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6. Buch.
Die Reliquie


1

Das Kloster Belobereshsk hatte zwei Herbergen, eine alte, vor sechzig oder siebzig Jahren errichtete, und eine neue; beides zweistöckige Steingebäude. Die neue war vor kurzem gestrichen; die alte, seit Jahren nicht mehr gestrichen, hatte der Regen mit einem fleckigen Grau überzogen. Zwischen den beiden Häusern ragte das Tor aus Kiefernholz, von einem Heiligenbild der Gottesmutter gekrönt. Dahinter lag der große Hof mit einem Brunnen in der Mitte, dessen eiskaltes Wasser sich durch einen leicht bitteren Geschmack – wohl von Waldkräutern und Tannennadeln herrührend – und durch eine so große Klarheit auszeichnete, daß Kaufleute manchmal zu wetten pflegten, ob man ein hinabgeworfenes Zehnkopekenstück wohl auf dem Grunde sehen könnte; man konnte es sehen. Der Hof war von drei Seiten mit Baracken umgeben, unter deren weitvorspringenden Dächern im Sommer Tische aus Tannenbrettern für die Wallfahrer aufgestellt wurden. Die Pritschen in den Baracken standen den Pilgern zur Verfügung; jeder belegte sich den Platz, der ihm zusagte. In den Herbergen hingegen herrschte eine nicht ganz durchsichtige Betriebsordnung. Der Herbergsvater Iona war es, der den genauen Blick dafür hatte, wo jeder eintreffende Gast unterzubringen sei. Wenn die Wagen vom Bahnhof Gäste brachten, empfing Vater Iona sie. Die Wagen hielten immer vor der alten Herberge. Vater Iona sah sich die Leute an und bestimmte das jedem zukommende Zimmer, worauf die Novizen die Gäste zurechtwiesen. Die besseren Herrschaften aus der Gouvernementsstadt kamen in das obere Stockwerk der neuen Herberge, Sommerfrischler, die längere Zeit blieben, in das untere, um das ermüdende Treppensteigen zu vermeiden. Leute aus dem Kaufmannsstande, die sich nicht durch Wohlhabenheit auszeichneten, in das obere Stockwerk der alten Herberge; Kleinbürger, kleine Beamte und Vertreter unbestimmter Berufe in das untere Stockwerk. Das war so Brauch im Kloster von altersher. Iona predigte andauernd den Novizen:

»Jedermann messet nach seinem Verdienst; Ehre, wem Ehre gebühret. Wer gute Geschäfte macht oder einen Titel trägt, wird achtungsvoll empfangen und so aufgehoben, wie es seiner andächtigen Stimmung entspricht.«

In jeder der beiden Herbergen herrschte eine besondere Ordnung. In der alten Herberge wurden keine Sommerfrischler untergebracht, nur Wallfahrer. Bist du aber Wallfahrer, so hast du dich auch der Klosterregel zu fügen. Wenn der Glöckner zur Mitternachtsmesse die mittlere Glocke erschallen läßt, laufen Novizen, bimmelnde Glöckchen in der Hand, durch die Gänge der Herberge mit dem Rufe: »Zur Nachtmesse, zur Nachtmesse!« Vor jedem Zimmer bleiben sie stehen, schwingen das Glöckchen in der einen Hand, klopfen mit der anderen gegen die Tür: »Um der Fürbitte unserer Heiligen willen sei uns gnädig, o Herre Jesu Christ … Zur Nachtmesse!«

Bevor der verschlafene Wallfahrer hinter der Tür nicht ächzend aus dem Bette steigt, lassen sie nicht ab. Aus dem schönsten Schlaf vor dem dritten Hahnenschrei – aufgestört, murmelt und krächzt so mancher Pilger bloß eine Weile, um den Novizen an der Tür irrezuführen, und schläft weiter bis zur Frühmesse.

In der alten Herberge gleich am Abend einzuschlafen, ist nämlich nicht gut möglich wegen der Klosterwanzen, die, während der langen Wintermonate in ihren Schlupfwinkeln ausgehungert, sich heißhungrig über die wohlgenährten Wallfahrer herstürzen. Bis um Mitternacht wirft sich so ein Geplagter auf seiner harten Matratze unruhig hin und her, um schließlich, erschöpft und ausgemergelt, in todähnlichen Schlaf zu sinken. Dann beginnt für die Wanzen, die großen Faster vor dem Herrn, das Festmahl. Die Klosterwanzen haben ihre Eigenart; sie greifen den Menschen nicht so ohne weiteres an, sondern kriechen zuerst an die Zimmerdecke hinauf, suchen sich den günstigsten Punkt aus und lassen sich dann auf den Schlummernden herabplumpsen, der sich verschlafen über das Gesicht fährt und weiterschnarcht. Gerade damit haben aber die Wanzen gerechnet, und bald ist ihr Opfer so verschwenderisch mit Beulen bedeckt, daß es sich nachher den ganzen Tag kratzen muß. Die Wanzen wurden in der alten Herberge mit Absicht gehalten. So ein Wallfahrer wäre bei dem kostenlosen Leben wohl eine Woche oder noch länger dageblieben, der Wanzen wegen hält er es aber kaum drei Tage aus.

Vater Iona pflegte zu predigen:

»Du bist hergekommen, um zu Gott zu beten; das hast du getan. Also schnüre dein Bündel und mach' Raum für andere.«

Verpflegung und Unterkunft im Kloster waren frei; es hing von dem Ermessen des Gastes ab, wieviel er in die Sammelbüchse steckte, die, mit einem Eisenstreifen befestigt, gleich am Eingange unter dem Muttergottesbilde hing und die Inschrift trug: »Je nach Eifer …« Mehr als drei Tage hielt der Eifer infolge der Wanzen meist nicht an; man steckte eine Spende in die Büchse und war froh, wieder fortzukommen. Sonst hätte wohl so mancher endlos im Kloster umhergelungert; sobald der Gast aber von den Wanzen bearbeitet worden war, suchte er sein Geld so schnell wie möglich loszuwerden und machte sich daran, im Klosterladen für sich, seine Verwandten und Bekannten geschnitzte Löffel, geweihtes Öl in kleinen Fläschchen, die Ansicht des Klosters aus der Vogelschau, Heiligenbildchen, erbauliche Büchlein zu kaufen. Für die Benutzung des Klosterwagens, für die Bahnkarte legte er die nötige Summe zurück, den Rest aber schüttete er in die Sammelbüchse und suchte das Weite. Das alles war für das Kloster von Vorteil. Und wer verhalf ihm dazu? Die Wanzen! Tagaus, tagein, den ganzen Sommer über, wechselten die Gäste in der alten Herberge.

Dagegen herrschte in der neuen Herberge Ruhe und Frieden. Der Abt hatte verboten, die Sommerfrischler zu stören. Weder zur Nacht- noch zur Früh- noch zur Morgenmesse wurden die Herrschaften in der neuen Herberge geweckt. Hier gab es auch neuzeitliche Einrichtungen – elektrische Glocken; der Sommerfrischler brauchte nur auf den Knopf zu drücken, und alsbald erschien ein Novize mit dem Samowar und gemusterten Tassen. Um durch den Anblick von Damen in Morgenkleidern aus durchsichtigen Stoffen, von nackten Frauenarmen nicht in Verlegenheit zu geraten, senkte der Novize züchtig die Augen und sah scheinbar nichts, hob aber die Schöne die Arme und führte die Hand an die Frisur, so daß der Flaum in der Achselhöhle sichtbar wurde, so blitzte es hinter den halb geschlossenen Lidern des Novizen auf und er reckte den Hals, um auf den Brustansatz unter dem Spitzenbesatz des Hemdes zu starren. Demütig sprach er dabei:

»Vielleicht soll ich Ihnen Milch vom Viehhof bringen?«

»Wenn Sie so freundlich sein wollen, Vater …«

 

In der alten Herberge aber mußten die Wallfahrer selber in die Küche gehen und den Herbergsvater um den Samowar bitten. Und nicht immer erteilte Vater Iona seinen Segen dazu. Vor der Rückkehr von der Frühmesse erhielt niemand den Samowar, und wer gar nicht in der Kirche gewesen war, bekam überhaupt keinen Tee. Wenn jemand nicht zur Nachtmesse ging, so vergab Vater Iona das noch allenfalls, wer aber die Frühmesse versäumte, der blieb nicht nur ohne Samowar, auch das Mittagessen erhielt er als letzter und dazu bloß Überreste.

Im Gang der alten Herberge gab es keine Läufer, die Fenster an den Enden des langen Ganges wurden jahrelang nicht geputzt, weshalb hier immer Halbdunkel herrschte. Neben dem Fenster stand ein eiserner Waschtisch, dessen Farbanstrich abgesplittert war und dem ein säuerlicher Geruch entstieg. Im ganzen Gange herrschte dieser eigentümliche säuerliche Geruch, und es war nicht recht erklärlich, ob er von der klösterlichen Kohlsuppe oder sonstwoher stammte. Neben dem Waschtisch befand sich eine niedrige Tür, hinter der es scharf nach Karbol und Pech roch; von der Tür, über eine Rolle geführt, hing ein Strick herab, an dem ein Ziegelstein befestigt war. Um die Wand zu schonen, war er in einen schmutzigen Lappen gehüllt.

Die neue Herberge hingegen war wohleingerichtet. Der Gang war hell und breit. Vom Morgen an standen die Fenster offen, der Fußboden war mit weißen Läufern bedeckt, damit die Stiefel der Novizen kein Geräusch verursachten, die Sommerfrischler nicht weckten. Hier hing an der bewußten Tür auch kein Ziegel, sondern eine regelrechte Feder schloß sie. Zwar diente auch hier der Waschtisch im Gang zu gemeinsamem Gebrauch, aber er war weiß emailliert und wurde jeden Abend gereinigt; selbst für die Handtücher gab es bequeme Anhänger. Der Verdienst des Klosters an den Sommerfrischlern war zwar nicht groß, aber dafür hatte man weniger Plage mit ihnen, einigte sich über den Preis für das Zimmer, der im voraus entrichtet wurde; für Bedienung, Samowar und Brot mußte besonders bezahlt werden; außerdem kauften die Sommerfrischler regelmäßig Milch, Quark, Butter auf dem Viehhof, was auch etwas einbrachte.

 

Hinter den Herbergen lagen die Sommervillen, gefällige Blockhäuschen mit Veranden; sie wurden den ganzen Sommer über an solche Freunde und Gönner des Klosters vermietet, die sich um dieses besonders verdient gemacht hatten: an Kaufleute und ihre Familien. Die Villenbewohner lebten ungestört, Vater Ionas Regiment erstreckte sich nicht auf sie, doch sagte er oft zum Abt:

»Die Leute in den Sommerhäuschen sind eine wahre Versuchung für die Bruderschaft, Vater Abt. Es geht mich ja weiter nichts an, aber sowohl Novizen als Mönche machen dort ständig Besuche.«

»Wir können unseren Gönnern den Verkehr mit den Mönchen nicht untersagen, Vater Iona. Vielleicht geben sie Veranlassung dazu, daß sich der Segen des Himmels über unser Kloster ergießt, die Spenden reichlicher fließen … Und auf die Laien wirkt der Umgang mit der Bruderschaft erbauend …«

 

Den ganzen Tag über lungerten in der Nähe der Sommerhäuschen Novizen herum, Ausschau haltend nach Sommerfrischlerinnen, die auf die Beerensuche gehen wollten.

Auch bei dem neuen Abt beklagte sich Vater Iona darüber. Nikolka aber gedachte der Zeit, da auch er mit Afonka um die Häuschen herumgestrichen war und auf die kleine Fenja gewartet hatte; sein Herz preßte sich ein bißchen zusammen, und er antwortete gutmütig:

»Es wird ihnen da nichts Schlimmes zustoßen, Vater Iona … Gib lieber acht auf die Herbergen … In den Häuschen wohnen unsere Gönner, die das Kloster lieben und nichts Ungehöriges über die Mönche verbreiten werden; in den Herbergen aber sind jeden Tag andere Menschen, die können leicht üble Nachrede in die Welt hinaustragen; da heißt es aufpassen.«

Vater Gerwaßij trat aus der Herberge, ging an den Landhäuschen vorüber, blickte hin, seufzte leise; dann dachte er daran, daß Arischa ihn auf dem Vorwerk erwarte, und lächelte getröstet. Er kam zur heiligen Pforte; Waßenka und Vater Awraamij saßen in der Sonne und wärmten sich.

Der Blöde eilte auf den Abt zu.

»Hast es schwer, Nikoluschka? … Scheu die Mühe nicht, sei fleißig, Gott wird dich um deiner Mühen willen erleuchten, dich auf den rechten Weg zurückführen … Dich von dem Teufel der Buhlerei erlösen.«

Waßenka mußte jetzt immer um Vater Awraamij sein, der ihn nicht aus den Augen ließ. Waßenka wußte gar nicht mehr, was die Mönche trieben, so konnte er jetzt auch dem Abt nichts vorwerfen. Dieser fragte nur, an Vater Awraamij gewandt:

»Ist Waßenka züchtig geworden? … Hm? …«

»Ich fessele ihm über Nacht die Hände …«

»Also peinigt ihn der Teufel der Mitternacht noch immer?«

»Ja, er peinigt ihn.«

»Dann nimm dich schon seiner an, Vater Awraamij …«

So lebten das weltverlorene Kloster und die Herbergen von einem Tage zum anderen in althergebrachter Weise … Nachdem aber der Archidiakonus Pjotr Iwanowitsch Smolenskij bei dem Abt gewesen war, geriet alles durcheinander.

 


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