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Das Leben ist nicht das, was war, und nicht das, was kommen mag; das Leben ist der heutige Tag; die klare Seele lebt im Heute, und je unmittelbarer sie sich dem Augenblick hingibt, desto größer ist ihre Fülle.
In dem Platzkartenwagen trafen die kleine Fenja und Boris Smoljaninow zusammen; sie saßen einander gegenüber.
Leid und Kummer und sehnsüchtige Erwartung hatten Boris' Blick nach innen gekehrt; in sich versunken saß er da. Der Instinkt des Weibes spürte es, nahm es in sich auf: Leid, Kummer und sehnsüchtige Erwartung.
Sie fühlte, an die noch nicht vernarbten Wunden durfte sie nicht rühren; wenn sie selbst so litt wie er, nur dann würde sich ein Zugang zu seiner Seele finden. Nicht über Liebe, nicht über seine verstorbene Braut, nicht über Seelenqual und Seelenwirrnis durfte sie mit ihm reden; nur über einfache, alltägliche Dinge.
Nach der Begrüßung saß jedes stumm in seiner Ecke.
An einer Haltestelle holte Fenja siedendes Wasser und stellte allerlei Leckerbissen von Hause auf das Fenstertischchen.
»Borja, trinken Sie ein Glas Tee.«
Gleichsam abwesend warf er einen Blick auf das gefüllte Glas vor sich und rückte es näher zu sich heran.
Hinter Moskau aßen sie zusammen Abendbrot.
»Haben Sie schon ein Zimmer in Aussicht, Borja? Sonst könnten Sie das Zimmer gegenüber meinem mieten, falls es noch nicht vergeben ist. Es ist groß und hell. Was meinen Sie, Borja?«
»Mir ist das gleichgültig, danke.«
Er verstummte und schwieg, bis sie in Petersburg ankamen. In einer Droschke fuhren sie zusammen nach der Kleinen Spasskaja Straße. Auch schweigend.
»Also jetzt sind wir Nachbarn, Borja.«
Er ging morgens früh ins Kolleg und saß bis spät in die Nacht hinein über den Büchern. Oft ging er Bücher kaufen – das galt ihm als Spaziergang – und malte sich in Gedanken sein zukünftiges Arbeitszimmer aus, in dem außer dem Schreibtisch und einem schwarzen Lederdiwan nichts als Bücher sein sollten. Ein neuerworbenes Buch brachte er behutsam wie eine Geliebte nach Hause, schnitt es sorgfältig auf und stellte es nach einiger Zeit, mit Randbemerkungen versehen, auf das Sims.
Fenja beobachtete ihn, suchte ihm unauffällig im Gang zu begegnen. Er kam regelmäßig um sechs Uhr nach Hause, begrüßte sie gleichgültig und zog sich in sein Zimmer zurück, um zu arbeiten.
Oft sprach Walja Shurawljowa bei Fenja vor, meist mit irgendeinem Studenten.
»Hast du dich in den Einsiedler noch nicht verliebt?« fragte sie einmal.
Bis zehn – ein späteres Verweilen von Gästen gestattete die Wirtin nur des Sonnabends – wurde geplaudert, Tee getrunken, mit den Studenten kokettiert.
An den Samstagabenden »empfing« Fenja; Shurawljowa, Iwina, Studenten kamen, man sprach über dieses und jenes, aß Abendbrot – Aufschnitt, Tee, Pralinen –, sang Lieder und ging gegen zwölf auseinander.
Des Samstags ging Boris zur Abendmesse in die Kasaner Kathedrale, um das Getöse nebenan nicht zu hören, und kehrte um Mitternacht langsam zu Fuß zurück. An Feiertagen besuchte er auch die Frühmesse und fragte sich oft bang, ob er mit seinem Studium auch das Richtige gewählt habe; vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn er sich ins Kloster zurückgezogen hätte … Nur wenn er über seinen Büchern saß, vergaß er die quälenden Gedanken.
Das Leben ist eine phantastische Angelegenheit und spielt uns oft einen Schabernack.
Der Winter setzte früh ein mit Glatteis und scharfem Wind vom Meere her, der die Stadt mit Überschwemmungsgefahr bedrohte. Boris, noch in seinem Sommermantel, schritt aus der Kasaner Kathedrale über das Marsfeld. Der Wind wehte ihm Eisgraupeln ins Gesicht; er war bis aufs Mark durchgefroren. Um dem sonnabendlichen Lärm bei Fenja zu entgehen, hatte er einen großen Umweg gemacht und fühlte sich ermüdet. Als er gegen Mitternacht die Haustür zu seiner Wohnung erreichte, glitt er aus, stürzte, verrenkte sich den rechten Arm und beschädigte sich ein Bein. Er kroch bis an die Treppe, konnte aber nicht weiter und setzte sich auf die Stufen vor der Tür. Fenjas Gäste stießen auf ihn und brachten ihn nach oben.
Der herbeigeholte Arzt erklärte:
»Sie müssen ins Krankenhaus. Das mit dem Bein ist nicht von Belang, aber der Arm muß eingeschient werden.«
»Ich will nicht ins Krankenhaus, Herr Doktor. Kann ich mich nicht zu Hause behandeln lassen?«
»Wenn Sie die Mittel dazu haben, wohl. Sie werden sich aber eine Krankenpflegerin nehmen müssen.«
Die kleine Fenja sagte:
»Ich will nach ihm sehen. Smoljaninow ist mein Landsmann.«
Walja Shurawljowa schloß sich ihr an:
»Ich helfe auch mit, Herr Doktor.«
»Dann mag er hier bleiben.«
Nachdem der Arzt das Nötige getan hatte, suchte Fenja es durch Kissen und Decken Boris möglichst bequem im Bett zu machen. Sie wachte die Nacht durch an seiner Seite und wartete auf sein Erwachen. Am Morgen aber glühte sein Körper in hohem Fieber, er warf sich unruhig hin und her. Sie hielt ihn fest, damit er die Armschiene nicht verrücke, und das beglückende Empfinden erwachte in ihr, daß er ihr so nah und traut sei, wie bisher nie ein Mensch.
Am Vormittage stellte Shurawljowa sich ein, um Fenja abzulösen. Scherzend sagte sie:
»Du hast Glück gehabt, Fenja …«
»Schäme dich, Walja! Denkst du denn wirklich so schlecht von mir? …«
»Paß auf, du verliebst dich in ihn … Oder bist du schon verliebt?«
»Wenn ich wüßte, daß er nur den Sonderling spielt und nicht wirklich tief leidet, würde ich mich vielleicht in ihn verlieben und es wohl verstehen, ihm den Kopf zu verdrehen … Aber er liebt immer noch die Tote, so, als lebte sie … Einen solchen Menschen könnte man wohl lieben, Walja, aber sich leichtfertig in ihn verlieben? … Nein; nur lieben, und es wäre eine Liebe für das Leben. Ich würde alles und alle vergessen um einer solchen Liebe willen, und ein neues, ein anderes Leben beginnen …«
Des Nachts wachte Fenja an seinem Bett, tagsüber pflegte ihn Walja.
In einer Nacht redete er irr, hob den gesunden Arm und rief mit weitaufgerissenen Augen:
»Kommst du? … Da bist du … Du … Küsse mich, küsse mich ein einziges Mal … Wie damals, beim letzten Mal …«
Freudig empfingen seine fieberheißen Lippen Fenjas Küsse und erwiderten sie unbewußt. Sie küßte ihn zart und scheu … An seine gesunde Schulter gelehnt, damit er sich nicht rühren könne, schlummerte sie ein. Es war ein halbwacher Schlummer; sie hörte jeden seiner Atemzüge, lauschte seinem Herzschlag, hing traumhaften Gedanken nach. Er hatte nicht sie geküßt, sondern sie hatte ihn betrogen, um sich unter einem fremden Namen in seine Seele zu stehlen. Trotzdem war sie glücklich. Der Gedanke an die Tote störte sie nicht. Ihr war, als hätte jene nie gelebt, als wäre sein Gedenken nichts weiter als eine unbestimmte, entkörperte Sehnsucht in ihm, ein Sehnen nach Liebe und Glück. Noch nie hatte ihm jemand in einem Kuß sein ganzes Wesen als unteilbare, lebendige und lebenspendende Einheit hingegeben, und auch er hatte noch nie jemand in lebenerweckendem Verlangen umarmt. Sie fühlte sich als das erste Mädchen aus Fleisch und Blut, das er geküßt hatte mit seinen reinen Lippen, sie, die dunkle Pfade gewandelt war! Ein reinigender, ein erlösender Hauch war ausgegangen von seiner Berührung. Nicht ihr schwelendes Blut hatte ihre Lippen an die seinen geführt, sondern eine Zärtlichkeit, die aus tiefster Seele floß, aus ihrer sündigen Seele, die in den Abgrund des Falles geblickt und sich unter diesem Kuß emporgeschwungen hatte in lichtere Höhen, der Läuterung durch den Reinen gewärtig.
Sie schlummerte halb, schlug aber jede Minute die Augen auf und blickte ihn an, und wenn er die Lippen bewegte, hob sie behutsam seinen Kopf empor und flößte ihm mit einem Teelöffel etwas zu trinken ein.
Zuweilen wurde er wieder unruhig, hob die Hand und redete irr; dann küßte sie ihn wieder leise auf die Lippen und sah erschüttert, wie ein seliges Lächeln über seine Züge glitt. Nachher gedachte sie ihr Leben lang dieser Küsse, die so sündlos waren und so beglückend.
Sein Bewußtsein kehrte zurück, er schlug die Lider auf, blickte in ihre grauen Augen. »Warum sind Sie hier?«
»Sie dürfen sich nicht bewegen, Borja.«
Ihm kam die Erinnerung an seinen Sturz, an den Arzt, an das schmerzliche Einrenken des Armes, an Fenjas Worte, daß sie nach ihm sehen wolle, und er fügte sich stumm.
»Machen Sie sich keine Gedanken darüber, Borja. Vor mir brauchen Sie sich nicht zu schämen. Ich bin jetzt Ihre Schwester, Ihre Krankenschwester. Von einer Krankenschwester würden Sie sich doch ruhig pflegen lassen? …«
Ganz zurückgezogen hatte er gelebt, besaß weder Freunde noch Kameraden. Scheu streckte er ihr die linke Hand hin:
»Ich danke Ihnen, Fenja …«
Sie war ganz Krankenschwester, sah seinen Körper nicht, wenn sie ihm die Wäsche wechselte, spürte keine Erregung, wenn sie ihn umarmte, um ihn aufzurichten. Und so freudig und warm wurde ihr ums Herz, da sie um ihn sein und für ihn sorgen durfte.
Ihrer Freundin Walja erklärte Fenja, sie würde es jetzt schon allein schaffen. Niemand sollte ihm nichtige Worte sagen, eifersüchtig wachte sie über sein Leben. Sie stellte ihm keine Fragen, rührte nicht an das Weh in ihm. Die ersten Tage saß sie stumm da, ohne ihn anzusehen. Immer wieder mußte sie an die Küsse denken, die sie dem Fiebernden geraubt hatte; sie waren gleichsam in die Tiefe ihrer Seele gesunken. Vielleicht hatte sie sich nur in dieser Tiefe, in dem Allerheiligsten ihrer Seele lichte Klarheit bewahrt. Durch Nikolais ausschweifende Gier war ihre Seele bedrückt, durch schwarzes Blut bei der Entfernung der Frucht befleckt, durch Nikodims Eifersucht zerquält, durch die Liebkosungen eines Igrewitsch, jenes Studenten, getrübt worden, und erst unter Boris', des Reinen, Berührung hatte sich ein klarer Strahl durch all dieses Schwelende hindurchgerungen, dessen Licht in ihrer Seele verzehrend selige Liebe entzündet hatte. In dem reinigenden Feuer der geraubten Küsse war alles Quälende ihrer Vergangenheit verbrannt. Sie würde ihm, dem Reinen, beichten; sie mußte es tun, um ihre Liebe und damit ihr Leben zu retten.
Fenja kam mit einem Buch in sein Zimmer.
»Ich habe hier Tolstois Wassilij Fiwejskij. Soll ich Ihnen vorlesen, Borja?«
Als sie geendet hatte, entfuhr es ihm:
»Gott straft uns für unseren Unglauben … Auch ihn hat er gestraft.«
»Wen meinen Sie? Den heiligen Wassilij?«
»Ja, Fenja …«
Er preßte die gesunde Hand gegen die Stirn; ein bitterer Zug trat in sein Gesicht.
»Ich möchte mich aufrichten, helfen Sie mir, bitte …«
Fenja spürte, daß das Buch an etwas Wehes, an etwas Krankes in ihm gerührt hatte. Sie richtete ihn auf und behielt seine Hände in den ihren.
»Borja, Sie Lieber …«
Die Worte kamen ihr aus der Seele und sanken in seine Seele.
»... und auch mich. Auch mich hat Gott gestraft …«
»Weshalb? … Weshalb, Borja?«
Der Ton ihrer Stimme ergriff ihn; einen Augenblick tat sich seine Seele auf und schloß sich gleich wieder.
»Ich glaubte mit dem Verstande an die Möglichkeit eines Wunders … Ich forderte ein Wunder von Gott, ohne an ihn zu glauben. Und als der Glaube in meiner Seele aufging, begriff ich, daß ich nur sein Geschöpf, ein sterbliches Wesen bin in seiner strafenden Hand. Und auch jetzt hat er mich wieder gestraft.«
»Warum, Borja?«
»Ich wollte Professor werden … Gelehrter … Da hat er mich gestraft, daß ich hilflos zusammenbrach …«
»Und was wäre das Richtige gewesen?«
»Das Kloster …«
»Das Kloster? Sie ins Kloster? … Warum, Borja? Dort …«
Sie gedachte des Klosters von Belobereshsk und schüttelte sich vor Ekel.
Beide hingen ihren Gedanken nach. Schwiegen …
»Ich kann mich jetzt schon allein behelfen. Gehen Sie schlafen, Fenja, und haben Sie Dank. Ich habe Sie tüchtig abgeplagt in diesen Tagen.«
»Gut, Borja. Schlafen Sie wohl.«
Keiner von ihnen konnte einschlafen; beide dachten an das Leben hinter den stillen Klostermauern. Die kleine Fenja dachte an Nikolka, an die Speichelleckerei der Mönche, an das lüsterne Betasten und Bestreicheln frömmelnder Kaufmannsfrauen, an die jungen Mönche, die Mädchen und Frauen im Walde umgarnten und vergewaltigten, an die heimlichen Sünden der Mönche untereinander, von denen sie gehört hatte – und sie hätte aufschreien können vor Schmerz und Bitterkeit bei der Vorstellung, daß Borja in dieses Sodom geraten könnte.
Boris betete bis in die Morgenstunden und gedachte traumhaft jener Nacht, da er bewußtlos gewesen war, und er hatte das Empfinden, als wäre sie, seine Himmelsbraut, ihm damals erschienen. Er hatte sie nicht sehen können, unsichtbar war sie zu ihm gekommen, doch wenn er die Lippen aneinander preßte, war ihm, als spüre er noch ihre Küsse auf seinen Lippen, vielleicht hätte er sie erblickt, wenn sein Bewußtsein durch das Fieber nicht getrübt gewesen wäre. Vielleicht war sie als sein Schutzengel zu ihm gesandt worden, um ihn von dem Irrwege abzubringen, den er eingeschlagen hatte, um ihm den rechten Weg zu weisen: das stille Kloster.
Als Prüfung empfand er Fenjas Hilfe. Vielleicht war sie ihm als Versuchung gesandt worden und suchte ihn zu betören, sich heimlich in seine Seele zu stehlen. Er zog sich innerlich noch mehr von ihr zurück, war äußerlich aber freundlicher in seinem Wesen, schreckte nicht zurück, wenn sie ihm beim Wechseln der Wäsche half, ihn sorgsam pflegte, für das Essen sorgte und ihm des Abends vorlas.
Jeden Abend nahm sie sich vor, ihm die Wahrheit über das Klosterleben zu sagen, konnte sich aber lange nicht dazu entschließen; sie hätte dabei auch die Wahrheit über sich selbst gestehen müssen, und dazu fehlten ihr noch die Kräfte.
Er war ihr dankbar für das Vorlesen, auch lenkte es beide von verfänglichen Gesprächen ab. Eines Abends aber, als die Sorge um ihn ihr keine Ruhe ließ, sagte sie:
»Ich muß alle diese Tage immerfort an Sie denken, Borja, an Ihre Worte, daß Sie sich mit den Gedanken tragen, ins Kloster zu gehen. Weshalb wollen Sie das tun, Borja? Ich will Ihnen etwas sagen, hören Sie zu. Ich war als junges Mädchen, als unerfahrenes Ding in einem Kloster. Wenn Sie diese Mönche näher kennen würden! Ich durchschaue sie jetzt, Erfahrung hat mir die Augen geöffnet. Sie müssen nicht denken, daß ich von der Welt noch nichts weiß. Ich bin erst zwanzig Jahre alt, aber ich habe so vieles gesehen, so vieles erlebt … Das sind keine leeren Worte, Borja. Vor Ihnen würde ich mich nicht aufspielen. Bin ich Ihnen auch fern und fremd, so sind Sie mir doch teuer und nah … Wissen Sie noch, wie Sie zu mir von dem Stern von Bethlehem sprachen? Ich werde Ihre Worte nie vergessen … Ich … ich will mich vor Ihnen verneigen, Borja, darf ich? …«
Sie sprang von ihrem Lehnstuhl auf, trat an sein Bett, ergriff seine Hand und kniete nieder.
»Ich weiß, daß ich Ihnen fernstehe; ich weiß auch, daß Sie Lina nicht vergessen haben …« Sie wies auf das Bild der Verstorbenen. »Und doch …«
Sie senkte den Kopf, preßte die Stirn gegen den eisernen Bettrand.
»Ich habe mich verneigt vor Ihnen, dem Reinen, dem Weisen … Werfen Sie nicht mit Steinen nach meiner sündigen Seele … Ich will nichts von Ihnen. Ich will Ihnen nur alles sagen. Sie sind rein. Wir stehen fast im gleichen Alter, aber Sie sind rein … Nur Ihnen kann ich es sagen … Ich leide. Nur in Ihrer Nähe ist mir wohl, wird es still und ruhig in mir.«
Er sah sie erschrocken an, spürte aber, daß er einen hilfsbedürftigen Menschen nicht abweisen dürfe, und zog seine Hand nicht zurück.
»So, Borja … So will ich Ihnen alles erzählen … Er lockte mich in den Wald, Borja … Ein Mönch. Und im Walde verwüstete er meinen Leib, tagelang, daß ich taumelte … Aber ich ging immer wieder hin … Er sprach von seiner Liebe zu mir … Der Mönch. Nikolai hieß er. Und ein anderer, Großer, Rothaariger, begehrte mich auch. Sie waren befreundet. Der Rothaarige hatte mich mit Nikolai bekannt gemacht. In ihrer Zelle, im Kloster, vor den Heiligenbildern, losten sie um mich, da hat Nikolai dem Rothaarigen das Nasenbein eingeschlagen. Verstehen Sie, Borja? … Er wollte mich dem Rothaarigen nicht abtreten … Sie flohen aus dem Kloster, mir nach in die Stadt. Und so sind sie dort alle, alle … Wir hatten eine Villa im Klosterwalde für den Sommer gemietet. Mönche tranken oft Tee bei uns. Eine junge Frau war da. Die Mönche suchten ihre Hände, ihre Schultern zu berühren, führten sie in den Wald … Nachher verneigten sie sich dann in der Kathedrale vor den Heiligenbildern, schlugen mit der Stirn gegen den Boden, erzählten den Wallfahrern von den Wundertaten des Klostergründers. Wenn sie zu uns kamen, waren sie ganz anders … Ich spreche die Wahrheit; es ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit … Und Sie, der Reine, wollen zu ihnen?! Es geht dort schlimmer zu als in der übelsten Lasterhöhle. Die Mönche werden Sie peinigen, Ihre Seele wird leiden. Sie peinigen jeden, bis er wird, wie sie sind, ebenso lasterhaft, ebenso verworfen. Gehen Sie nicht dahin, Borja … Sie in dieser Umgebung! Borja! …«
Dann sprach sie über sich. Sie wollte alles sagen, nichts sollte vor ihm verborgen bleiben. Einmal nur alles sagen, durch ein Geständnis vor dem Geliebten, dem Reinen, sich die Seele frei reden!
»Wenn ich Sie nicht liebte, hätte ich es nicht sagen können … Nie habe ich jemand als erste meine Liebe gestanden. Aber Sie sind reiner als ein junges Mädchen, Ihnen kann man alles sagen. Meine Seele ist zerquält, erst durch andere, dann durch mein eigenes Tun … Ich wollte vergessen, suchte Betäubung. Ich bin ja schon lange nicht mehr unschuldig, Borja … Nach der Trennung von Nikolai brachte mein Onkel mich nach Petersburg. Unter Qualen wurde ich von den Folgen befreit … Nachher liebte ich noch einmal, liebte wirklich, tief und rein. Aber er wollte wissen, wollte alles wissen, Borja, und ich konnte es ihm nicht sagen …«
»Fenja, Sie wissen, daß ich niemand lieben kann, und doch sprechen Sie offen zu mir: warum konnten Sie es dem nicht sagen, den Sie liebten? …«
»Er hätte nicht verstanden … Ich wollte sein werden, nachher hätte ich ihm alles gestanden … Wenn er mich wirklich geliebt hätte, hätte er nicht gefragt, er hätte mich geliebt, so wie ich war. Er glaubte wohl, daß er mich liebte, aber seine Seele war kalt geblieben, Glauben und Vertrauen nicht in ihr erwacht. Er erfuhr es durch den Rothaarigen, der ist jetzt hier in Petersburg, er ist mir nachgereist … Wir trennten uns … Es war eine Leere in mir und Bitterkeit … Ich liebte noch einmal, aber es war nicht das rechte …
Dann war ich arm, ganz arm, Borja, und der hungernde Leib ging von Hand zu Hand … Ich küßte, gab meinen Leib hin, um wie ein Trinker zu vergessen, daß es eine Seele gibt … Ich war in den Geheimkreis des »Lichtstümpfchens« geraten … Dann traf ich Sie auf dem Friedhof … Und gedachte Ihrer Worte von der Anbetung der Weisen, und wollte nicht mehr, daß meine Seele erlösche, daß der Stern von Bethlehem in mir erlösche. Das Schicksal hat mich zu Ihnen geführt, Borja … Durch meine Liebe zu Ihnen bin ich wieder rein geworden. Vor Ihnen, dem Keuschen, habe ich meine Seele auf getan, und das hat mich geläutert … Nicht wahr, Borja? … Jetzt darf ich wieder lieben, jetzt darf man auch mich wieder lieben. Jetzt dürfte ich auch Mutter werden … Nur die, die rein sind, dürfen ein Kind tragen … Nicht wahr, Borja? … Bin ich rein? …«
Seine Hand war heiß geworden unter den Tränen, die zwischen ihren Fingern hindurchdrangen. Den Kopf in die Kissen zurückgelehnt, hatte er mit geschlossenen Augen zugehört. Ihre Worte, die ihre Seele entblößten, legten sich wie eine Last auf seine Brust. Er atmete langsam, und als sie nach ihrer Frage seine Hand küßte, schloß er einen Augenblick die Lider noch fester, und nicht Mitleid, sondern ein Gefühl voll Schmerz und Weh veranlaßte ihn, ihr das Gesicht zuzuwenden und seine Hand auf ihren Kopf zu legen. Leise strich er ihr über das Haar, das an den Wurzeln warm war und ihn an ebensolch weiches Haar erinnerte, an jenes, das ihm seine Braut vor ihrem Tode geschenkt hatte und das auch gestorben war … Dieses war ebenso lang und weich, und es lebte … Er bemerkte nicht, daß unter seiner Hand ihre Frisur sich gelöst hatte; sanft strich er ihr über die weichen Strähnen, die zuckend über ihre Schultern rieselten.
Unter seiner Berührung flammte ihre Liebe mit überwältigender Macht in ihr auf. Ein Gefühl der Stille und zugleich verzehrender Sehnsucht erfüllten sie. Sie wagte nicht, sich zu regen, um die unverhoffte Liebkosung des Geliebten nicht zu unterbrechen. Als er die Hand sinken ließ, zuckte sie zusammen und schmiegte sich an ihn.
»Im Altertum steinigte man die Gefallenen … Sie haben keinen Stein auf mich geworfen, haben mich nicht zurückgestoßen. Dadurch sind Sie mir noch näher, noch teurer geworden … Hier, in der Seele, Borja … Ich möchte Sie küssen … Nur einmal … Verschmelzen mit Ihrer Seele …«
Bevor er hätte antworten können, hatte sie seinen Kopf in beide Hände genommen und wie in jener Nacht ihre Lippen auf die seinen gedrückt. Er prallte, zuckte zurück …
»Nicht … Nur sie …« Er wies mit der Hand auf das Bild der Verstorbenen. »Sie wird zu mir kommen. Niemand soll mich berühren. Auf meinen Lippen lebten noch ihre Küsse … Und jetzt? .. Jetzt sind sie gestorben …«
Er hatte flüchtig das Empfinden, daß ihn auch in jener Nacht, als er sich nach seiner Braut gesehnt und sie gekommen war, diese Lippen geküßt hätten, doch gleich darauf war ihm wieder, als wäre es seine Braut gewesen … Um diese Empfindung nicht zu verlieren, wagte er nicht die Lippen zu öffnen.
Die kleine Fenja besann sich erst jetzt wieder darauf, was sie hatte sagen wollen, bevor sie mit ihrer Beichte begonnen hatte.
»Borja, das Kloster ist der Tod. Ein Mensch soll sich aber nicht lebendig begraben …«
Er antwortete nicht, und sie spürte, daß eben nichts weiter gesagt werden dürfe, um nicht etwas zu vernichten, was sie auf immer innerlich vereint hatte. Selbst wenn sie jetzt auseinandergingen und sich niemals mehr wiedersähen, dieses Nahe, dieses Gefühl der inneren Zugehörigkeit würde bleiben, und beide würden immer wieder daran denken.
»Vergeben Sie mir …«
Vorsichtig – um seine Hand, die er wieder auf ihren Scheitel gelegt hatte, nicht zu verscheuchen – steckte sie ihr Haar in einem Knoten auf und sagte leise, ermattet durch die Erschütterungen des Erlebten, während ihre gefalteten Hände an seiner Schulter lagen:
»Nie soll jemand von dieser Stunde erfahren; sie soll uns heilig sein unser Leben lang.«
Ein Gefühl großer Erleichterung war über die kleine Fenja gekommen; leicht und frei ging ihr Atem. Sie träumte im Halbschlummer in ihrem Bett. Sie fühlte, daß ihr Mädchentum nun endgültig hinter ihr lag, überwunden war. Sie war jetzt eine Frau, die ihr Leben und ihren Verstand noch in der Wirrnis der Leidenschaften und des Leids beherrschte. Nur ihre Liebe zu ihm, dem Reinen, Ersehnten, konnte sie vielleicht noch umwerfen, zerschmettern, sie zum Wahnsinn treiben, ihre ringende bange Liebe zu ihm, vor dem sie ihre Seele aufgetan hatte und den ein Gespenst ihr raubte, das zugleich ihn um sein Leben betrog!
Als eine ihm von Gott gesandte Prüfung hatte Boris ihre Beichte empfangen, als eine Prüfung, der ihn der Allmächtige unterzog, die er bestehen mußte. Fenjas Kuß hatte eine quälende Unruhe in ihm geweckt und verknüpfte sich in seiner Vorstellung mit einem anderen Kuß … Wenn sie … seine Braut, ihm doch wieder erscheinen und ihn küssen wollte, und sei es auch nur im Schlafe, falls er sie noch nicht schauen durfte! Das würde ihn wieder beruhigen …
Jeden Tag saß Fenja bei ihm, verbrachte die Abende bei ihm und spürte beim Eintreten, daß sie willkommen war, daß sie ihm, ohne daß er es wußte, immer vertrauter und unentbehrlicher wurde. Er gab sich schlicht und unbefangen, stritt sogar mit ihr und erwähnte seit jenem Abend das Kloster nicht mehr; er dachte nicht mehr daran; das Verlangen, Mönch zu werden, war verblaßt. Er durfte jetzt im Zimmer auf und abgehen; den Arm trug er ohne Schiene in einer Binde. Seine Kräfte kehrten zurück und zugleich der Wunsch, Gelehrter, Professor zu werden. Er wurde umgänglicher, floh nicht mehr vor Fenjas Freundinnen, Shurawljowa und Iwina, und den Studenten, die Fenja wieder besuchten.
Zu den Weihnachtsferien durfte Boris noch nicht fort, erst in der Fastnachtswoche fuhr er nach Hause. Er erzählte seiner Mutter, wie man ihn nach seinem Sturz ins Zimmer hinaufgetragen, wie Fenja ihn gepflegt, die Nächte an seinem Bett gewacht, ihn aus- und angekleidet hatte.
Die Mutter fragte:
»Wer ist diese Fenja?«
»Weißt du noch, Mama, sie war einmal hier, um mich zu einem vergnügten Abend in ihrem Hause abzuholen, ich lehnte aber ab. Fenja Grakina heißt sie.«
»An Fenja Grakina erinnere ich mich sehr wohl. Was für ein liebes Mädchen! Hast du ihr auch in irgendeiner Weise gedankt?«
»Nein, Mama.« Er sann einen Augenblick vor sich hin, dann sagte er leise: »Ja, sie ist ein liebes Mädchen …«
Ein Schatten huschte über sein Gesicht; er furchte die Brauen.
»Was hast du, Borja?«
Schmerzlich sagte er:
»Sie liebt mich auch, Mama … Sie hat es mir selbst gesagt.«
»Das Leben wird alles einrenken, Borja …«
Was sie damit meinte, ob Fenjas Liebe oder ihres Sohnes Sehnsucht nach der Verstorbenen, erklärte Anna Jewgrafjewna nicht näher, im stillen aber hoffte sie, daß ein Funken im Herzen ihres Sohnes bereits zu glimmen begonnen hatte; woher käme denn sonst seine Ergriffenheit? …
»Eine Aufmerksamkeit müssen wir ihr jedenfalls erweisen.«
Beim Schlafengehen überlegte sich Anna Jewgrafjewna noch einmal die Sache. Vielleicht würde ihr Boris dieses schöne und gute Mädchen heiraten, wenn Fenja ihn zu nehmen verstand … Um ihre Schuld an ihrem Sohne, den sie in die Arme einer Todgeweihten getrieben hatte, wieder gutzumachen, beschloß sie, Fenja in ihrer Liebe zu ermuntern und ihr ein besonderes Geschenk zu senden.
Auf dem Bahnhof übergab sie Boris beim Abschied ein in Battist genähtes Schächtelchen.
»Borja, gib dies in meinem Namen jenem lieben Mädchen. Ich bitte dich aber, sieh nicht nach, was darin ist.«
Er antwortete gleichgültig:
»Schön, Mama …«
Als er die Wohnung an der Kleinen Spasskaja Straße betrat, eilte die kleine Fenja ihm entgegen. Zusammen gingen sie in sein Zimmer.
»Ich fühlte mich ohne Sie ganz vereinsamt, Borja …«
Er zog das Schächtelchen aus der Tasche.
»Meine Mutter schickt Ihnen ein kleines Andenken … Ich weiß nicht, was es ist. Sie hat mich gebeten, nicht nachzusehen.«
Er machte sich daran, seinen Korb auszupacken.
Fenja trat an den Tisch und öffnete das Päckchen. In einer einfachen Arzneischachtel lag in Watte gewickelt ein goldenes Medaillon mit einem großen Rubin an einer feinen goldenen Kette. Sie machte es auf und verstand, warum Boris nicht hatte nachsehen sollen: auf der einen Seite war sein Bild in Studentenuniform, auf der anderen stak ein Zettelchen, darauf stand: »Haben Sie Dank für alles, was Sie für ihn getan haben, Sie liebes Kind«. Die Worte »für ihn« waren unterstrichen: ein Pfeil wies auf das Bild nebenan.
Die kleine Fenja sah sich um, ob er nicht hinschaute, und drückte das Bild und das Zettelchen an ihre Lippen. Die Kette legte sie um den Hals und versteckte das Medaillon im Brustausschnitt.
»Borja, wenn Sie Ihrer Mutter schreiben, fügen Sie von mir hinzu: ich hoffte, ihr Wunsch werde sich erfüllen.«
»Was hat Sie Ihnen denn geschickt, Fenja?«
»Sehen Sie her.« Sie zog das Medaillon zusammen mit dem Kreuzchen hervor. »Man könnte meinen, Ihre Mutter wüßte um meine Liebe zu Ihnen. Sehen Sie, welch ein großer Rubin!«
»Ich habe ihr gesagt, daß Sie mich lieben.«
»Sie haben es ihr gesagt, Borja? … Ihrer Mutter? …«
»Dieses Medaillon hat Mama von ihrer Mutter erhalten, als sie sich mit Vater verlobte. Warum verstecken Sie es denn?«
»Dort liegt es wärmer.«
Beim Einschlafen empfand sie die Berührung des schweren Medaillons an ihrer Brust wie eine Liebkosung des Geliebten und beschloß, es niemand zu zeigen, bevor Boris nicht ihr Mann geworden sei. Bis dahin sollte niemand um ihr Geheimnis wissen, niemand auch nur mit einem Blick daran rühren. Tolle Gedanken brausten ihr durch den Kopf, halb irr war die kleine Fenja vor Freude und Seligkeit: seine Mutter erteilte ihr ihren Segen; der Braut ihres Sohnes sandte sie den Rubin, den sie selbst als Braut erhalten hatte!