schleppte die beiden zu sich und setzte ihnen alten Kognak vor – der am Tage vorher aus irgend jemandes Keller geholt worden war – und sah bald Kaljabin, bald den Matrosen an. Afonka trank sein Glas aus, räusperte sich und stand auf.

»Bleibt nur sitzen; ich will nicht stören.«

Shenja suchte ihn zurückzuhalten – zu dritt sei es doch lustiger, wegen des freudigen Ereignisses müsse man sich doch einen guten Tag machen, das Wiedersehen feiern, doch Afonka setzte die Mütze auf und schob seine Freundin beiseite.

»Ich habe keine Zeit, keine Zeit, verstehst du!«

»Afonka, wir verkehren ja bloß aus Liebe miteinander, der Genosse und ich; da wird er mir nicht böse sein …«

»Na, wenn es aus Liebe geschieht, so soll ein Dritter nicht stören!«

In Gedanken an sein vergangenes Leben versunken, wanderte er wieder durch die Straßen Petersburgs. Durch eine enge dunkle Gasse kam er hinten an der Kasaner Kathedrale heraus, und wieder mußte er an die kleine Fenja denken, an ihren Kuß – so unverhofft –, sein für sein ganzes Leben. Den Newskij entlang ging er bis zur Michailowskaja, erblickte im Park vor dem Museum ein Feuer, schritt darauf zu, setzte sich zu den Landsleuten, hörte schweigend ihren Gesprächen zu, schlief schließlich ein, einen fremden Rucksack unter den Kopf geschoben; am Morgen fuhr er in das Lazarett zurück.

An der Einfahrt stand eine Droschke, die kleine Fenja schleppte ihre Sachen heraus.

Afonka gab sich einen Ruck – ihm war, als erwachte er aus tiefem Schlafe – und sagte zu Fenja:

»Sie reisen? … Es geht also nach Hause?!«

»Ich will es zum dritten Male versuchen; bisher konnte ich nicht in den Zug kommen.«

»Das hätten Sie mir längst sagen sollen … Ich hätte das schon eingerichtet. Warten Sie, ich bin gleich wieder da …«

Er hinkte die Treppe hinauf, packte seinen Rucksack, blickte ängstlich zum Fenster hinaus – ob sie nicht am Ende fortgefahren sei –, und eilte zur Droschke zurück.

»Ich komme mit, Fjokla Timofejewna! Wo Sie sind, da bin ich auch … Leb' wohl, Petersburg!«

Auf dem Bahnhof schleppte er Koffer und Kissen des jungen Mädchens, an einen Riemen geknüpft und über die Schulter geworfen, drängte die Menge mit Schultern und Koffer auseinander und hatte bald heraus, auf welchem Nebengeleise der wartende Zug stand. Immerfort wandte er sich nach der kleinen Fenja um und rief aufmunternd:

»Mir nach, Schwester, bleiben Sie bloß nicht zurück!«

Vor dem Eisenbahnwagen schob er die herandrängenden Menschen auseinander, versperrte die Wagentür mit seiner Riesengestalt und rief:

»Fjokla Timofejewna! Schwester, hier herauf!«

Unzufriedene Stimmen schrien:

»So geh doch weiter, gib den Weg frei!«

Böse, herausfordernd schrie er zurück:

»Laßt die Schwester durch, Satansbrut – wir kommen von der Front!«

»Von da kommen wir auch – ein seltener Schafskopf!«

Der kleinen Fenja wurde ganz fröhlich zumute; man hatte sie in den Wagen hereingelassen, Afonka zwängte sich in das Abteil und machte sich daran, einen Soldaten herunterzuzerren, der sich auf der oberen aufgeschlagenen Bank, der Nachtpritsche, ausgestreckt hatte.

»He, Onkel, räume den Platz da oben …«

»Ha, was bist du denn für eine vornehme Persönlichkeit?!«

»Die Schwester hier muß da hinauf, also rede nicht viel.«

Die Soldaten starrten den Langen mit dem rothaarigen wirbeldurchfurchten Schopf und die Krankenschwester verdutzt an.

»Was sperrt ihr die Mäuler auf? Die Schwester da hat mehr als einem von uns das Leben gerettet, das ist eine von der rechten Sorte, auch mich hat sie dem Tode entrissen.«

Die kleine Fenja lächelte beim Anblick von Kaljabins Eifer, ihr Lächeln entwaffnete die Soldaten, die Blicke der grauen Bauernaugen wurden gutmütig. Der Landsmann auf der oberen Pritsche kletterte herunter, der auf der unteren Bank liegende richtete sich auf, so hatten der von oben und Afonka einen Sitzplatz.

Afonka sagte, zufrieden lachend:

»Da hätten wir uns nun häuslich eingerichtet, haben feine Plätze, Fjokla Timofejewna! So fahren auch wir Bäuerlein jetzt zweiter Klasse – die anderen haben das lange genug getan; jetzt sind wir an der Reihe.«

Der Zug stand noch lange auf dem Nebengleise, gegen Abend fuhr er, ganz besetzt, in den Bahnhof ein; es wurde versucht, die eingedrungenen Menschen aus den Wagen zu entfernen, Afonka schrie zum Fenster hinaus:

»Hier ist alles voll, wo wollt ihr hin!«

Durch die Fenster wurden Gepäckstücke gereicht, weitere Fahrgäste zwängten sich herein; der Zug war überfüllt, und Stickluft herrschte in den Wagen, als man endlich, mit Verspätung, abfuhr. An den Haltestellen brachte Kaljabin es fertig, siedendes Wasser, Wurst, Brot herbeizuschaffen. Er nahm ohne weiteres Geld von der kleinen Fenja entgegen, kehrte im Triumph, scherzend und lachend, zurück und blickte Fenja mit glücklichen Augen an. Die Soldaten holten ihre Becher hervor, öffneten die kleinen Zuckerpäckchen aus grober Leinewand und tranken, winzige Stückchen Zucker im Munde, ihren Tee. Afonka sorgte für die Krankenschwester, war in Unruhe über ihr Befinden, erkundigte sich angelegentlich:

»Liegen Sie da auch bequem, Fjokla Timofejewna? Vielleicht wollen Sie lieber nach unten?«

Er wandte sich an seinen Nachbarn:

»Genosse, leih mir mal deinen Becher, die Schwester will mit uns Tee trinken.«

Mit heißem Wasser aus dem Teekessel spülte er den Becher, schnellte das Wasser über die Köpfe der Leute hinweg zum Fenster hinaus, tat säuberlich Zucker hinein und füllte den Becher mit Tee. Mit Vergnügen sah er der frischen kleinen Fenja beim Trinken zu und erklärte seinem Nachbarn im Flüsterton:

»Das ist dir nicht irgendwelche – nee, eine von der rechten Sorte ist sie, die gehört zu uns, verkehrt mit unsereinem, ohne die Nase zu rümpfen!«

Es war lustig, diesen einfachen Leuten zuzuhören, und dankbar empfand die kleine Fenja ihre Fürsorge und Hilfsbereitschaft, die so ungekünstelt, so aufrichtig zutage trat. Zuweilen blieben ihre Gedanken an Afonka haften, sie wußte, weshalb er mitkam, wußte, daß er sie jetzt nicht mehr lassen würde, und spürte zugleich ihre Macht über ihn, was ihr Sicherheit und Ruhe gab; wirklich, sie könnte jetzt bis ans Ende der Welt mit ihm fahren, wenn es nötig wäre.

Als der Zug sich ihrer Heimatstadt näherte, wurde Afonka lebhaft, scherzte, gedachte plötzlich Petrowskijs und fragte Fenja, ob er wohl in der Stadt sei; Fenja antwortete, sie wisse es nicht. Als sie am Nonnenkloster vorüberfuhren, sagte Kaljabin zu Fenja:

»Das ist auch so eine Spelunke – die müßte man ausheben! …«

 

Als ein Telegramm mit der Nachricht über die gewaltsame Auflösung der verfassunggebenden Versammlung im Rathause eingetroffen war, hatte der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat die Macht ergriffen. Der Gouvernementskommissar der provisorischen Regierung – ein schmächtiger Militärarzt, der jeden Tag die Amtsstellen besuchte und beliebige Verordnungen unterzeichnete – verschwand schweigend aus seinem Arbeitszimmer, als ein Lastauto mit Soldaten auf der Bildfläche erschien; wußte er doch, daß er eine Regierung vertrat, die sich auf niemand im Lande stützen konnte. Seinen Platz nahm Nikodim Petrowskij ein. Die Bürger merkten diese Ablösung gar nicht, als ungewöhnlich berührte sie nur, daß die Beamtenschaft plötzlich streikte. Der Direktor der städtischen Abteilung weigerte sich, Petrowskij die Schlüssel zur Stahlkammer der Bank auszuhändigen und erklärte, daß er vor Volk und Reich für die Sicherheit der Gelder der öffentlichen Hand verantwortlich sei, solange sich in der Hauptstadt keine anerkannte Regierung gebildet habe. Das Bezirksgericht beurlaubte sich; es fand keine Rechtsprechung mehr statt.

Petrowskij jagte auf einem mit Soldaten besetzten Auto durch die Stadt. Die Bolschewistengruppe hier war nicht groß, man haschte nach jedem willensstarken Mann, mußten doch unverzüglich die Nervenzentren der Stadt – Schatzamt, Privatbanken, Post, Lebensmittel-, Versorgungsausschuß – besetzt werden. Die Arbeiter kamen den Bolschewisten zu Hilfe und bildeten eine Volkswehr, die durch Soldaten verstärkt wurde. Die neuen Wachtposten hielten das Gewehr in ungeübten Händen, doch wäre es schwer gewesen, ihnen die Waffe zu entreißen, auch war niemand da, der es hätte versuchen wollen. Fähnriche und Offiziere irrten verloren durch die Straßen und blieben des Abends unsichtbar. Die meisten waren ohne Achselstücke; solche, die die Ehre ihrer Uniform wahrten, sahen die Soldaten herausfordernd an, die Soldaten traten heran, die Offiziere wurden angehalten, ihre Achselstücke abgerissen, ein Auflauf entstand, bis ein Milizdienste versehender Arbeiter beruhigend auf die Menge einsprach und die Schuldigen vor einem Lynchgericht rettete. In den Druckereien stampften die Maschinen und warfen Verordnungen der neuen Macht in die Welt hinaus: Wer seinen beruflichen Pflichten nicht nachkommt, wird entlassen, auf den frei gewordenen Posten werden Arbeitswillige eingestellt, Saboteure werden verhaftet und im Namen der Revolution zur Verantwortung gezogen.

In überströmendem Freudetaumel krachten des Abends Schüsse auf den Straßen, die Einwohner schlossen Pforten, Tore, Türen, Fenster, Fensterläden, schoben ein Dutzend Riegel und Haken vor, und wagten es nicht, die Nase auf die Straße hinauszustecken. Man saß da ohne Petroleum, ohne Kerzen beim Schimmer eines mit Hanföl gefüllten Nachtlämpchens. Bei Antritt der neuen Macht hatte jemand gleich am ersten Tage die Schwerverbrecher aus dem Gefängnis befreit, worauf unter dem Deckmantel von Haussuchungen überall Plünderungen und Raubüberfälle einsetzten. Zur Abwehr wurde schleunigst eine »Rote Garde« gebildet, in der jeder Arbeiter oder Soldat willkommen war, auf die Verbrecher wurde eifrig Jagd gemacht, und bald füllte sich das Gefängnis aufs neue mit wüstem Stimmengewirr.

Arbeiter bewachten die Lagerstellen für Lebensmittel; Mehl wurde nur auf Ordres des Sowjets ausgeliefert, die Zufuhr von Lebensmitteln hatte gänzlich aufgehört, jedes Krümchen wurde sorgfältig aufgehoben, die Tagesration des Bürgers war auf ein Achtel Pfund Brot aus Hafermehl herabgesetzt worden.

Petrowskij kam tagelang nicht zum Schlafen, hielt sich nur durch die Nervenanspannung aufrecht.

Eines Tages gedachte er des Ingenieurs Drakin und fuhr zu ihm in die Vorstadt Penji hinaus – im requirierten Auto des Ingenieurs.

Drakin pendelte in seinem Arbeitszimmer auf und ab und blickte immer wieder auf seine stillgelegte Fabrik hinaus; über Petrowskijs Besuch freute er sich.

»Na, sagen Sie mir, was haben Sie durch dieses Vorgehen erreicht?«

»Alles, Kirill Kirillowitsch.«

Petrowskijs tief in den Schädel gesunkene Augen glühten, seine Stimme klang barsch, das Befehlen aus dem Stegreif – zu langen Überlegungen fehlte die Zeit – hatte sie gehärtet. Er handelte, gestützt nur auf seine Vernunft und die Notwendigkeit zu handeln; Entgegnungen und bedächtige Ausführungen konnte man aus Zeitmangel nicht dulden – Brot mußte beschafft werden und Geld, immerfort Geld, um all die Löcher zu stopfen.

Petrowskij warf sich in einen Lehnsessel und atmete zum erstenmal seit dem Umsturz ordentlich auf, langsam und tief; dabei strich er sich mit der Hand über die Stirn.

Drakin blieb vor ihm stehen, fragte – und sein trockenes, glattrasiertes Gesicht, die zuckenden Muskeln an der rechten Wange, die Pfeife, jetzt mit einfachem Bauerntabak gefüllt, die großen knochigen Hände schienen mitzufragen:

»Und Sie meinen, Sie können die Macht halten?«

»Wir werden sie halten, Kirill Kirillowitsch! Meinen Sie denn etwa, die provisorische Regierung hätte die Macht halten können? Sie kam zur Macht und hat nichts für ihre Erhaltung getan, sie taumelte zusammen mit der Revolution nach dem Gesetz der Trägheit widerstandslos dahin, sie tat nichts als reden. Sie übernahm den alten Regierungsapparat, der sich längst überlebt hatte, der mit zentrifugaler Kraft auseinanderbarst, sie sah untätig zu, unfähig, die Zersetzung aufzuhalten, und so beschleunigte sie sie nur.«

»Was hätte man denn Ihrer Meinung nach tun sollen?«

»Keine Doppelmacht aufkommen lassen. Das revolutionäre Volk hatte seine Macht in den Sowjets verkörpert, die Bourgeoisie aber und die Landbesitzer, zusammen mit der von ihnen abhängigen sogenannten Intelligenz, der Schicht der Gebildeten, wandten sich von dem revolutionären Volke ab. Sie hatten außer acht gelassen, daß bereits im Jahre 1905 der Arbeitersowjet in Petersburg nach der Macht strebte – jetzt hat das Volk dies Ziel erreicht, es hat die Macht in Händen, sein Hirn aber, eben jene Intelligenz, ist schreckgelähmt.«

»Aber ihr habt ja die verfassunggebende Versammlung auseinandergejagt, sie war daran, die Macht des Volkes in sich zu verkörpern! Ihre erste Tat war die Erklärung, daß der Grundbesitz den Bauern gehören sollte!«

»Warum hat dann das Volk diese Versammlung nicht verteidigt, wenn sie seinen Erwartungen und Wünschen entsprach? Wo war denn dies vielköpfige Volk, das in jenem Augenblick alle Waffen in Händen hatte? War es denn nicht eben dieses Volk, das die verfassunggebende Versammlung davonjagte?! Meinen Sie, im Arbeiter- und Soldatenrat, der die verfassunggebende Versammlung sprengte, habe sich kein einziger wirklicher Bauer befunden?«

»Man hätte …«

»Man hätte sofort und ohne Umschweife den Bauern über die Agrarfrage beruhigen müssen, statt ihn mit schönen Redensarten abzuspeisen und zur Fortsetzung des Krieges anzuspornen – bloßen Versprechungen traute er nicht. Nachdem der Bauer das hundertjährige Joch der Unfreiheit abgeschüttelt hatte, wollte er auch frei aufatmen, wollte über sein zukünftiges Los beruhigt sein; ihr aber erklärtet ihm: Marsch in den Krieg! Versuchen Sie nur, ihm das Land, das er an sich gerissen, wieder wegzunehmen oder ihm die Last einer Entschädigungszahlung für die Enteignung aufzudrücken, dann würden Sie es wahrhaftig erleben, daß der Bauer bis »zur vollständigen Vernichtung« seines Feindes, bis »zum endgültigen Siege« kämpfen würde – ohne daß es dazu schöner Redensarten bedürfte.«

»Ihr unterstützt die üblen Instinkte der Masse, macht euch ihre Habgier zunutze! …«

»Wir haben das Geschehene als Tatsache anerkannt. Was hat die provisorische Regierung unternommen, als die Bauern die Staatsdomänen, also Volkseigentum, Kultur- und Wirtschaftswerte zu vernichten begannen? Als die Anarchie im Lande immer mehr um sich griff, hat eure Regierung, die das Hirn der Nation verkörperte, ihre Emissäre aufs flache Land gesandt, die den Bauern überreden sollten, auf eine gerechte Regelung der Grundbesitzfrage zu warten! Hätte die Regierung nicht Emissäre, sondern Landvermesser ins Dorf gesandt, so hätte sie die Anarchie überwunden. Das ist es, was wir getan haben; wir haben das Reich vor Zerfall und Anarchie gerettet, wir haben seine Werte gerettet, indem wir den gordischen Knoten der Agrarfrage durchhieben: Nehmt das Land, das ihr braucht, ohne zu warten, sagten wir; richtet euch selber eure eigene Macht an Ort und Stelle auf, seid Hausherren in eurem Hause! Sonst wäre Rußland in Blut untergegangen. Dadurch, daß wir die verfassunggebende Versammlung sprengten, haben wir den Staat gerettet, und haben vielleicht eine Heldentat vollbracht, indem wir uns im Namen der Volksbefreiung entschlossen, die Macht auf uns zu nehmen, sie den Händen der von fortschreitender Paralyse betroffenen Intellektuellen und der Bourgeoisie zu entreißen.«

Drakin schritt wieder im Zimmer auf und ab und atmete den Rauch des Bauerntabaks ebenso tief ein, wie früher den des englischen. Er hörte zu, ohne zu widersprechen, war sich irgendwo tief innen der Wahrheit von Petrowskijs Worten bewußt; er empfand, daß Entgegnungen unwahr geklungen hätten, wollte sich aber seine Hilflosigkeit nicht eingestehen.

»Sie, Kirill Kirillowitsch, haben sich von den Intellektuellen abgewandt, was aber haben Sie getan, um sich dem einfachen Volke anzuschließen?! Es ist schmerzlich, sich seine Fehler einzugestehen, doch es wäre besser, dies jetzt zu tun als nachher, wenn das Volk sich von Ihnen abwendet, Sie über Bord wirft, erklärt: Unsere Macht, Macht und Freiheit läßt neue Menschen erstehen, Menschen einer neuen Kultur, unnützen Ballast brauchen wir nicht … Sabotieren nicht die Intellektuellen, die die Revolution herbeigesehnt haben, diese Revolution, nun sie da ist, und nehmen dadurch teil an der Vernichtung von Werten, die Buckel und Hände des Volkes geschaffen haben? Sie, Kirill Kirillowitsch, haben die Leute, die heute an der Macht sind, finanziell unterstützt: Warum gehen Sie denn jetzt nicht hin und arbeiten zusammen mit ihnen?!«

Der Ingenieur klopfte seine Pfeife am Kaminsims aus. Die weiße Asche fiel in einem Klümpchen zu Boden; seine Blicke folgten dem Fall, und als das weiße Klümpchen ohne zu zerschellen über den Fußboden rollte, richtete Drakin sich auf und begann zu sprechen – als hätte alles davon abgehangen, ob das Aschenklümpchen zerschellen würde oder nicht.

»Sie kennen das Gefühl der Bitternis nicht, das mich in diesen Tagen erfüllt, Petrowskij. Ja, ich habe unsere Revolutionäre, die Emigranten, bewußt unterstützt, um der Zukunft willen, als aber diese Zukunft Gegenwart wurde, überkam mich ein quälendes Gefühl. Wenn man einem lichten Ziele zustrebt, so sieht man vor allem das Endergebnis, das verwirklichte Traumbild, und denkt nicht an den Weg, der dazwischenliegt, der durchschritten werden muß – vielleicht über Trümmer und durch scheinbare Vernichtung von Werten hindurch … Und vielleicht liegt gerade hierin die Tragik unserer Intellektuellen. Die Endziele der Revolution, die revolutionäre Demokratie, ihre Rolle beim Neuaufbau, das alles stand ihnen klar vor Augen, und sie dachten, man brauche diese Gedanken, die ihr eigentlicher Lebensinhalt waren, vor dem revolutionären Volke bloß zu entwickeln, damit dieses sie sich zu eigen mache und hinter den Intellektuellen als folgsame Hammelherde hertrabe, endlos zu geduldiger Langmut und edler Selbstbeschränkung bereit. Wenn aber diese Herde einmal vom lebendigen Wasser genossen hat, läßt sie sich nicht mehr von der Quelle drängen, sie fordert, sofort und unverzüglich, das Unmögliche, Unerfüllbare und zieht, Hunger und Durst stillend, wie eine Hunnenhorde durch das eigene Land, alles, worauf sie auf ihrem Wege stößt, ohne Bedenken und hemmungslos zerstampfend und vernichtend.«

»Und da haben Sie einen Schreck gekriegt vor dem Volk, vor seinem mit Elementargewalt dahinbrausenden Zug nach Endzielen?«

»Ja, als nur diese Endziele vor Augen lagen, war alles klar und deutlich, als nun aber die Bewegung dahin und die Vernichtung von allem und allen einsetzte, da versagte einem die Kraft, dies anzuerkennen, sich damit als einer unabwendbaren Notwendigkeit abzufinden, und hierin liegt das tragische Los unserer Intellektuellen. Ich laufe all diese Tage endlos in meinen vier Wänden auf und ab und suche mir das alles zurecht zu reimen. Ich habe mich von den Intellektuellen, die immer nur träumen und idealisieren, abgewandt; aber ich vermag diese Bewegung nicht von innen heraus zu durchdringen, sie mir zu eigen zu machen, diese Bewegung des revolutionären Volkes, das blindlings zerstört, was ich gestern durch meine Arbeit geschaffen habe und was heute von jenen vernichtet wird, um derentwillen es geschaffen wurde! Ich verstehe, daß sie heute die Herren sind, aber meiner alten Rolle entsagen, die mich zu dem gemacht hat, was ich bin, kann ich nicht … Ich will das nicht leugnen, ich fürchte mich nicht, das einzugestehen, kann aber diese Last noch nicht abschütteln.«

»Wird es aber für Sie und unsere Intellektuellen überhaupt nicht noch viel schwerer und tragischer sein, wenn diese Elementargewalt, diese Herde, die gierig an den Quellen eines neuen Lebens saugt, aus sich heraus neue Männer hervorbringt, sie an die Spitze stellt und nun mit Vorbedacht jenen Zielen zustrebt, während Sie und andere, umgangen, mit leeren Händen zurückbleiben, hilflos und untätig, unfähig, diese Elementargewalt, diesen neuen Vormarsch zu verstehen? Wenn ohne euch an dem neuen Leben gebaut wird, neue Werte geschaffen werden, ihr aber wie Gelähmte nutz- und tatenlos dahinsiecht, dem Volke fluchend, das euch umgangen hat, obgleich ja das Volk gar nichts dafür kann? Hierin liegt die Tragik der Intellektuellen, auch Ihre. Je früher Sie sich uns anschließen, desto besser für Sie. Eigentlich bin ich deshalb heute zu Ihnen gekommen. Heute nehmen wir willig jeden auf, der die revolutionäre Bauarbeit mit uns teilen will. Ich schätze Sie hoch und will es darum vor Ihnen nicht verheimlichen, daß wir nur wenige Helfer haben und darum jeden willkommen heißen, der bereit ist, aufrichtig unserer Idee zu dienen und sie zu verwirklichen. Sie müssen sich die Bürde und Verantwortlichkeit unserer Stellung einmal richtig vorstellen. Wir sind jetzt an der Macht, und unsere Macht muß wirklich eine sein, wir schrecken darum vor nichts zurück; morgen aber, wenn wir erstarkt sind, dann finden wir schon genug Leute, schaffen, erziehen sie uns, und dann ist es für Sie zu spät!«

Drakin ging auf und ab und blickte Petrowskij finster an.

»Man würde mir nicht trauen, ich bin Kapitalist, Fabrikbesitzer …«

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, alles hängt von Ihren Taten ab …«

Im Speisezimmer erklang laut eine grobe, polternde Stimme; das Gespräch der beiden brach unbeendet ab.

Afonka trug das Gepäck der kleinen Fenja herein.

Drakin und Petrowskij traten auf den Lärm hin ins Speisezimmer. Erfreut erblickte der Ingenieur seine Nichte, rief:

»Bist du endlich da, du kleine Verrückte!«

»Onkel Kirja! … Weißt du, ohne Kaljabins Hilfe hätte ich es nicht geschafft! …«

»Kaljabin? …«

Etwas regte sich im Hirn des Ingenieurs, ein Bild erstand – Nacht, ein Wechsel, ein Brief … Drakin sah Kaljabin an und reichte ihm die Hand.

»Kaljabin … guten Tag. Ich erinnere mich Ihrer.«

Mit soldatischer Ungezwungenheit streckte Afonka dem Ingenieur seine riesige Hand hin.

»Sie erinnern sich meiner?! Schicksalsfügung, wissen Sie …«

Scharf, prüfend musterte ihn Petrowskij – was Kaljabin jetzt war, wußte er im voraus, aber nicht, wie es in ihm aussah.

»Und Sie, Kaljabin, erinnern Sie sich meiner?!«

Da erst erblickte Afonka den Fähnrich und trat vor Überraschung einen Schritt zurück; dann hob sich seine Hand, schwer, langsam, unsicher.

»Sie sind es, Nikodim Alexandrowitsch?!«

»Jawohl, Kaljabin!«

In diesem Augenblick trat Fenja mit ausgestreckten Händen auf Petrowskij zu und drückte ihm fest und herzlich beide Hände.

»Nun, Nikodim, Sie unverbesserlicher Revolutionär, sind Sie jetzt glücklich?!«

Afonka stand mit ausgestreckter Hand da, seine Miene verdüsterte sich. Petrowskij riß seine Hände aus Fenjas und tauschte mit Afonka einen kräftigen Händedruck, wobei er halblaut sagte:

»Was gewesen ist, ist gewesen und vorbei! … Wenn ich nicht irre, ziehen wir jetzt an einem Wagen?«

Freude überkam den Rothaarigen, über sein verunstaltetes Gesicht zog ein breites Lächeln, und er begann lebhaft zu erzählen, wie er Fjokla Timofejewna hergebracht, eine Bank für sie freigemacht, sie mit Tee erfrischt habe; er wandte sich dabei an den Ingenieur, doch waren alle seine Worte für Petrowskij bestimmt.

»Weißt du, Onkel Kirja, mit Kaljabin kommt man jetzt bis ans Ende der Welt!«

»Sie gehören ja zu uns, Genossin Fjokla Timofejewna! … Die Landsleute von vorhin haben Sie auch gleich als Genossin anerkannt …«

Die kleine Fenja lief zu ihrer Mutter hinüber, die in der alten Hälfte des Hauses wohnte, um sie und ihr Kind, den kleinen Boris, zu begrüßen.

Petrowskij sah sich Afonka an, der Ingenieur schritt stirnrunzelnd auf und ab.

Afonka begann zu sprechen – langsam, mit seinen Worten Petrowskij abtastend.

»Nikodim Alexandrowitsch, ich hätte schon in Petersburg gern mit Ihnen gesprochen, als ich noch im Lazarett lag. Ich hatte Fjokla Timofejewna gebeten, bei Ihnen vorzusprechen.«

»Sie hat mir nichts davon gesagt …«

»Ich war damals ganz in der Gewalt der Gendarmen, an Händen und Füßen gebunden …«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, lassen wir die Vergangenheit ruhen … Jetzt …«

Als hätte er nur auf diese Worte gewartet, stürzte Afonka auf Petrowskij zu.

»Jetzt lassen Sie uns zusammen arbeiten.«

»Also Sie … sind jetzt auf unserer Seite?!«

»Und Sie – gehören zur Partei?«

»Ich hatte noch keine Zeit, mich aufnehmen zu lassen, aber auch ohnedem bin ich treuer als das treueste Mitglied! Immerhin, ich werde der Partei beitreten.«

Das Dienstmädchen brachte den Samowar herein, ihr folgte Fenja, um sich als Hausfrau zu betätigen.

Petrowskij ließ seine Blicke auf ihr ruhen, ein Gedenken überkam ihn, da berührte er mit den Fingern Sinas Ring an seiner Hand, leerte sein Glas und stand schnell auf.

»Ich habe jetzt keine Zeit mehr, muß wieder fort. Nur auf einen Augenblick wollte ich vorsprechen, ich werde erwartet.«

Auch Afonka erhob sich.

»Genosse Petrowskij, ich gehe mit Ihnen.«

Drakin bat Petrowskij in sein Arbeitszimmer und zog die Tür hinter sich zu. Petrowskij fragte ihn:

»Sie sind also einverstanden, Kirill Kirillowitsch?«

»Nein, nicht darum handelt es sich; ich wollte Sie nur fragen, Nikodim Alexandrowitsch –«

»Über Kaljabin?«

»Ja, über Kaljabin … Würden Sie es denn wirklich zulassen, daß ein Kaljabin in die Partei eintritt?!«

»Ja, die Partei braucht solche Leute – sie sind zu allem bereit, was auch nötig sein mag! Proletarier durch und durch.«

»Der zertrümmert …«

Die kleine Fenja wollte Petrowskij und Kaljabin nicht gehen lassen. Im Vorzimmer fragte sie noch einmal:

»Sagen Sie mir, Nikodim, ob Sie jetzt glücklich sind? Sie haben mir vorhin nicht geantwortet.«

»Sie sehen ja selbst! Und Sie, Fenja?«

»Ich liebe das Leben und bin immer glücklich.«

»Das ist keine Antwort …«

Afonka warf ein:

»Von wegen der Revolution …«

Die kleine Fenja hob die Hände, auf Petrowskij und Kaljabin weisend, und antwortete lachend:

»Mit euch beiden habe ich keine Furcht, und ginge es bis ans Ende der Welt! …«

Afonka schloß freudig:

»Also ist es wohl Schicksal, Fjokla Timofejewna – nicht wahr, Genosse Petrowskij?!«

»Jawohl, Kaljabin, Schicksal!«

 

Drakin schritt unruhig im Speisezimmer auf und ab und sprach erregt auf Schwester und Nichte ein.

»Also, sucht eure sieben Sachen zusammen und macht, daß ihr fortkommt, solange das noch möglich ist! Ihr reist nach England.«

Seine Schwester, Antonina Kirillowna, sträubte sich hartnäckig.

»Ich bin zu alt, Kirill, um im Auslande herumzukarriolen … Ich will auch mein Hab und Gut nicht allein lassen; da habe ich alles zusammengehalten, damit meine Tochter was hat, und nun soll ich das alles im Stich lassen …«

»Nach fünf Jahren kehrt ihr zurück. Ich gebe euch einen Scheck auf London mit …«

»Mag Fenja mit dem Kleinen reisen, ich will nicht in der Ferne sterben.«

»Ich will auch nicht fort, Onkel Kirja. Das Leben ist jetzt so interessant!«

»Ach, du bist ja verrückt!«

»Warum wollen Sie mich denn ins Ausland schicken? Was soll eine Verrückte unter all den Normalen? Für die Verrückten ist hier gerade der richtige Ort.«

»Mädel, ich meine es ernst – reise fort. Du hast ein Kind, es hat ein Recht auf seine Zukunft …«

»Gut, Onkel Kirja, ich reise, wenn Sie mitkommen; dann kommt auch Mutter mit.«

Drakin nahm wieder seinen Gang durch das Zimmer auf, blickte zum Fenster hinaus – im Dämmerlicht zeichneten sich schwarz die Umrisse der Fabrikgebäude ab; der Ingenieur zuckte zusammen, dann antwortete er fest und bestimmt:

»Du weißt, ich … ohne das da bin ich ein toter Mann!«

»Nun, Onkel Kirja, also ich will auch nicht in der Fremde dahinsterben.«

»Verrückte!«

»Den Verrückten gehört jetzt die Welt!«

 


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