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Die langen Herbstabende mit ihrem Nebel, den glimmenden Laternen auf den Straßen, dem gegen die Scheiben rieselnden feinen Sprühregen und dem gedämpft heraufklingenden Rattern der Straßenbahnen waren der kleinen Fenja ebenso freudig willkommen wie der heitere Sommer. Aus dem Kolleg zurückgekehrt, legte sie sich, ohne Licht anzumachen, auf den Diwan nieder und suchte, sich ihr Kind vorzustellen. Nicht schmerzliche Schwermut – dazu hatte sie keine Zeit –, doch leise Wehmut, voll Liebe zu dem fernen Kleinen, schlich sich in den stillen Dämmerstunden in ihr Herz. Ein Sehnen war in Leib und Händen nach dem warmen kleinen Körper, der immer so zärtlich und traut war in seinem ungeduldigen Weinen, wenn die kleinen Lippen gierig nach der strotzenden Brust haschten und schmatzend Kraft und Leben in sich saugten, und unter deren Berührung die kleine Fenja erbebte und lächelte, und das Lächeln sie ganz durchströmte, bis das warme Klümpchen Mensch die Brust schließlich gesättigt fahren ließ und in Schlummer sank. Ein Verlangen war in ihr, auch jetzt eben das kleine Wesen auf ihren sehnenden Armen zu spüren, es in ihre mütterliche Zärtlichkeit einzuspinnen; von innen heraus kam dieses in seiner hartnäckigen Nachdrücklichkeit zuweilen peinigende Drängen, von ihrer überschüssigen Kraft ihm abzugeben. Entschlossen aber suchte sie dieses Gefühl sogleich wieder zu unterdrücken; im Frühjahr, wenn sie ihre Prüfungen abgelegt hatte, würde sie wieder bei ihrem kleinen Borja sein, bis dahin mußte sie tapfer bleiben – es würde schon vergehen.
Sie heizte den Ofen an, wärmte sich an den lustig aufsprühenden Flämmchen, die um die Birkenscheite hüpften, bereitete sich Tee und setzte sich an die Bücher. Jede durchgenommene Seite brachte den Tag ein Stückchen näher, da auch sie ein Teilchen der werktätigen Menschheit sein und mitwirken würde an den vielfältigen Aufgaben des schaffenden Lebens. Sie dachte an die Fabrik ihres Onkels, an Krankenhäuser, Lanzetten, die Wunder des Mikroskops …
Von Nikodim erwartete sie keine Briefe mehr und wußte gar nicht, wie es um ihn stand. Doch das Geld, das sie ihm sandte, kam nicht zurück, also gelangten ihre Überweisungen an ihr Ziel. Sie schrieb ihm wie früher, doch mit jedem Monat seltener, nur damit er wisse, daß er einen Menschen in der Welt habe, zu dem er kommen könne, um auszuruhen.
Eines Abends, müde nach dem Hin und Her auf der Hochschule und in der Stadt, lag sie in der Dämmerstunde ruhend auf dem Diwan in ihrem Zimmer.
Es klopfte an der Tür; sie dachte, es sei die Wirtin mit einem Brief oder Walja Shurawlowa.
»Herein …«
Jemand stellte etwas Schweres vor der Tür auf den Boden, öffnete diese halb und blieb unschlüssig stehen.
Eine Stimme, die ihr fremd klang, fragte:
»Wohnt Fjokla Timofejewna Grakina hier? …«
Erschrocken sprang sie auf; einen Augenblick schien ihr, es wäre jener, der Rothaarige, an dessen Namen sie sich eben gar nicht mehr erinnerte.
»Wer ist da?«
»Ich bin es, Petrowskij …«
Jäh strömte Vergangenes auf sie ein. In Erwartung ihres Kindes, in sich und in ihre Liebe zu dem Vater ihres Kleinen vertieft, hatte sie schließlich Nikodim nicht mehr ganz deutlich vor sich gesehen, ja sich ihn gar nicht mehr recht vorstellen können, als hätte er, entschwunden im Meer des Lebens, sich aufgelöst wie ein Nebelgebilde; das Gedenken an ein in die Ferne entglittenes, kaum noch körperliches Wesen war ihr geblieben. Und als er nun so jäh und unerwartet vor ihr stand, wiedererstand er jählings auch in ihr, lebte auf, aber auf eigene Weise. Ihr Erschrecken verwandelte sich in Unruhe – was konnte sie ihm geben? Flüchtig durchzuckte sie das Gefühl, das sie dreimal zu ihm getrieben hatte, da sie sich nach seiner Liebe sehnte, aber es erlosch sogleich wieder, keine Stütze in ihrer Seele findend, und ihre Unruhe ging in zarte Besorgnis um den ihr nahen Menschen über; er war ihr nah wie ihr Kind, und da wurde sie wieder ruhig. Sie wußte nur eines, – daß sie sehr behutsam, sehr zartfühlend sein mußte, um einen vielleicht kranken, erschöpften Menschen nicht zu verletzen. Und doch war eine Unruhe in ihr, aber nicht um sich – um ihn, der in seiner Vereinsamung hilfsbedürftig war, das warme Mitgefühl eines liebenden, starken Menschen brauchte. Sie fühlte in diesem Augenblick, daß sie durch ihre Briefe an ihn eine große Verantwortung auf sich genommen hatte, – in diesen Briefen hatte sie ihn gerufen, davon gesprochen, daß sie ihn erwarte, hatte ihn und seine Gefährten unterstützt und vielleicht in ihm Hoffnungen auf mehr als Freundschaft genährt … All das strömte in den kurzen stummen Augenblicken auf sie ein, da sie das Licht einschaltete.
In seinem alten, nicht zugeknöpften Mantel mit halb ausgerissenen Seitentaschen, in seiner zerknüllten Studentenmütze, derselben schwarzen Studentenjoppe, deren zerfetztes Futter sichtbar war, in unten ausgefranzten Hosen stand er immer noch unentschlossen an der Tür … Die tief in den Schädel gesunkenen, schwarzumränderten Augen unterstrichen noch die gelbliche Farbe seines hageren Gesichts. Die Haare hingen ihm in kleinen dünnen Strähnen in die Stirn.
Während Fenja auf den Tisch zuschritt, strich sie sich mechanisch über das Haar, und als sie den Stecker in die Anschlußdose gedrückt hatte, wandte sie sich um. Wandte sich um und blieb am Tische stehen, ein wenig zurückgebeugt, die Hände leicht auf die Tischplatte gestützt. Aus Nikodims Gesicht, ja aus seiner ganzen Gestalt sprachen Erschöpfung und Unentschlossenheit. Er sah Fenja an – auch er hatte sie sich anders vorgestellt –, sie schien ihm größer geworden und ganz verwandelt. Der hilflose Ausdruck ihrer Augen, die früher immer etwas zu suchen schienen und aus denen herausfordernde Erwartung sprach, war verschwunden, dagegen wurde jetzt der Ausdruck ihres Gesichts durch ein klares, ruhiges Lächeln bestimmt, aus dem Unabhängigkeit, ja vielleicht Stolz sprach. Das kurze gespannte Schweigen war quälend. Jeder erwartete von dem anderen das erste Wort, als hinge von ihm ab, wie sich ihre Zukunft gestalten würde. Der kleinen Fenja huschte sogar flüchtig durch den Sinn, daß sie ihn, wie er jetzt war, gar nicht mehr lieben könnte, und ein großes Mitleid überkam sie, der Wunsch, ihm ein lieber Freund zu sein, ihm ihre Kraft einzuflößen. Ihre Hände glitten von der Tischplatte, ihr Körper löste sich, und leise schritt sie, beide Hände ihm entgegengestreckt, auf Petrowskij zu.
»Nikodim, Liebster, was ist mit Ihnen? …«
Du zu ihm zu sagen, hatte sie nicht gewagt.
Petrowskij ergriff ihre Hände, sein Kopf sank tief auf die Brust, der Druck seiner Hände wurde schwach, aber er hielt immer noch die ihren, als fürchtete er, wenn er sie entschlüpfen ließe, etwas ihm unendlich Wertvolles zu verlieren, das er dann niemals mehr wiederfinden würde … Mit dumpfer, schwacher Stimme antwortete er:
»Ich komme zu Ihnen …«
»So treten Sie doch näher, legen Sie ab …«
Während sie Tee bereitete und aus dem Schrank Brot und kalten Aufschnitt hervorholte, saß Nikodim auf dem Diwan und musterte das Zimmer und Fenja. An solch eine Umgebung war er schon lange nicht mehr gewöhnt – ein ruhiger Schreibtisch, eine elektrische Lampe, deren grüner Schirm ein wenig schief stand, ein breiter Lederdiwan mit hoher, gerader Rückenlehne, von einem Büchersims umkleidet, auf dem Bücher und eine Vase mit Blumen standen, ein sauberes Bett mit warmer Steppdecke, ein großer Schrank, ein Büchergestell, und Fenja, die emsig hantierte größer geworden während dieser Jahre seiner Abwesenheit, kein junges Mädchen mehr, aber eigentlich auch noch keine junge Frau, herrlich erblüht in einem sorglosen, freudigen Leben – wie konnte es auch anders sein, wenn ein Mensch weder Sorgen; noch Leid, noch Hunger kennt, und nicht seine Mitmenschen neben sich hinsterben, an Gram und Entbehrungen zugrunde gehen sieht, als Todgeweihte, weil sie anderen helfen wollten … Nach der dünnen Friesdecke, unter der er gefroren hatte, nach der schmutzigen Bauernstube, dem ärmlichen Zimmer später in der Stadt bedrückte ihn die ungewohnte Umgebung … Als er vom Bahnhof bis zu ihrer Wohnung, den endlos langen Weg, mühsam seinen zerschundenen, farblos gewordenen Koffer schleppte, hatte er sich vorgeredet, er würde bloß auf einen Augenblick bei ihr vorsprechen, nur um ihr zu sagen, daß er ihre Briefe nicht gelesen – er hatte sie alle ungeöffnet sorgfältig verbrannt – und ihr Geld nicht für sich verwendet habe, nur ganz zuletzt eine geringe Summe, als er schwer erkrankt war und nicht arbeiten konnte. Und dann wollte er ihr noch sagen, und darum vor allem war er hergekommen, daß er ihr das Geld zurückerstatten würde, unbedingt ihr wieder zurückgeben würde, sobald er erst durch Privatstunden einen Verdienst habe und wieder in die Hochschule eingetreten sei, nur darum sei er ja auch wieder nach Petersburg gekommen, doch nicht um Fenjas willen, die liebe er ja auch gar nicht, ein Proletarier und Sozialist könne doch nicht ein so schönes, reiches Mädchen lieben! Das alles wollte er ihr sagen, aber Fenja gab fast gar nicht acht auf ihn, eilte geschäftig hin und her …
Sie hatte eine saubere Serviette über eine Seite des Schreibtisches gedeckt, Tee und einiges zum Essen aufgetragen, setzte sich nun neben Nikodim auf den Diwan und wiederholte ihre Frage:
»Nikodim, Liebster, was ist mit Ihnen? …«
Ihre Stimme klang noch tiefer und weicher und rührte an sein schlummerndes Gefühl, das zu unterdrücken er so hartnäckig und verbissen bestrebt gewesen war. Da begann er von dem zu sprechen, was er ihr sagen wollte.
»Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, und das habe ich mir lange überlegt, daß ich eigentlich … Es stimmt nicht ganz, aber einerlei! Also, verstehen Sie, ich habe Ihr Geld nicht für mich benutzt, habe immer alles meinen Gefährten abgegeben … Gott, wenn Sie das Elend gesehen hätten … Sie könnten dann nicht mehr so leben, der Bissen würde Ihnen im Halse steckenbleiben …«
Ihm fiel ein, daß er schon lange nicht mehr ordentlich gegessen hatte, schon viele Tage nicht mehr, wie lange, hatte er vergessen, und die letzten zwei Tage überhaupt nichts mehr, und daß er den Kopf abgewandt hatte, wenn die Mitreisenden auf dem kleinen Tisch am Fenster des Abteils Brot und kalten Aufschnitt auspackten. Verstohlen warf er einen gierigen Blick auf das Essen auf dem Tisch, unterdrückte aber sein Hungergefühl und schluckte nur hastig den Speichel hinunter, der ihn am Sprechen hinderte. Auf dem Bahnhof hatte er Wasser getrunken, endlos Wasser getrunken, um das Hungergefühl zu betäuben. Leiser fuhr er fort:
»Ich wollte kein Geld von Ihnen annehmen und habe das auch die ganze Zeit durchgeführt, aber zuletzt … Verstehen Sie, ich war krank geworden, und man hat mich genötigt, gezwungen, meine Kameraden …«
Fenja sagte wieder, ganz leise, gequält:
»Liebster, was ist mit Ihnen? …«
Nikodim sah sie an, einen kurzen Augenblick, zwang sich, seine Gedanken zu sammeln – der Faden entglitt ihm immer wieder, aber er mußte es ihr doch sagen, die Hauptsache … Krampfhaft furchten sich seine Brauen, er fuhr mühsam fort:
»Ja, also, ich habe Ihr Geld doch angenommen, aber nur einmal, verstehen Sie, einen einzigen Monat, und ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich Ihnen das zurückzahlen werde, bestimmt zurückzahlen werde … Es war mir unsäglich peinlich, aber … damals ging es mir sehr schlecht. Und Ihre Briefe habe ich nicht gelesen, nur die zwei ersten, und ich hatte Ihnen gar nichts zu sagen … Die übrigen habe ich immer verbrannt, sorgfältig, damit niemand sie läse … Das wollte ich Ihnen auch sagen.«
Seine Stimme brach, er verstummte.
Fenja ergriff seine Hände, sie waren kalt und feucht und zitterten vor Erregung.
»Du Armer! … Lieber! …«
Er war aber noch nicht zu Ende. Heiser, und da seine Stimme drohte sich zu überschlagen, fast schreiend, rief er:
»Das alles ist Ihnen ja auch ganz gleichgültig …«
Er fühlte, es war zu Ende mit seiner Kraft; er hatte alle seine Kräfte mit einer großen Anstrengung gesammelt, um ihr alles zu sagen, was sich in ihm angesammelt hatte, aber eben konnte er nicht weiter, konnte nicht mehr … Vielleicht nur darum, weil ihm so fürchterlich übel war durch diesen verdammten Hunger und die Speisen auf dem Tisch ihn so reizten, daß ihm schwindlig wurde. Er mußte noch das letzte sagen, die Hauptsache, und dann würde er gehen, ohne auch nur ihre Hand zum Abschied berührt zu haben … Da stand aber Fenja, die bisher gezögert hatte, aus Furcht, ihn zu verletzen, unerwartet auf, ohne seine Hände, die sie noch immer in den ihren hielt, loszulassen, so daß auch er aufstehen mußte, und führte ihn an den gedeckten Tisch. Er spürte, er war zu schwach geworden, um seinem Hunger länger zu widerstehen, und beschloß, nur ein einziges Glas Tee zu trinken und ein Stückchen Brot zu essen, um seine Schwäche zu überwinden, und dann würde er gleich gehen – wohin, daran dachte er nicht; da war auch nichts erst zu bedenken, einfach geradeaus, vielleicht in eine Nachtherberge, und eben folgte er ja gar nicht Fenjas Stimme, nein, der Hunger trieb ihn, vor allem aber – Fenja hatte ihn wieder mit »Du« angeredet, und dann, ihre Stimme hatte schmerzlich gebebt, und das … das konnte er doch gar nicht hören!
»Jetzt setz' dich hin und iß! … Tu mir nicht so weh, Nikodim …«
Fenjas Schmerz war um so schärfer, da sie sich nicht schuldlos ihm gegenüber fühlte. Sie hatte ihn gerufen, ihm Hoffnungen auf Glück gemacht, weil sie selbst glücklich war und voll überschüssiger Kraft und Lebensfreude. Sie hatte niemals daran gedacht, daß der Mann, der sie liebte, ihre Hilfe zurückweisen könnte, ja ihre Sorge um ihn weher, verletzender empfinden mußte als die schlimmste Beleidigung. Und plötzlich sah sie das fröhliche Gastgelage auf der Veranda des Kasinos im Stadtpark vor sich, mit ihrem Onkel und den sorglos ausgelassenen Studenten und Freundinnen, als sie in ihrer Geborgenheit, aus Überschuß an Lebenskraft und Wohlbehagen, in der fröhlichen Gesellschaft eine Sammlung zugunsten dieses leidenden Menschen veranstaltet hatte! Sie haßte sich in diesem Augenblick für ihr Tun. Vielleicht lag er damals hungernd und krank darnieder, einsam und verlassen, während sie sich in halb trunkener Kumpanei vergnügte und ihren Spaß an den verliebten Blicken und Worten hatte, die die jungen Leute unter sich austauschten, nachdem der Wein Zungen und Herzen gelöst hatte, und sie mit ihnen fröhliche Lieder sang. Sie war mit schuld an seinen Leiden auch darum, weil sie damals nicht aufgemerkt hatte und Kaljabins Verrat dadurch möglich geworden war. Er war ihr lieb und teuer, Freund nannte sie ihn, als er aber erschöpft und zerquält jetzt zu ihr geflüchtet war, da hatte sie keine klaren, schlichten Worte gefunden, an denen er sich hätte wieder aufrichten können! Eine warme Zärtlichkeit zu ihm erwachte in ihrem Herzen, in der vielleicht etwas Mütterliches, zugleich aber auch etwas Frauliches lag. Je stärker dieses Gefühl wurde, desto klarer wurde es auch wieder in ihr.
»Wie hast du dich nur so herunterbringen können! … Nicht sprechen – iß jetzt, iß – ganz still sollst du sein –, sprechen kannst du später …«
Ihr Gespräch mit ihrem Onkel Kirja fiel ihr ein, seine Ausführungen über die Arbeit …
»Wenn du es nur wagst, mir jemals das Geld zurückzugeben! … Du weißt ja noch gar nicht, warum Onkel Kirja deine Befreiung bewirkt hat … Wenn ich nur geahnt hätte, daß es dir so schlecht ging … Aber du schwiegst ja … Und doch bin ich dein Freund, und du bist mir nah, ganz nah …«
Petrowskij trank hastig seinen Tee und aß ein kleines Stückchen Brot mit Butter dazu; er rührte nichts weiter an. Er vernahm kaum, was sie sagte, hörte wohl den Ton der Worte, aber ihr Sinn glitt an seinem erschöpften Bewußtsein vorüber. Dann dachte er wieder daran, daß er ihr jetzt noch die Hauptsache sagen müsse, das, was ihn eigentlich hergetrieben habe; und er suchte sich auszumalen, wie er gleich aufstehen und ihr sagen würde, daß er gehe und niemals mehr zurückkommen würde: es könne keinerlei Gemeinschaft geben zwischen ihr und ihm …
Er zog seine Studentenjoppe mehrmals zurecht, doch als er das Glas geleert hatte, wurde es dunkel vor seinen Augen; er wußte noch, daß er aufstand, ein paar Schritte machte und plötzlich taumelte. Was nachher geschah, wußte er nicht mehr …
Fenja war bestürzt aufgesprungen und hatte den Zusammenbrechenden in ihren Armen aufgefangen. Sie schleppte den Ohnmächtigen an den Diwan, bettete ihn, knöpfte ihm das Hemd über der Brust auf, nahm ihm den Kragen ab, der von innen gelb und von außen schwarz war. Sein ausgemergelter Körper war schweißnaß, Schlüsselbein und Rippen traten scharf unter der Haut hervor, die ebenso gelb war wie sein Gesicht. Fenjas Bewegungen waren schnell und sicher, ohne Hast. Sie nahm ein Handtuch, tauchte es in die Waschschüssel, drückte es aus und legte das eine Ende auf seine Stirn, das andere auf seine Brust, bettete seinen Kopf höher, strich ihm leise die Haarsträhnen aus der Stirn; dann lauschte sie auf seine Atemzüge. Sie setzte sich neben ihn auf den Diwan und flüsterte, während sie das Handtuch auf seiner Stirn hielt:
»Nikodim, du Lieber, wie kann nur ein Mensch sich so herunterbringen?!«
Ihr war, als bewegten sich seine Lippen; sie flüsterte wieder:
»Warum war das nötig?!«
Langsam kehrte das Bewußtsein zurück. Zuerst schien ihm, er sitze im Eisenbahnwagen und starre gierig auf das Essen der Mitreisenden, und da wurde ihm wieder übel; darauf sah er sich durch die verlorenen Nebenstraßen der Petersburger Vorstadt auf der Suche nach Fenjas Zimmer irren. Er schlug die Augen auf, starrte Fenja eine Weile verwundert an; schließlich begriff er, daß er sich in ihrem Zimmer befinde und ihm vor Hunger wohl schlecht geworden war. Sogleich schob er ihre Hand von seiner Stirn weg, raffte alle seine Kräfte zusammen, stand auf, machte ein paar Schritte auf die Tür zu, wandte sich um und versuchte auszusprechen, was ihm so wichtig schien:
»Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich Ihnen Ihr Geld zurückgeben werde. Ich brauche keinerlei Hilfe … Und jetzt – gehe ich! Das ist alles, ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen. Leben Sie wohl auf immer!«
Die kleine Fenja trat auf ihn zu, ergriff wieder seine beiden Hände und fragte:
»Wohin willst du gehen, Nikodim?«
»Ich muß gehen … Ganz gleich wohin … Wohin es immer sei.«
»Aber du hast ja niemand, zu dem du gehen könntest, Nikodim! Du hast jetzt niemand auf der Welt als mich. Wohin also willst du gehen? Und – warum? … Ich will dir was sagen: Du gehst nirgends hin, du bleibst bei mir …«