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4. Buch.
Der keusche Jüngling


1

Gegen Mittag erwachte Boris Smoljaninow und beschloß, in Zukunft keinerlei Vergnügungsfeste mehr zu besuchen und jungen Mädchen keine phantastischen Geschichten mehr zu erzählen; für sie war es Spaß, für ihn der Ausfluß inneren Erlebens. Er dachte in Bildern, und geheimnisvoll deuchte ihm dies innere Weben und Wogen; darum drängte es ihn, darüber zu sprechen, wenn er mit Menschen zusammenkam. Doch das mußte anders werden. Er war noch nie verliebt gewesen, ließ sein schwärmerisches Lied vor jedem Mädchen ertönen; eine schlummernde Zärtlichkeit war in ihm, daß es ihm schien, er wolle sie alle lieben. Auch hiervon hatte er zu der blauäugigen Linotschka gesprochen.

Seine Mutter verkehrte eifrig mit der verwitweten Frau Gurnowa; Anna Jewgrafjewna Smoljaninowa und Olga Grigorjewna Gurnowa waren Schulfreundinnen gewesen. Von klein auf hatte Boris mit Linotschka gespielt. Als er in die oberen Klassen kam, hatte er sich von diesem Verkehr zurückgezogen; was sollte er, der Primaner, mit der Kleinen; in seiner Vorstellung sah er sie immer noch als solche.

Lina, die in der obersten Klasse des Lyzeums war, lud Boris zu ihrem Geburtstage ein; sie hatten sich lange nicht gesehen. Von ihren Freundinnen hatte Lina von Borjas Keuschheitssucht gehört; würde er auch ihr widerstehen können? Sie wollte mit ihm kokettieren und hoffte, mit einem Blick die Eiskruste um sein Herz zu schmelzen.

Linotschka hatte große blaue Augen und aschblondes, fast weißes Haar. Ein warmes Leuchten war in diesen blauen Augen, und jedem, der Linotschka anblickte, wurde warm ums Herz, und er wollte nicht mehr fort.

Trotzdem sich Boris vorgenommen hatte, nirgends mehr hinzugehen, kam er doch zu ihrem Geburtstage. Lina ließ ihn den ganzen Abend über nicht von ihrer Seite; ihre Freundinnen meinten scherzend:

»Gib acht, Lina, verlieb dich nicht!«

Und als nach dem Abendessen die fröhliche Gesellschaft in dem warm geheizten Saal sich in verliebte Pärchen auflöste, blickte Boris in Linotschkas blaue Augen und sagte:

»Rauhreif hüllt draußen die Bäume ein, auch Ihr Haar ist wie Rauhreif, und unter dem aschblonden Spitzengewirr schimmern die blauen Augen. Es ist hier wie in einem verzauberten Märchengarten, in dem sich Verliebte ergehen; von dem Licht fällt ein schimmerndes Wogen auf all die Köpfchen. Man möchte die Arme ausbreiten und mit den Händen über all diese Locken streichen, über die kastanienbraunen, die hellbraunen, die goldenen, die schwarzen, in denen etwas von warmer weicher Erde ist, über die aschblonden wie Ihre, Lina. Und unter dem schimmernden Haar glänzen die blanken Augen, die braunen, die hellen, die grauen, die schwarzen, und wie von ferne, ganz am Ende dieses Märchengartens, die blauen – die Ihren, Lina. Und es ist, als vereinten sich aller Augen in einem einzigen Blick, dem blauen. Und von dem aschblonden Haar fällt ein aschblonder Schimmer auf all die Köpfchen, und man möchte langsam auf eine unter ihnen zuschreiten, um in ihr alle zu umfassen, zu erfühlen, und alle Blicke in einem Blick aufzufangen, in einem klaren blauen Blick … Nur im Winter träumen einem solche Träume, wenn Rauhreif auf den Zweigen liegt und die Sterne in frostkalter Nacht wie blaue Augen leuchten.«

Sie lauschte seinen Worten wie einem Märchen, und als er mit einer weiten Bewegung die Arme hob, beugte sie unwillkürlich den Kopf, und er, noch im Banne seines Traumbildes, strich ihr über das Haar; zu sich kommend, zeigte er mit der Hand nach der Balkontür in den Garten:

»Da ist heute alles in Rauhreif gehüllt, und in der Ferne, am Ende der Mittelallee schimmern blaue Augen, blau wie die Ihren, Lina.«

Vielleicht weil sie sein Traumbild verwirklichen, in ihrem Blick die Vielheit, von der er gesprochen, zusammenschließen und diesen Blick in seine Seele senken wollte, um sie aufzuwecken, die scheue, nachtwandlerische, schlug Linotschka die Balkontür auf und lief in ihrem weißen Seidenkleidchen und ebensolchen Tanzschuhen durch den Schnee die reifbedeckte Allee hinab; sich umwendend rief sie zurück, während die Äste große weiße Flocken auf sie herabschütteten:

»In der Ferne schimmern blaue Augen … Kommen Sie nachsehen, ob sie leuchten, aber erst, wenn ich rufe.«

Noch unter der Einwirkung seiner Worte und ihrer blauen Augen blieb Boris folgsam auf den Stufen stehen, und erst als er die weiße Gestalt von dem reifbedeckten Ästegewirr nicht mehr unterscheiden konnte, kam ihm der Gedanke, daß sie sich erkälten könnte; hastig eilte er ihr nach.

Linotschka, weiß und zart und gebrechlich wie eine Schneeflocke, flüsterte:

»Sehen Sie nach, Borja, leuchten sie? Leuchten sie wie Sterne?«

»Das Leuchten erwacht erst, wenn die Liebe kommt; dann strahlen Augen wie Sterne …«

»Ich glaube, sie leuchten bereits, Borja …«

Sie schritt an seinem Arm auf Zehenspitzen durch den tiefen Schnee, schmiegte sich zitternd an ihn, blickte ihm ins Gesicht.

»Lina, Sie werden sich erkälten.«

Sie wollte noch nicht ins Haus zurück, suchte nach seinen Augen, hoffte, daß auch in ihnen ein Leuchten aufflammen würde. Umsonst … Seine Augen blickten still und ruhig wie immer.

Linas Mutter kam erregt auf den Balkon herausgeeilt.

»Lina, Lina, Boris, seid ihr verrückt?! Was fällt euch ein?«

»Er hat mir ein Wintermärchen erzählt, da bin ich in den Garten gelaufen, um nachzuschauen; es ist wirklich im Garten.«

Frau Smoljaninowa sagte zu ihrem Sohne:

»Immer kommst du mit deinen Phantastereien und richtest Unheil an.«

 

Einige Tage nach dem Studentenball sagte die Mutter bei Tisch zu Boris:

»Borja, Lina ist an Lungenentzündung erkrankt, und du bist schuld daran, du mit deinen Geschichten.«

»Ich kann doch nichts dafür, daß sich die Mädchen meine Phantasien so zu Herzen nehmen! Ich sage, was mir in den Kopf kommt.«

Ein Zettelchen von der kleinen Fenja wurde gebracht. Die Mutter fragte:

»Was gibt's da wieder?«

»Bei Fenja Grakina findet ein lustiger Abend statt, ein paar Freundinnen und Studenten haben sich angemeldet; ich soll auch hinkommen. Ich habe mir aber vorgenommen, an keinem Vergnügen mehr teilzunehmen.«

 

Der Schlitten, mit dem klingenden Zweigespann, den Fenja nach ihm gesandt hatte, kehrte leer zurück.

»Onkel Kirja, ich fahre selbst hin und bringe ihn her.«

»Das schickt sich nicht recht, Fenja; überleg' es dir.«

Als Boris aufs neue Schellengeläut vor der Haustür hörte, zuckte er unwillig die Achseln und ging in sein Zimmer. Aus dem Flur drang übermütiges Mädchenlachen; seine Mutter und die kleine Fenja traten in sein Zimmer. Boris furchte die Brauen.

»Sie wollten nicht freiwillig kommen, Borja, nun schleppe ich Sie mit Gewalt fort.«

»Ich kann nicht kommen, Fenitschka.«

»Ljona bittet Sie …«

»Seien Sie mir nicht böse, ich kann nicht.«

Gekränkt verließ Fenja das Haus, Tränen in den Augen. Ungestüm läuteten die Schellen; sie hatte dem Kutscher befohlen, so schnell zu fahren wie die Pferde nur laufen konnten.

»Das war nicht schön von dir, Boris; du hast das junge Mädchen verletzt.«

»Ich kann nichts dafür, Mutter.«

 

Lina lag in ihrem Jungmädchenstübchen und redete irr.

»Dichter Rauhreif … Sieh hin, Borja, sie leuchten wie Sterne … Blaue Sterne …«

Die ganze Nacht durch wiederholte sie flüsternd diese Worte; am Morgen lag sie erschöpft in den Kissen. Und wie im Traum hörte sie ihre Mutter weinen und die ruhige Stimme des Arztes:

»Einstweilen kann ich noch nichts sagen … Warten wir ab, wie es morgen wird.«

Eine Woche lang lag Lina im Fieberdelirium; die Ärzte stellten kruppöse Lungenentzündung fest.

Olga Grigorjewna klingelte bei Frau Smoljaninowa an.

»Jawohl, Olga, ich komme sofort.«

Tag und Nacht wurde am Krankenbett gewacht; die beiden Mütter lösten einander ab. Frau Smoljaninowa hörte die Kranke oft den Namen ihres Sohnes nennen, und machte ihm Vorwürfe, wenn sie nach Hause kam.

»Sie spricht im Fieber von dir, Borja; deine Phantasien sind an allem schuld.«

Mehrmals fanden Ärztekonzilien statt. Frau Smoljaninowa fragte:

»Wie steht es mit ihr? Sagen Sie es mir.«

»Eine kleine Verwicklung … In den Lungen.«

Ende Januar teilten es die Ärzte Anna Jewgrafjewna mit:

»Bereiten Sie die Mutter vor … Galoppierende Schwindsucht.«

»Mein Gott! Ist denn keine Rettung möglich?«

»Hoffnungslos … Es müßte denn ein Wunder geschehen, wenn es noch Wunder gibt.«

»Wann? …«

»Sie sterben wird? Das ist noch unbestimmt; in vier bis sechs Monaten, sicher aber im Herbst.«

Tränenüberströmt kehrte Frau Smoljaninowa nach Hause zurück.

»Lina hat die galoppierende Schwindsucht, Borja; und du bist schuld!«

Zum ersten Male stieß er voll Verzweiflung hervor:

»Das ist nicht wahr, Mama. Ich kann nichts dafür …«

»Nur ein Wunder kann sie retten, nur ein Wunder …«

Seit diesem Tage verstummte Boris; er erging sich nicht mehr in phantastischen Schwärmereien. Ein grübelnder Zug war in sein Gesicht getreten.

 

Die Krise war überstanden, Lina begann sich zu erholen. Die frostkalten Wintertage hatten Sträucher und Bäume wieder mit weißem Reif geschmückt, die Kranke blickte in blauer Dämmerstunde durchs Fenster und dachte an das Märchen von den blauen Augen, die wie Sterne leuchten.

Auch ihre blauen Augen leuchteten jetzt wie Sterne, und auf ihren Wangen spielten rote Flecken. Ein dumpfer Husten quälte sie; sie glaubte oft zu ersticken, rang nach Luft, und wie in wurmstichigem Holze schnarrte es in ihrer Brust.

Heller als die Sterne leuchteten ihre Augen, weil die erste Liebe aus ihnen strahlte. Schon in jener Nacht, als sie in ihrem Zimmer der erste Schüttelfrost überkommen hatte, war ihr seltsam leicht ums Herz geworden; Liebe war in ihm erwacht. Im Fieber hatte sie von Boris gesprochen, ihr Geheimnis in wirren Reden verraten. Die Todgeweihte war glücklich in dem Gedanken an den Geliebten, sehnte sich nach ihm, blickte träumerisch. Ihre Mutter fragte:

»Linotschka, Kind, warum bist du so traurig?«

»Ich weiß selbst nicht warum, Mama.«

»Die Ärzte sagen, du wirst bald gesund werden.«

»Ich fürchte mich nicht, Mama …«

»Was also ist es, Mädel? … Liebst du jemand? Ja? …«

»Ja.«

»Wen? Sage es mir.«

»Boris Smoljaninow.«

»Du hast im Fieber von ihm geredet, mein Herzblatt …«

 

Als Anna Jewgrafjewna hinkam, um ihre Freundin auf die traurige Nachricht vorzubereiten, sagte Linas Mutter:

»Weißt du, Anja, sie liebt deinen Boris, redet im Fieber von ihm …«

»Ich habe es auch gehört, Olja. Und er soll sehen, sie wieder gesund zu machen. Du kennst ja die Liebe, Olja. Du weißt, Liebe vollbringt Wunder. Vielleicht ist auch hier ein Wunder nötig … Mir hat einer der Arzte nach einem Konzilium gesagt, ein Wunder könne sie retten. Und die erste Liebe ist doch ein Wunder.«

»Anna, sage mir, was fehlt ihr? Warum könnte nur ein Wunder sie retten? Hat sie die Schwindsucht? Ich sehe es ja, will es mir aber nicht eingestehen; sie ist ja alles, was mir noch im Leben geblieben ist, ist mein Leben …«

»Ein Wunder kann sie retten, Olja, vielleicht das Wunder der ersten Liebe.«

»Liebt denn dein Boris sie?«

»Ich will ihn fragen.«

Noch am selben Abend sagte Anna Jewgrafjewna zu ihrem Sohne:

»Wenn du mit deinen Phantasien Mädchen verrückt machen kannst, kannst du sie vielleicht auch wieder gesund machen.«

»Wenn ich es nur könnte!«

»Du kannst es vielleicht. Sie liebt dich. Sei aufmerksam zu ihr, zärtlich, küsse sie vorsichtig, hülle sie ein in Liebe und Zärtlichkeit. Liebe vollbringt Wunder, Glück verscheucht alle Schatten. Vielleicht wird sie genesen, wenn alles in ihr Frohsinn und eitel Sonnenschein ist … Versuch' es, als Sühne deiner Schuld.«

»Gern will ich jede Sühne für meine ungewollte Schuld auf mich nehmen, Mama, aber ohne Liebe wird kein Wunder geschehen, und ich liebe Lina nicht.«

»Gleichviel, sie braucht so wenig. Gib ihr den Glauben an deine Liebe, und rettet er sie auch nicht, so wird sie doch glücklich sein und Liebe ihr Sterben verklären.«

Boris verbrachte eine schlaflose Nacht; er grübelte. Wie sollte er, ohne Liebe im Herzen, sich als Liebender geben? Bisher hatte er nur seine Traumbilder geliebt. Es hatte ihn gefreut, daß er durch wenige Worte einen Menschen an sich fesseln, in sich verliebt machen konnte. Zu Schriftstellern hatte er nie versucht, trotzdem seine Schulaufsätze die besten seiner Klasse waren, die der Lehrer vorzulesen pflegte. Boris hatte dadurch eine Art Berühmtheit erlangt und wurde oft von den Schwestern seiner Freunde gebeten, Aufsätze für sie zu schreiben. Doch seine eigenartige Ausdrucksweise verriet ihn immer.

»Gestehen Sie, den Aufsatz haben nicht Sie geschrieben. Jemand hat ihn für Sie geschrieben. Wer? Smoljaninow, nicht wahr? Wer von Ihnen ist nun verliebt in den andern: Sie in ihn oder er in Sie?« pflegte der Literaturlehrer des Lyzeums in solchen Fällen zu fragen.

Das ertappte junge Mädchen wurde rot bis an die Haarwurzeln, kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen und war doch insgeheim stolz darauf, daß Smoljaninow ihr den Aufsatz geschrieben hatte …

Gegen Morgen beschloß Boris:

»Was kann ich tun? So mag denn das Spiel mit der Liebe mein letztes Traumspiel sein.«

 


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