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Sie gingen in dasselbe schwerfällige, riesige, sechsstöckige Haus, in dem Fenja wohnte, nur lag der Eingang zu Fenjas Zimmer am Kleinen Prospekt. Petrowskij blickte sich sogar um, ob Fenja nicht sichtbar sei. Er wäre ihr nicht gern begegnet, nicht weil er sie zu hintergehen oder ihr etwas vorzutäuschen beabsichtigte, sondern weil er das Neue, Unerhoffte, Ungewöhnliche, das in sein Leben getreten war, als sein eigenstes Geheimnis in sich bewahren wollte.
Gemeinsam mit Sina betrat er die Wohnung.
An ihrer Tür wandte sich das junge Mädchen plötzlich um.
»In mein Zimmer dürfen Sie nicht, Nikodim.«
»Warum nicht, Sina?«
»Es geht nicht, Liebster – vielleicht ist das auch eine Eigenheit von mir … Aber wenn ich jemand bei mir erwarte, so soll auch mein Zimmer an dieser Erwartung teilnehmen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Alles um mich soll leben, Menschen und Dinge. Auch die Dinge leben ja, sie tragen die Züge des Menschen, mit dem sie verknüpft sind. Ich will Ihnen das später erklären … Nachher. Jetzt aber dürfen Sie nicht in mein Zimmer. Warten Sie ein wenig, ich bin gleich wieder da.«
Sie lief in ihr Zimmer, die Tür schnappte ins Schloß, wenige Augenblicke später kam sie wieder heraus und blickte Petrowskij erschrocken an, als fürchtete sie, er hätte vielleicht einen Blick in ihr Zimmer geworfen, und in diesem könne darum irgend etwas geschehen, was sich nachher nicht mehr, nie wieder gutmachen ließe.
Hastig begann sie zu sprechen:
»Wissen Sie, warum ich Sie nicht hereinlassen wollte? Weil ich Sie nicht erwartet hatte. Wenn man einen Menschen erwartet, denkt man unwillkürlich an ihn, und von unseren Gedanken bleibt etwas wie ein Patinahauch an den Dingen haften, und – Sie werden es kaum glauben wollen – aber dann beginnen auch die Dinge an jenen Menschen zu denken. Man sitzt da, denkt an ihn, erwartet ihn und blickt unwillkürlich die Dinge ringsum an, und da fühlt man, daß sie nicht mehr ganz so dastehen oder daliegen wie vorher – so alltäglich mögen sie den Erwarteten nicht empfangen. Und da braucht man nur ein ganz klein wenig an ihnen zu rücken, sie nur zu berühren, über sie hinzustreichen, und plötzlich sind sie alle ganz anders – ihre Seele blickt aus ihnen hervor, ihre eigene, wundersame Seele, und ist wie ein Schimmer um sie, und nun erwarten die Dinge zusammen mit dir den Kommenden und sie beginnen ihn zu verstehen, und er fühlt sich angeheimelt von ihnen, und ganz leicht wird ihm in ihrer Mitte, seltsam leicht, und nie werden sie ihm untreu, und suchen, sich ihm angenehm zu machen, so daß er sich in ihrem Kreise immer vertrauter fühlt … Wie schmerzlich aber ist es, wenn ein Mensch sich bei mir nicht wohl fühlt – das kommt daher, weil die Dinge sich nicht zu seinem Empfang vorbereitet hatten, so verhielten sie sich ablehnend gegen ihn. Man hätte vielleicht nur einen Stuhl wo anders hinstellen oder ein Buch anders hinlegen müssen, um die eigene Stimmung auf die Dinge zu übertragen – und alles wäre anders gekommen, der Betreffende hätte ihre Nähe als angenehm empfunden, da ihn hier alles erwartete … Vielleicht habe ich auch darum keine rechten Bekannten, weil sie immer so unerwartet kommen, als überfielen sie einen, und da setzen sich die Dinge zur Wehr, da sie nicht wissen, wer es ist, und mich behüten wollen … Und wissen Sie – in Gegenwart der Dinge soll man nicht über sie reden, man muß sich ihnen gegenüber wie dem Menschen gegenüber verhalten, der in ihrer Mitte lebt. Man braucht nur etwas Häßliches über sie zu sagen oder sie gar zu offen zu loben, und sogleich fühlen sie sich verletzt – so, als hätte der Betreffende auch den Menschen verletzt, dem sie sich zugehörig fühlen. Da ziehen sie sich in sich selbst zurück, wie die Schnecken in ihr Haus, und stehen starr und stumm da … Und wenn mich jemand so unerwartet überfällt, so sehen die Dinge mich und ihn mürrisch an, so daß ich mich ganz bedrückt fühle in meinem Zimmer und vor den Dingen fliehe, als hätte ich ein schlechtes Gewissen vor ihnen, und erst wenn ich, wieder ruhig geworden, zu ihnen zurückkehre, vergeben sie mir … Sie aber werde ich erwarten, werde ich sehnsüchtig erwarten, aber kommen Sie nie unangemeldet, schreiben Sie mir lieber vorher, wenn Sie mich unerwartet sehen müssen … Ich möchte Sie so gern bei mir sehen … Sie müssen diesen Sonnabend unbedingt zu mir kommen …«
Erst gegen Abend kehrte Petrowskij aus der Verteilungsstelle heim. Sina hatte sich vorher dort von ihm verabschiedet und seine Begleitung abgelehnt, ihn aber noch einmal daran erinnert, daß sie ihn am Sonnabend erwarte.
»Wo seid ihr geblieben? … Ich habe gestern abend endlos auf euch gewartet! Erst als die Kellner die Tische abzudecken begannen, ging ich. Alle Züge seien schon abgegangen, sagte man mir. Gut, daß ich noch eine Droschke fand – so entkam ich einem Aufdringlichen.«
»Der Zug, in dem wir gerade Ähren verkauften, fuhr unerwartet ab, und wir mußten in Bologoje übernachten.«
»Das alles hat wohl jene verrückte Studentin eingebrockt?«
Petrowskij sagte kein Wort über Sina; er fürchtete, Fenjas allzu starke Hände könnten das Zarte in ihm verletzen, das er so sorgsam in sich aufheben wollte. Er konnte Sinas Augen nicht vergessen, die stumm von etwas Geheimnisvollem und Tiefem zu ihm sprachen.
Ungeduldig wartete er auf den Sonnabend; auch das wollte er geheimhalten.
Sonnabends pflegte er und Fenja des Abends auszugehen, zuweilen wanderten sie einfach durch die Straßen. Der kleinen Fenja war das zu einer lieben Gewohnheit geworden, und als Petrowskij ihr erklärte, er habe am nächsten Sonnabend eine Unterredung mit einem Parteigenossen und könne nicht angeben, wann er zurückkäme, sah Fenja ihn verwundert an.
»Arbeitest du denn jetzt wieder politisch? …«
»Ich fange wieder an, Fenja.«
»Wie du willst … Ich … ich schreibe dann einen Brief an Onkel Kirja.«
In der letzten Zeit, seitdem Petrowskij in Boris' Zimmer wohnte, war eine gewisse Entfremdung zwischen den beiden eingetreten. Zuweilen zögerte Petrowskij des Abends in ihrem Zimmer mit dem Aufbruch, Fenja spürte warum, lächelte ihm zu, wenn sie sich frei und leicht fühlte; dann blieb er, sonst sagte sie einfach:
»Sei mir nicht bös, Nikodim, ich bin heute nicht aufgelegt …«
Dann verließ er sie stumm.
Zuweilen ging die Anregung von ihr aus, sie wurde zärtlich, ein warmer Hauch, lockend und süß, ging von ihr aus, den er gleich merkte; dann blieb er.
Auch am Abend nach seiner Rückkehr aus Bologoje spürte er Fenjas leises Werben, schützte Müdigkeit vor und stand auf.
Fenja unterdrückte die aufsteigende zärtliche Wallung und sagte ruhig:
Bis zum Sonnabend suchte er Fenja zu meiden. Seine Ungeduld wuchs.
Sina hatte ihn gebeten, um sieben Uhr zu kommen.
Er verließ das Haus schon um fünf, und obgleich er nur um die Ecke zu biegen und in dasselbe Haus von der Nebenstraße einzutreten brauchte, ging er – um sich selbst etwas vorzutäuschen oder es vor Fenja zu verheimlichen, hätte er nicht sagen können – auf den Großen Prospekt, stieg geschäftig in die Straßenbahn, fuhr bis zum Newskij, schritt von der Kasaner Kathedrale nach dem Nikolai-Bahnhof, beständig nach der Uhr blickend, meinte, die große elektrische Uhr an der Litejnaja zeige bereits ein Viertel vor sieben, erschrak bei dem Gedanken, er könne sich verspäten, zog seine Taschenuhr hervor – es war erst ein Viertel vor sechs –, studierte endlos ein gleichgültiges Kinoprogramm, sah wieder auf die elektrische Uhr, setzte langsam seinen Weg nach dem Bahnhof fort, blieb vor dem klobigen Denkmal Alexanders III. stehen, gedachte der sarkastischen Witze, die über dieses Denkmal und den verstorbenen Zaren im Umlauf waren, lachte, ließ mehrere Straßenbahnwagen vorüber und sprang schließlich auf die Nr. 7. Die beiden grünen Lichtflämmchen zwängten sich lange durch das laute Gewimmel der Straßen, der Wagen ratterte dröhnend über Quergeleise, die toll gewordene Glocke klingelte ohne Unterlaß, der Wagen überholte Droschken und funkelte böse mit seinen grünen Augen die Autos an, die hart vor ihm einander unablässig jagten. Nikodim stand vorne auf der Plattform und sah mit Befriedigung, daß die Sieben eilte, er fürchtete zu spät zu kommen und blickte fortwährend auf seine Uhr; er wollte sogar den Wagenführer bitten, die Fahrt noch zu beschleunigen, als er aber in dessen gespanntes Gesicht sah, entschied er, daß so ein Mensch wisse, was er tue, und die vorgeschriebene Ordnung nicht verletzen würde. Und erst als der Wagen, ungestüm schaukelnd, eilig in die Selenina-Straße einbog, als hinge von dieser Kurve seine ungehemmte Vorwärtsbewegung ab und als wäre er froh, dem wimmelnden Verkehr entronnen zu sein, beruhigte sich Petrowskij, hatte er doch noch zwanzig Minuten vor sich, wenn er, wie ausgemacht, Punkt sieben an ihrer Tür läuten wollte. Ohne recht zu wissen, warum, trat er in die Bäckerei Philippow ein, überlegte sich, ob er ein Fleischpastetchen essen sollte, doch als er vor dem großen eisernen Wärmschrank, dem ein dicker Bäcker in weißer Mütze und weißer Schürze die Pastetchen entnahm, Menschen anstehen sah, fürchtete er wieder, er könnte sich verspäten, und verließ eilig den Laden. Er bog in den Kleinen Prospekt ein und näherte sich, die Uhr in der Hand, genau um sieben dem Hause, in dem auch er und Fenja – bloß um die Ecke herum – wohnten.
Einen Augenblick zögerte er noch vor Sinas Tür, dann drückte er auf die Klingel.
Sina öffnete selbst – offenbar hatte sie auf ihn gewartet.
Ihre struppigen Augen leuchteten auf.
In ihrem schwarzen Kleide machte sie auf ihn wieder den Eindruck eines kleinen Backfisches. Ihre Hand verschwand in der seinen, bloß an einer Seite blitzten wie silbrige Tautropfen vier winzige Nägelchen hervor. Aus Angst, ihr durch einen kräftigen Handdruck weh zu tun, gab er ihre Hand gleich wieder frei. Er gedachte ihrer Worte, daß nicht nur sie, sondern auch alle ihre Sachen ihn erwarten würden, und lächelte bei diesem Gedanken. Die Zimmereinrichtung war fast die gleiche wie bei Fenja, bloß der Schreibtisch stand mit der Schmalseite gegen die Wand gerückt und vor ihm auf einer hohen schmalen Etagere ein Blumenstrauß, blaßgelbe Chrysanthemen, wohl ihre Lieblingsblumen, die nach herbstlich welkem Laub dufteten und ebensolche Ringellocken hatten wie Sina. Auch ein Lederdiwan war da, aber von dunklerer Tönung – kastanienbraun wie ihre Haare –, und das eine Ende, auch wie bei Fenja, nah an den Ofen gerückt. Auf der anderen Seite, ebenfalls mit der Schmalseite an der Wand, stand ein Nußbaumschrank; hinter einem schwarzen Vorhang erriet man Waschtisch und Korb; daneben das Bett, niedrig und schmal wie ein Kleinmädchenbett und wohl nur mit einer dünnen Roßhaarmatratze … Das Erstaunliche aber war, daß das Zimmer die Form eines länglichen Ovals hatte, wodurch es in diesem Raum ungewöhnlich still schien. Im Winkel zwischen Ofen und Diwan stand ein runder Tisch, der so niedrig war, daß er nur wenig über den Fußboden aufragte, und daneben eine Art kleiner Fußschemel.
Daß das impulsive junge Mädchen in einem ovalen Zimmer wohnen könnte, hatte Petrowskij nicht erwartet; er war geradezu verblüfft darüber. Keine Ecken, die immer etwas sehr Bestimmtes an sich haben, nichts Abgeschlossenes, und dann das Fehlen des üblichen hohen Bettes, bei dessen Anblick man an Frauen denkt, an satte, gesunde, kräftige Frauen, und der niedrige Tisch, der ebenso überraschend und ungemein naiv wirkte … Petrowskij hatte das Empfinden, daß hier zwischen den Dingen und ihrem Besitzer wirklich eine harmonische Übereinstimmung herrschte.
Die Schreibtischplatte war fast leer, offenbar befand sich alles drinnen in den Schubfächern – ganz wie bei Sina selbst; nach außen hin kamen dann solche unerwarteten Chrysanthemen zum Vorschein …
Sina fragte nicht, wie es üblich ist, wie es ihm bei ihr gefalle; sie sagte: »Da sind Sie nun bei mir …«
Auf dem Tisch lagen ein paar Gedichtbände – Innokentjij Annenskij und Block.
Sie entzündete schnell die Holzscheite im Ofen, brachte Tee herein, stellte eine Tasse, ein Glas in einem Silberbecher, Äpfel, Konfekt und Backwerk auf den niedrigen Tisch, drehte die Lampe auf dem Schreibtisch aus, lief noch einmal zum Ofen, schob die brennenden Scheite zurecht und setzte sich auf den kleinen Schemel.
»Jetzt sind Sie mein Gast – setzen Sie sich hierher!«
Sie schob ihm einen ebensolchen niedrigen Schemel hin.
Der Tee war stark, dickflüssig, duftig – fast ölig. Man konnte ihn nur langsam und in kleinen Schlucken zu sich nehmen, wenn man sein bitteres Aroma genießen wollte.
»Sagen Sie mir, Nikodim, wie es gekommen ist, daß Sie aus Sibirien zurückkehren durften? … Ich habe die ganze Zeit über daran denken müssen – damals vergaß ich, Sie zu fragen …«
»Ein Ingenieur, ein Industrieller, hat es zuwege gebracht …«
»Wissen Sie was – diesem Manne will ich schreiben – nur wenige Worte. Sagen Sie mir seinen Namen.«
Die Frage kam ihm unerwartet, besonders überraschend aber ihre Absicht, einem unbekannten Manne zu schreiben, weil dieser ihn aus der Verbannung befreit hatte. Betroffen hatte ihn das Zimmer und das Teetrinken vor dem brennenden Ofen – der Hauch von etwas Ursprünglichem, Altersgrauem wehte ihn daraus an: der primitive Herd, das sorgsam gehütete heilige Feuer, das Dämmerlicht einer Urbehausung … Und vor den knisternden Flammen, im Lichte des Feuerscheins das Mädchen in Schwarz, fast ein Kind noch, mit schwarzen struppigen Augen und beinahe leuchtendem lockigem Bronzehaar – eine dichte Haarsträhne lag gleich einer kleinen Ringelschlange, dem Emblem der Weisheit, über ihrer Stirn; die strengen Brauen berührten sich leicht über der Nasenwurzel – erst jetzt bemerkte er das …
»Drakin ist sein Name, Ingenieur Drakin …«
»Kirill Kirillowitsch Drakin? Ja, heißt er so?«
»Ja – warum fragen Sie?«
»Ich kenne ihn. Eine Frau, die ihm nahesteht, hat mich mit ihm bekannt gemacht.«
»Ich bin an seinem Arme quer durch einen Tanzsaal geschritten, es war ein wenig unheimlich – er ist wie aus Stahl … Sie liebt ihn aber sehr – bis zum Wahnsinn!«
»Kennen Sie die Dame?«
»Nach Mutters Tod – Vater ist schon früher gestorben – bin ich in ihr Haus gekommen, habe ganz bei ihr gelebt – auch jetzt noch verbringe ich den Sommer immer bei ihr auf ihrem Gut.«
»Sie haben mich aber doch nach Ihrem Gut, nach Belopolje, eingeladen?«
»Das ist gleich nebenbei, die beiden Güter stoßen aneinander – in Belopolje lebt mein Bruder; wir sind uns aber ganz entfremdet …
»Ist dieser Ingenieur ein guter Mensch? Ich habe ihn ein paarmal gesehen, früher … Damals haßte ich ihn … Aber ich glaube, er ist ein aufrechter Mann.«
»Man nennt ihn bei uns den ›Amerikaner‹. Jene Frau aber sagt, er sei Russe, durch und durch Russe, doch gebe es solche Russen noch nicht in Rußland, er sei bisher der erste, einzige … es sollte sie aber geben …«
Petrowskij fürchtete, sie könnte fragen, wieso dieser ihm unbekannte Mann dazu gekommen sei, sich für seine Befreiung einzusetzen; doch ihre Gedanken gingen ihren eigenen Weg.
»Einen Unbekannten aus dem Elend befreien! … Hat die Frau da nicht recht, wenn sie sagt, er sei durch und durch Russe? Ich will ihm gleich morgen schreiben … Ihren Namen werde ich gar nicht erwähnen, ich schreibe bloß: ›Dank, innigsten Dank! Sina‹ – nur vier Worte …«
Sie blickte sinnend ins Feuer.
»Wie schön ist es, daß Sie zu mir gekommen sind!«
Gleich darauf sprang sie auf, als fürchtete sie, er könnte daraufhin versuchen, sich ihr zu nähern, sie zu berühren oder zu küssen, und drehte die schirmbeschattete Lampe auf dem Schreibtisch an. Dann kuschelte sie sich, die Füße an sich gezogen, in eine Ecke des Diwans und verschwand wieder halb – der Lichtschein beleuchtete nur Gesicht und Kopf, während ihre schwarzgekleidete Gestalt im Dunkel kaum zu erspähen war, erraten, erträumt werden mußte. Selbst die Ringeln über Stirn und Ohren waren schwer zu unterscheiden – bloß ihr Gesicht war sichtbar und die Augen, groß und dunkel, die zuweilen aufflammten wie der Brillant in dem Ring an ihrem Finger – auch diesen Ring, wie ihre sich berührenden Brauen, hatte Petrowskij erst jetzt bemerkt.
Petrowskij saß still und stumm da und sah sie an …
Plötzlich erhob er sich und sagte betont:
»Ich gehe jetzt, Sina.«
Sie fuhr auf.
»Schon? Warum so früh?! … Sehen Sie, ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich keine Bekannten habe, weil ich …«
Sie blickte Petrowskij an und drang nicht weiter in ihn …
»Und … werden Sie niemals wiederkommen?«
»Doch, Sina, ich werde wiederkommen!«
»Aber Sie müssen sich vorher immer anmelden …«
Er trat auf die Straße hinaus, seltsam bewegt. Er wollte nicht gleich nach Hause gehen, obwohl er dazu nur um die Ecke zu biegen brauchte, irrte lange durch die Straßen, ging schließlich in eine Gastwirtschaft, saß grübelnd an seinem Tisch. Was für ein merkwürdiges Mädchen sie doch war! Merkwürdig war auch ihr ovales Zimmer im flackernden Feuerschein, verloren wie ein tiefes Kellergewölbe, und doch war es schön bei ihr. Da war nichts von dem üblichen, unruhigen Hin und Her, den gleichgültigen Beleuchtungsquellen, die einen blenden, dem geschäftigen Treiben der Hausfrau, die sich emsig abmüht, grundlos lacht, bloß um dem Gast zu verstehen zu geben, daß sie sich über seinen Besuch freut. So wird auch das Zimmer ungemütlich, die fremden Sachen starren einen an, und nicht der Gast stößt sich gegen sie – sie suchen dem Gast einen Stoß zu versetzen – wohl auch darum, weil sie sich durch seine Gegenwart so lebhaft angeregt fühlen wie die geschäftige Hausfrau, dachte er, Sinas Gedanken weiterspinnend … Im mattrötlichen Dämmerschein von Sinas Zimmer hingegen herrschte eine seltsame, fast unheimliche Stille, aber wenn von außen her ein gedämpfter Laut hereindrang, spürte man das emsige Leben unbeirrt seinen Fortlauf nehmen, nur daß hier immer alles still und lautlos war, in ein Lauschen zwischen Mensch und Dingen versunken, das alles Erleben vertiefte …
Ein kreischendes Grammophon unterbrach seinen Gedankengang. Er seufzte. Er wäre gern wieder hingegangen, wieder eingetreten in die tiefe Stille ihres Zimmers, hätte gern neben dem leisen Mädchen gesessen, die so merkwürdig heiß aufflammen konnte, daß man betroffen erbebte und einem heiße Blutwellen durch die Glieder jagten, von unfaßlichen Verheißungen raunend … Das Grammophon polterte weiter, Petrowskij stürzte sein Glas Bier hinunter, wollte aufstehen und gehen, blieb aber anstatt dessen wie an den Tisch gefesselt sitzen, als hätte ihm ein Rausch Willen und Glieder gelähmt.
Er war plötzlich unter dem jähen Gedanken zusammengebrochen, daß er sich von Fenja aushalten ließe! … Ekel fühlte er in sich aufsteigen, war sich selbst widerlich, bestellte noch Bier, trank gierig.
Dies Zusammenleben mußte aufhören! War er nicht tatsächlich ihr Zuhälter?! Bestellte sie ihn nicht zu sich, wenn sie seiner bedurfte? Zuweilen zwar gab sie auch seinem Drängen nach, aber meist wenig willig; das hatte ihn immer verletzt; wenn sie aber seine Gegenwart wünschte, dann wurde sie weich und zärtlich, und das war so erniedrigend! Dafür bezahlte sie sein Zimmer, er durfte von ihrem Gelde für sein Mittagessen und seine sonstigen Ausgaben nehmen, soviel er brauchte – zählte nicht einmal, wieviel er nahm. Entsetzlich! Sie hatte ihn, den Liebenden, umgarnt, an sich gezogen, seine Bedenken, seine Zweifel, seine Ablehnung mit ihren Küssen erstickt … Dabei fühlte er gegen sie keine Bitterkeit, er war an allem schuld, seine Schwäche war schuld, denn damals, als er erschöpft und gebrochen zurückkehrte aus der Verbannung, hatte es ihm einfach an physischen Kräften gefehlt, um selbständig und unabhängig handeln zu können, um arbeiten zu können. Er war nach Jahren der Trennung zu der Geliebten zurückgekehrt und an ihrer Brust zusammengebrochen … Aus ihrer Nähe hatte er neue Kräfte geschöpft … Bedenken waren ihm schon damals gekommen, jetzt aber sah er klar. Vielleicht hatte ihm die Begegnung mit Sina die Augen geöffnet. Er wagte nicht, sich einzugestehen, welcher Art das Gefühl war, das ihn mit Sina verknüpfte, aber er fühlte sie immer in sich und spürte noch immer ihren Kuß auf seiner Stirn brennen. Das mit Fenja, das einst Liebe war, mußte jetzt aufhören, denn jetzt war es nicht mehr Liebe; er mußte sehen, wieder Privatstunden zu geben und sich von ihr trennen.
Am nächsten Morgen nahm er zum Frühstück keinen Bissen in den Mund, trank nur ein Glas Tee, um sie nicht gleich erraten zu lassen, daß er mit ihr brechen wollte. Sie fragte ihn, wie er den gestrigen Abend verbracht habe.
»Über Dinge, die sich auf die Revolution beziehen, reden wir nicht, Fenja.«
»Auch mir kannst Du nichts sagen?«
»Niemandem.«
Des Abends ging er aus, wanderte stundenlang durch die Straßen, sprach einmal bei Karpow vor. Karpow wunderte sich ein wenig, dachte dann aber, Petrowskij sei in Angelegenheiten ihres Heimatverbandes gekommen; Sina Belopolskaja, die auch zu dem Verbande gehörte, fiel ihm ein, er fragte:
»Gefällt Ihnen diese Belopolskaja?«
Petrowskij dachte im Augenblick nicht an Sina und wußte nicht, wen Karpow meinte.
»Was für eine Belopolskaja?«
»Jene Sina, mit der Sie damals nach Bologoje gefahren sind.«
»Ist sie denn unsere Landsmännin?«
»Aber gewiß doch! Ein merkwürdiges Mädchen …«
Um seinen Verkehr mit ihr nicht zu verraten, antwortete Petrowskij kurz:
»Ja, ich glaube …«
Dann fügte er hinzu:
»Ein sehr merkwürdiges Mädchen.«
»Man hält sie bei uns für albern und ein bißchen verrückt …«
Petrowskij wollte nicht über Sina sprechen und verabschiedete sich – es blieb unklar, warum er überhaupt gekommen war.
Als er sich bereits zum Gehen wandte, sagte Karpow lachend:
»Wollen Sie Sina nicht besuchen? Ihr Namenstag kommt bald, und wir alle wollen sie dann überfallen. Kommen Sie mit, es gibt einen Hauptspaß … Sie haben es ja ganz nah zu ihr.«
Nach dem Gespräch mit Karpow quälte sich Petrowskij tagelang mit dem Gedanken ab, wie er Sina vor dem Besuch der ungebetenen Gäste schützen könnte, und war empört, daß die ganze Sache nur ausgeheckt war, um sich über ihre Eigenheiten lustig zu machen. Er stellte sich Sinas Bestürzung vor und dachte, sie würde bestimmt in Tränen ausbrechen, wenn sie die unliebsame Gesellschaft wieder entfernt hätte. Vielleicht würde sie aber auch nicht die Kraft haben, sich gegen die ungebetenen Gäste aufzulehnen, und, in ihrem Zartgefühl verletzt, in ihrer Gegenwart von Tränen übermannt werden. Das wäre das schlimmste; er mußte sehen, dem vorzubeugen.
Auf seinen abendlichen Wanderungen hielt er sich jetzt oft in der Nähe ihres Hauses, in dem ja auch er gleich hinter der Ecke wohnte, blieb vor den Schaufenstern stehen, betrachtete die ausgestellten Drogenwaren und dachte daran, daß oben, nur wenige Schritte von ihm entfernt, Sina wohne, und er nicht zu ihr dürfe. Auf der anderen Seite der Straße aber stand jener Unbekannte mit dem harten Hut, der schon seit Stunden hinter ihm herschlich. Petrowskij, in sich versunken, bemerkte ihn nicht, der Spitzel aber kochte vor Wut und hielt diesen verdammten Studenten für verrückt, wanderte er doch endlos durch die Straßen, fuhr mit der Straßenbahn ziellos durch die Stadt, besuchte niemand, traf mit niemand zusammen. Als Petrowskij bei Karpow vorsprach, war der Spitzel hocherfreut, denn auch Karpow stand unter geheimer Polizeiaufsicht, und der Spitzel kam nun zu der Ansicht, daß Petrowskij ein sehr geriebener und vorsichtiger Verschwörer sein müsse, der etwas ungeheuer Wichtiges im Schilde führe. Darum wohl suchte der ruhelose Student ihn durch seine endlosen Wanderungen zu ermüden und zur Verzweiflung zu bringen, damit er die Verfolgung schließlich aufgäbe. Jetzt beobachtete er ihn von der anderen Seite der Straße, sah ihn lange vor dem Hause auf und ab gehen, in dem er selbst wohnte, und folgerte, daß Petrowskij auf jemand wartete. Und wirklich trat schließlich ein junges Mädchen, die große schwarze Augen hatte, auf den Studenten zu, wechselte ein paar Worte mit ihm und verschwand in dem gleichen Hause. Erfreut entschied der Beobachter, daß das Mädchen offenbar jene wichtige Persönlichkeit sei, um derentwillen Petrowskij ihn tagelang ziellos durch die Straßen gehetzt hatte, und schrieb frohlockend in sein Notizbuch: ›Konspirative Unterredung mit dem Plumpen (darunter war Karpow gemeint) und einer Großäugigen (was sich auf Sina bezog)‹ und meldete seine Beobachtungen gleich am nächsten Morgen an seine vorgesetzte Stelle.
Nach Hause zurückkehrend, hatte Sina Nikodim bemerkt, der stirnrunzelnd vor einem Schaufenster stand und nervös die Hände aneinanderrieb; sie erriet, daß er auf sie wartete, sie sprechen wollte – vielleicht lag etwas Wichtiges vor. Sie eilte auf ihn zu, lief fast, blickte ihn aus weit geöffneten Augen an.
»Nikodim, Sie warten auf mich?«
Petrowskij zuckte zusammen und antwortete erfreut:
»Ja, Sina, ich warte schon mehrere Tage auf Sie …«
»Was ist geschehen, Liebster?«
»Ich weiß, daß bald Ihr Namenstag ist und an diesem Tage möchte ich Sie gern, sehr gern besuchen. Sie meinten, Ihre Seele habe die meine berührt – vielleicht berührt meine Seele nun Ihre … Ich möchte an diesem Tage bei Ihnen sein.«
Das junge Mädchen sah ihn betroffen an und wußte nicht, was antworten. Sie mußte jetzt immer an ihn denken, und je mehr sie an ihn dachte, desto näher kam er ihr innerlich. Sie hatte ihm ihre Seele hingegeben, und wenn er nun zu ihr kommen wollte, um ihr seine Seele hinzugeben, dachte sie erschrocken, so wäre ja das ein Bündnis für das ganze Leben, und sie wußte nicht, ob sie dazu schon bereit sei. Es kam so unerwartet und es schreckte sie … Aber sie wollte ihn nicht verletzen, wollte ihm nicht wehe tun! …
Verwirrt stammelte sie:
»Ich will es mir überlegen, Nikodim, ich will mir überlegen, ob es möglich ist, dann schreibe ich Ihnen. Ich schreibe Ihnen bestimmt …«
Und ohne sich zu verabschieden, lief sie davon.
Petrowskij fühlte sich zu ermattet, um seine Wanderschaft wieder aufzunehmen; Müdigkeit und Hunger setzten ihm zu – er aß fast nichts mehr, da er kein Geld mehr aus Fenjas Tisch nahm, sich des Morgens mit ein wenig Tee begnügte und des Abends das Haus verließ. Bis zum Ende des laufenden Monats wollte er noch dableiben, dann würde er sich von ihr trennen, und diese Qual wäre zu Ende.
Er stieg in sein Zimmer hinauf und war im Begriff, sich auszukleiden und zu Bett zu gehen, als Fenja klopfte, aber nicht eintrat, sondern ihn zu sich bat. Unwillig ging er hinüber.
»Ich bin erst eben nach Hause gekommen, Nikodim, und habe dich unten mit jenem jungen Mädchen stehen sehen, mit der wir damals Ähren verkauften.«
Ihre Worte kamen ihm so überraschend, daß er etwas in sich brechen fühlte und tonlos sagte:
»Du hast uns gesehen …?«
»Ja, ich habe euch gesehen. Ich verstehe jetzt, warum wir uns in der letzten Zeit so fremd geworden sind. Ich will mich nicht in dein Vertrauen, nicht in dein Leben drängen, du mußt aber ehrlich sein, wie ich es bin. Wenn dir ein neues Glück winkt, so quäle dich nicht und mich nicht. Das wird uns die Sache erleichtern, und wir können als Freunde scheiden.«
Petrowskij setzte sich stumm auf den Diwan.
»Du weißt doch, daß ich dem Leben klar und ehrlich in die Augen sehe; ich will nicht, daß jemand um meinetwillen leidet, vor allem du nicht –, du bist eben mein alles, und zwischen uns muß vollkommene Klarheit herrschen; das ist alles, was ich verlange. Warum schweigst du? … Sage mir doch ein Wort! Aber … es soll wahr sein.«
Es fiel ihm schwer zu sprechen, denn er wußte nun, daß wirklich etwas Neues, Beglückendes in sein Leben getreten war – er wußte nicht, wann und wie, wußte nur, daß es in ihm war, ihn ganz erfaßt hatte. Darum litt er unter Fenjas Nähe, aber ihr sein Geheimnis preiszugeben, ihr zu sagen, was er sich selbst noch nicht einzugestehen wagte, fiel ihm schwer. Gequält sagte er:
»Ja, Fenja – ich bin noch nicht ganz sicher, aber etwas ist in mir anders geworden seit der Begegnung mit jenem jungen Mädchen …«
»Du liebst, Nikodim, und du fürchtest dich vor deiner Liebe … Du wagst nicht, es dir einzugestehen, daß du liebst, so wunderbar erscheint dir deine Liebe. Liebe ist ja immer wunderbar! Als ich sie fand, wagte ich auch nicht, daran zu glauben … Und nun fällt dir meine Nähe zur Last, nicht wahr?«
»Ich habe gelitten … Mir schien sogar – ich will die Wahrheit sagen, denn ich habe mich an dir vergangen, häßlich an dir vergangen –, mir schien sogar, daß ich mich von dir aushalten lasse …«
»Nikodim, wie hast du das denken können? …«
»Es ist die Wahrheit, ich habe das von mir gedacht …«
»Auch von mir?«
»Auch … von dir … Fenja …«
»Welche Schmach! Gott, wie entsetzlich! Nikodim …«
»Es kam gegen mein Wünschen und Wollen … Aber nur von mir habe ich das gedacht, nur von mir! Und erst in jenem Augenblick, als etwas in mir geschah, ich meine, seitdem ich sie, seitdem ich Sina getroffen habe. Da sagte ich zu mir: Du verdienst nichts und lebst auf fremde Kosten, man zahlt für dein Zimmer, du nimmst fremdes Geld, man fragt dich nicht, zu welchem Zweck und wieviel, und dafür liebt man dich, ist zärtlich zu dir, und – verzeihe mir, Fenja – und man umarmt dich, wenn man dich begehrt, nicht wenn du sie begehrst …«
»Wie entsetzlich! Das hast du wirklich denken können?!«
Sie schlug die Hände vor das Gesicht, ein Beben schüttelte sie.
»Wie tief du mich verletzt! … Wodurch habe ich das verdient? Weil ich dir alles sein wollte und du mir der teuerste, nächste Mensch bist?! … Aber ich will dir keine Vorwürfe machen – es ist gut, daß du es gesagt hast, es hilft uns beiden darüber hinweg …«
Petrowskij saß zusammengesunken auf dem Diwan und flüsterte:
»Vergib mir, Fenja, vergib mir! Ich will alles tun, was du willst, alles. Ich will meinem Glück entsagen, will ihr entsagen und bei dir bleiben, aber vergib mir! Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß ich dich verletzt habe, ich dich verletzt! …«
Wieder sah die kleine Fenja einen kranken, zerquälten Menschen in ihm, und Schmerz und Empörung verwandelten sich in Mitleid. Ihre Tränen versiegten, ihre Stimme klärte sich. Sie setzte sich zu ihm auf den Diwan.
»Genug, Nikodim – ich habe überwunden. Du bist noch immer ein großes, krankes Kind – ich war es auch einmal. Das, was in dir erwacht ist, wird dich heilen und klären; auch du wirst einst klar und schlicht im Leben dastehen … Aber kränke mich nicht – bleib einstweilen hier wohnen. Ich habe mehr, als ich brauche – du kannst es von einem Freunde ruhig annehmen, ohne dir etwas zu vergeben; deine ganze Zukunft hängt davon ab, daß du dein Studium beendest … Laß uns Freunde bleiben – später, wenn du deinen Weg gemacht hast, kannst du es mir ja abgeben … Siehst du, es wird alles noch gut werden … Es wird alles gut werden, Nikodim …«
Danach kam eine große Ruhe über Nikodim. Er saß jeden Abend bei Fenja; noch nie hatte er sich so wohl und ungezwungen in ihrer Gesellschaft gefühlt. Mit einem schuldbewußten Lächeln sagte er:
»Jetzt sind wir Freunde, Fenja … wirkliche Freunde.«
Ungeduldig wartete er auf einen Brief von Sina.
Aber es kam kein Brief von ihr, und er wußte nicht, was tun – sollte er hingehen oder nicht? Die Ungewißheit peinigte ihn, wie auch der Gedanke an Sinas Erschrecken, wenn ihre Landsleute bei ihr eindringen sollten. An ihrem Namenstage wanderte er wieder bis zum Abend durch die Straßen, dann hielt er es nicht länger aus und eilte zu ihr, in der Annahme, daß die unliebsamen Gäste bereits da sein müßten.
Petrowskij hatte sich nicht geirrt. Als er klingelte, warf das junge Mädchen ihrer vielköpfigen Gästeschar einen hilflosen Blick zu und ging öffnen.
Lachend rief man ihr nach:
»Gast auf Gast – da freut sich der Gastgeber!«
Ihre großen Augen hielten nur mühsam die Tränen zurück, ihre Schultern bebten, und ihre Hände zitterten hilflos.
Beim Anblick Petrowskijs rief sie:
»Wie, Sie! Sie sind aus eigenem Antrieb gekommen? Retten Sie mich, retten Sie mich vor denen da drinnen! Aber Sie dürfen nicht zu mir herein, ich würde sonst fürchten, daß auch Sie gekommen sind, um mir weh zu tun …«
»Nein, nicht deshalb bin ich gekommen. Ziehen Sie sich an, schnell, wir gehen fort …«
Ohne ihre Gäste eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand sie hinter dem schwarzen Vorhang in der Ecke, zog hier ihren Pelz an und setzte ihren Hut auf.
»Sina, wohin? Wohin wollen Sie denn so plötzlich?«
Damit man sie nicht mit Gewalt zurückhielt – auch das wäre möglich, fürchtete sie –, rief Sina verzweifelt:
»Ich bin gleich wieder da!« und zog die Tür hinter sich zu.
Die ausgelassene lärmende Gesellschaft lachte und scherzte noch eine Weile, bis schließlich jemand bemerkte:
»Sie hat vor uns die Flucht ergriffen …«
»Wir warten einfach, bis sie wiederkommt – einmal muß sie ja kommen!«
»Lassen wir sie, gehen wir lieber.«
Sie hätten es vorgezogen, noch dazubleiben, doch einem von ihnen war es peinlich geworden, sich noch länger über das junge Mädchen lustig zu machen; ihm war das erst klar geworden, als er bemerkte, daß Sina vor ihnen geflüchtet war … Er stand auf und ging; mißmutig folgten die übrigen – aus dem Streich war nicht viel geworden.
Sina hielt sich nahe an Nikodims Seite, drängte sich an ihn, so daß er sie schließlich unbeholfen unter den Arm nahm und sie führte, denn sie konnte nicht mehr an sich halten und weinte leise. An der Tutschkoff-Brücke bogen sie zum Kai ab, der hier dunkel und menschenleer war. Sie schwiegen die ganze Zeit über. Petrowskij war nur darauf bedacht, Sina zur Ruhe kommen zu lassen; ein Gespräch mit ihm würde sie vielleicht nur noch mehr erregen, fürchtete er.
»Ich möchte nach Hause … Sie sind wohl jetzt nicht mehr da.« Sie lehnte sich wie ein Kind an ihn und blickte zuweilen, ruhiger geworden, in sein Gesicht. Vor ihrem Hause verlangsamte sie sinnend die Schritte; gemeinsam betraten sie den bereits dunklen Hausflur; hier entzog ihm Sina ihren Arm – die Dunkelheit machte sie wohl scheu; sie flüsterte aus dem Dunkel:
»Liebster, aber nicht in mein Zimmer kommen …«
Er hörte Liebe und Weh aus ihren Worten sprechen, trat näher zu ihr heran, ergriff ihre Hände, spürte, wie sie ihm entgegenstrebte – wohl mit geschlossenen Augen –, sie flüsterte:
»Ich bin ja doch dein …«
Und in der Dunkelheit berührten seine Lippen – nur einmal – die ihren, die mit einem hilflos langen Kuß erwiderten.
Dann hörte er, wie sie im Dunkel stolpernd die Stufen hinaufhastete, und bangte nachher noch beim Einschlafen, daß sie vielleicht gefallen sei und sich verletzt habe.
Am nächsten Morgen kamen sie ihn holen …
Der Spitzel und zwei Gendarmen.
Es konnte ihm nichts nachgewiesen werden, doch beschloß die Obrigkeit, ihn aus der Hauptstadt auszuweisen und in seine Vaterstadt zu verbannen. Man gab ihm zwölf Stunden Zeit zur Ordnung seiner Angelegenheiten in Petersburg und entließ ihn aus der Haft, nachdem er sich ehrenwörtlich verpflichtet hatte, wieder zurückzukehren, um per Etappe abtransportiert zu werden.
Die kleine Fenja war ganz niedergeschmettert …
»Warum denn nur, Nikodim? Was liegt denn für ein Grund vor?«
»Alte Sünden, Fenja …«
»Du armer Junge, du wirst es wieder so schwer tragen! …«
»Nein, diesmal leicht, Fenja …«
Ihr Feingefühl ließ sie den Sinn seiner Worte erraten; glücklich über sein Glück, sagte Fenja innig:
»Wende dich an Onkel Kirja, Nikodim! Er wird dir beistehen! …«
Auch Sina hatte ihm von dem Ingenieur gesprochen …
»Ja, Fenja, ich will mich an ihn wenden.«
Er eilte zu Sina, traf sie nicht zu Hause an, die Zimmerwirtin gestattete ihm zögernd, in Sinas Zimmer zu warten. Lange Stunden saß er reglos auf dem Diwan. Schließlich stürzte Sina hastig herein, als fürchtete sie, daß durch Nikodims Anwesenheit der Friede ihres Zimmers bedroht sei, blieb aber erschrocken vor ihm stehen, als sie sein verstörtes Gesicht sah.
»Liebster, was haben Sie? … Was ist geschehen?! …«
»Ich werde aus Petersburg ausgewiesen …«
»Gott – wohin, Nikodim?«
»In meine Vaterstadt … Morgen werde ich per Etappe abgeschoben, wie ein Sträfling …«
»Aber warum denn? Wie ist das nur möglich?! Es liegt doch gar kein Grund vor?«
»Wohl meine alten Sünden …«
Er blieb bis Mitternacht bei ihr. Sina saß zusammengekauert in einer Ecke des Diwans, als fürchtete sie, er könnte sie in seine Arme nehmen und küssen wollen, und sie würde nicht die Kraft haben, ihm zu widerstehen. Zärtlichkeiten in diesem Augenblick, da dies Schwere über sie hereingebrochen war, könnten nur Schmerz und Sehnsucht wecken, fühlte sie …
Als er Abschied nahm – er hatte sie den ganzen Abend über keinmal geküßt –, drückte er schmerzlich ihre Hände.
»Sina, erlauben Sie mir, Ihnen zu schreiben? …«
»Liebster … wann Sie wollen …«
Sie geleitete ihn bis an die Haustür.
»Wir werden uns wiedersehen, Nikodim … Wir werden uns bald wiedersehen … Ich komme hin, zu Ihnen …«
Leise sagte er:
»Ich will mich an den Ingenieur Drakin wenden …«
Freudig bewegt, als winke hier wirklich ein Hoffnungsstrahl, rief sie:
»Ja, ja, wenden Sie sich an ihn, unmittelbar an ihn! Es wird noch alles gut werden! …«
Sie hatten kein Wort über ihre Liebe gesagt, doch aus jedem Wort hatte Liebe geklungen; darum waren Küsse nicht nötig gewesen …