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In der Wiborger Vorstadt, auf dem alten Newskij, in den dunklen Gassen der Wassilij-Insel warfen rußgeschwärzte Menschen schweigend scheue Blicke um sich, in den Kneipen und Schenken kamen sie zusammen, starrten auf die vorüberziehenden Feldgrauen, grübelten und flüsterten …

Blut war geflossen; eine ungestüme Woge schlug empor und zog, an den granitenen Ufern hinaufleckend, über das flache Land flammengleich dahinschnellend, durch die dürftigen Dörfer, von machtlos prasselnden Gewehrsalven verfolgt, wühlte das unendliche Menschenmeer auf, brandete gegen die Gebirgsketten und verebbte, bis der Zeitpunkt kam, da die in die Herzen gestreute Saat aufging.

Eine Woche später, am Sonnabend, als Afonka und Petrowskij in der Schenke zusammenkamen, machte Kaljabin nicht mehr den Eindruck eines täppischen Kleinbürgers. Er saß mit gefurchten Brauen da, nach der ersten Taufe mit Kugeln und Peitsche heimliche Erkenntnisse in sich hineinfressend. Er sah Petrowskij an und empfand ihn wieder als Feind. Nur eines verknüpfte sie: die Sucht nach ungezügelter Freiheit, die aus den Steppen von Polowezk noch vor dem Tatarenjoch ins Land eingedrungen war, da Glockenklang die freien Bürger sich selbst verwaltender Gemeinden zur Volksversammlung auf den Marktplätzen zusammengerufen hatte.

Afonka berichtete kurz über die Ereignisse am 9. Januar.

»Dann bemerkte ich Fjokla Timofejewna in der Menge und stellte mich hinter sie. Und als die Schießerei losging, half ich ihr bei der Flucht; wie hätte sie sich in dem Durcheinander auch allein zurechtfinden sollen! Na, und die Kosakenpeitsche fing ich mit meinem Rücken auf; der Hieb traf statt ihres Kopfes meine Schulter und riß mir ein Stück Fleisch von den Knochen; es schmerzt heute noch. So ist es denn gekommen, daß meine erste Begegnung mit unserer Landsmännin in Petersburg nicht ganz belanglos war.«

»Gut, daß es so gekommen ist. Ich hatte Fjokla Timofejewna gewarnt, aber die weibliche Neugier war stärker.«

Es war, als bohrte etwas in Afonka; hämisch sagte er:

»Warum haben Sie sich denn nicht um sie gekümmert, da Sie doch nicht sicher waren, ob sie Ihren Rat befolgen würde? Wie, wenn der Kosak ihr den Schädel zertrümmert hätte?«

»Da es nicht geschehen ist, hat es keinen Sinn darüber zu reden.«

»Immerhin, was hätten Sie gesagt?«

»Sie wäre selbst schuld daran gewesen. Als erwachsener Mensch ist sie für ihre Taten allein verantwortlich.«

»Und es hätte Ihnen gar nicht leid getan um Fjokla Timofejewna, Nikodim Alexandrowitsch? …«

»Was soll das Verhör, Kaljabin? Was bezwecken Sie damit? Das geht Sie doch gar nichts an.«

»Ich meine nur so … Fjokla Timofejewna ist uns ja keine Fremde, sie ist doch unsere Landsmännin …«

»Lassen wir das … Dem Himmel sei Dank, daß es glücklich abgelaufen ist, und Ihnen sei Dank für Ihren Beistand.«

Petrowskij saß eine Weile stumm da; unvermittelt fragte er:

»Sagen Sie, Kaljabin, wo sind Sie Fjokla Timofejewna zum ersten Male begegnet?«

»Das wissen Sie ja; im Drakinschen Hause, als ich im Auftrage des alten Klimow in einer geschäftlichen Angelegenheit hinkam; ich habe Sie ja damals auch zum ersten Male gesehen.«

»Waren Sie denn erst nachher als Kostümierter da?«

»Als Kostümierter? Was meinen Sie damit, Nikodim Alexandrowitsch?«

»Erinnern Sie sich nicht mehr an das Bauernmädel?«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Waren Sie denn nicht zu Weihnachten als Kostümierter im Drakinschen Hause?«

»Davon höre ich zum ersten Male.«

Petrowskij fühlte sich ganz wirr. Einer von ihnen hatte die Unwahrheit gesagt, vielleicht beide; doch wessen Erklärungen kamen der Wahrheit näher? … Fenjas Angst, als sie in Moskau Kaljabin erblickt und sich erschrocken an Petrowskij gedrängt hatte, war gewiß ehrlich gewesen, und ihre Erklärung hatte sich um den roten Mönch gedreht. Sollte sie ihn schon früher kennengelernt haben? Das konnte nicht sein, auch Kaljabin hatte bestätigt, daß er sie zum ersten Male in der Stadt gesehen hatte; zweifellos aber war er nicht als Kostümierter bei ihr im Hause gewesen.

»Sprechen wir jetzt über die Geschäfte, Kaljabin. Sie werden von der Partei abkommandiert.«

»Wohin?«

»In eine andere Stadt.«

»Und die Fabrik? Sie machen da Abzüge, wenn man die Arbeit schwänzt.«

»Die werden Ihnen von der Partei ersetzt. Auf drei Tage ist Ihre Reise berechnet. Ablehnen darf man nicht. Verstanden?«

»Wohin soll ich denn fahren, Nikodim Alexandrowitsch?«

»Das erfahren Sie bei der Erteilung des Auftrages. Ich muß jetzt fort. Also bis Sonnabend.«

Petrowskij ließ sein Glas halb geleert stehen und ging, in seine Gedanken vertieft, ohne sich von Afonka zu verabschieden. Dieser sah ihm nach und wunderte sich, daß ihm der Student nicht einmal die Hand gegeben hatte. Solche Zerstreutheit könne nicht ohne Grund sein … Afonka erinnerte sich, daß Petrowskij mehrmals das Gespräch auf die kleine Fenja gebracht, Fragen gestellt hatte. Dahinter mußte irgend etwas stecken, vielleicht hatte Fenja zu Petrowskij über ihn gesprochen; doch was hatte sie denn von ihm erzählen können? … Es war ärgerlich, daß er verreisen sollte und nicht ablehnen durfte; zugleich kam ihm der Gedanke, daß Petrowskij ihn vielleicht absichtlich aus Petersburg entfernen wollte. Seine Eifersucht wurde noch quälender. Er mußte immer an Fenjas unerwarteten Kuß denken, diesen rein menschlichen Kuß. Ein Kuß anderer Art hätte vielleicht keinen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, wie dieser schlichte, von Herzen kommende Kuß aufrichtiger Dankbarkeit. Sie hat ein gutes Herz, hatte er freudig empfunden. Das Körperliche war entschwunden, das Seelisch-Schöne allein blieb zurück und ließ seinen Stern von Bethlehem noch heller erstrahlen. Die Berührung ihrer reinen Menschlichkeit hatte seine Seele geläutert, und die Berührung ihrer Hände und Finger, als sie ihm mit einem Streifen ihres Unterrocks die Schulter verband, eine solche Seligkeit in ihm ausgelöst, wie keine Liebkosung sie ihm hätte geben können. Kein Glück ließ sich mit dem einfachen Empfinden vergleichen, das ihn bei der Berührung ihrer warmen Hände durchdrungen hatte; er wäre bereit gewesen, sich zum Krüppel schlagen zu lassen, um noch einmal die schmerzstillende Samariterhand der kleinen Fenja zu spüren.

Vielleicht hatte dieses kraftstrotzende Tier zum erstenmal in seinem Leben das Gefühl tieferer Menschlichkeit erlebt, vielleicht nur einen Augenblick lang – und das in jener Stunde, als er mit vielen anderen, Hoffnung im Herzen, Kugeln entgegengeschritten war und unter der bitteren Enttäuschung gelitten hatte. Da hatte sie ihn wieder aufgerichtet; der Mensch, dem er das Leben gerettet, hatte Hoffnung und Glaube an ein besseres Leben, an seine Wahrheit, an jene Menschen, denen er um dieser Wahrheit willen dienen wollte, wieder aufleben lassen. Heller als je strahlte sein Stern von Bethlehem!

 

Petrowskij ging aus dem Wirtshaus geradeswegs zu der kleinen Fenja, um das wirre Rätsel zu lösen. Wie immer empfing ihn Fenja mit der Frage:

»Wollen Sie essen, Nikodim Alexandrowitsch? Trinken Sie Tee?«

»Ich komme aus der Bierstube, habe Bier getrunken, wieder mit Kaljabin.«

»Haben Sie Hunger? Ich habe von Hause ein Eßpaket erhalten.«

Ohne auf seine Einwände zu achten, legte sie ihm allerlei appetitliche Sachen auf den Teller, den sie vor ihn hingestellt hatte, goß ihm warmen Tee ein und kuschelte sich darauf mit untergeschlagenen Beinen in die Diwanecke, die Schultern in einen gehäkelten Schal gehüllt, und sah zu, wie er anfangs zögernd und gleichsam unwillig, dann aber mit immer wachsendem Genuß sich über die schönen Dinge hermachte, die vor ihm standen. Er fragte sie nach der Stimmung auf der Hochschule.

»Davon weiß ich nichts, Nikodim Alexandrowitsch, das habe ich Ihnen schon tausendmal gesagt. Sie brauchen mich gar nicht danach zu fragen. Ich bin nicht hergekommen, um mich an irgendeiner Ihrer Parteien da zu beteiligen, sondern um zu leben und fröhlich zu sein, nur daß ich nicht recht weiß, wie man das macht. Wenn nur Onkel Kirja hier wäre! … Allein wage ich mich nicht hervor, mag nicht einmal allein ins Theater gehen, und Sie gehen ja nicht mit mir, haben niemals Zeit, sind immer mit Ihrer Parteiarbeit beschäftigt. Und mein Studium – es ist fast wie im Lyzeum, am liebsten ließe ich mir wieder von einem Hauslehrer Nachhilfestunden geben, wenn das nicht lächerlich wäre. Eigentlich langweile ich mich dabei …«

»Schämen Sie sich, Fenja; Blut ist geflossen, Ihnen aber ist es ganz einerlei. Menschen werden in der Mandschurei hingeschlachtet, Ihnen ist es einerlei. Die Arbeiter verkommen unter den menschenunwürdigen Verhältnissen, Ihnen aber ist es einerlei.«

Er hatte seinen Tee ausgetrunken und setzte sich zu ihr auf den Diwan. Ein wenig vornübergebeugt, grübelte er, wie er ihr näherkommen, tiefer in sie hineinschauen könnte.

»So belehren Sie mich eines Besseren, Nikodim Alexandrowitsch, vielleicht lerne ich dann auch Ihre Sache lieben. Ich bin hergekommen, um das Leben kennenzulernen und mich zu vergnügen, und nun weiß ich nicht einmal, wie ich das anfangen soll.«

»Sie müssen das Leben fühlen lernen, dann werden Sie es auch lieben. Man kann einen Menschen über das Leben nicht belehren, wenn er es nicht überall und in allem als sein Leben fühlt.«

Gleichsam als hätte ihn ihr Lebensdurst tiefer ergriffen, als verstehe er, daß der Mensch nicht immer das Leben in sich und sich im Leben als Teil einer ewigen Bewegung empfinden könne, neigte er sich zu ihr, ergriff ihre unter dem Schal verborgenen Hände, zog sie an sich, drückte sie mit seinen breiten derben Händen, so daß auch Fenja sich zu ihm hinbeugte und ihm unruhig in die nachdenklichen, ernsten Augen blickte.

»Fenja, wie könnte ich Sie leben lehren? Wie? … Lieben Sie jemand, vielleicht werden Sie durch die Liebe auch das Leben lieben lernen … Lieben Sie selbstvergessen …«

Stumm fühlt der Mensch, was in solchen Worten verborgen liegt; auch spürte die kleine Fenja, daß er ihre Hände stärker drückte und, vielleicht ohne es selbst zu wissen, sie langsam immer näher an sich zog. Sie blickte ihn an; in seinen Augen, die prüfend und ohne zu blinzeln – nur leise bebten die Lider – auf sie gerichtet waren, sprühten Fünkchen. Sie dachte nicht über seine Worte nach, sie kämpfte noch mit sich, als er sie plötzlich entschlossen an sich zog. Diese Bewegung entschied ihr Schwanken; willenlos überließ sie sich ihm. Sie atmete tiefer, ihr Herz schien zuweilen im Schlage auszusetzen, um dann um so heftiger zu pochen, was unheimliche Schauer durch ihren Körper jagte. Seit jenem Abend, da sie, von Afonka nach Hause gebracht, ermattet auf ihr Bett gesunken und darauf gewartet hatte, daß Petrowskij herantreten und sie nehmen würde, Leib und Seele, lag es wie ein Druck über ihr – die Schwere von etwas Unausgesprochenem, das eben das wichtigste im Leben war.

»Lieben Sie mich, Fenja …«

Über sie gebeugt, küßte er sie; ihre Hände hatte er freigegeben und sie umarmt.

An das Rückenpolster des Diwans gelehnt, halb liegend, schlang sie die Arme um seinen Hals und erwiderte stumm seine Küsse, bereit, sich ihm hinzugeben, sehnsüchtig auf den Augenblick wartend, da sie, die Lider gesenkt, unter seiner Liebkosung erzittern würde, bis das Herz, müde und befriedigt, langsamer und leiser schlug …

Petrowskij küßte sie zärtlich, spürte aber nicht, daß sie ihm entgegenstrebte, weil sein Kopf, durch seine bohrenden Gedanken in Anspruch genommen, klar blieb; er wollte das Rätsel lösen.

»Liebst du mich?«

»Fühlst du es nicht? …«

Stürmisch zog er sie an sich, riß aber gleich wieder, wie aus einer Betäubung erwachend, seine Lippen von ihrem Munde.

»Fenja, warum hat dich auf dem Bahnhof in Moskau die Begegnung mit Kaljabin so erschreckt? Du hast mir nichts Näheres darüber gesagt; vielleicht tust du es jetzt?«

Noch immer erwartungsvoll, aufgelöst, schmiegte sie sich an ihn und flüsterte:

»Rette mich vor ihm, rette mich! Ich weiß selbst nicht, warum ich ihn fürchte …«

Als läge die Rettung darin, daß sie sich Nikodim hingab, als hoffte sie, durch die Verschmelzung mit ihm von der drückenden Angst vor Afonka erlöst zu werden, umschlang sie den Geliebten noch fester und suchte selbst nach seinen Lippen.

»Er verreist bald.«

»Wohin?«

»Im Auftrage der Partei.«

»Auf immer?«

»Auf drei Tage.«

Noch zärtlicher, noch inniger schmiegte sie sich an Nikodim.

»Könnte man es nicht so einrichten, daß er auf längere Zeit fort muß, auf immer? …«

»Ich weiß nicht …«

»Tu es, tu es, um meinetwillen …«

»Warum, Fenja? Ist etwas zwischen dir und ihm vorgefallen? Warum hat es dich so erschreckt, ihn als Mönch vermummt zu sehen? … Er war ja wirklich Mönch, trägt auch den Parteinamen ›Mönch‹. Warum liegt dir daran, daß er aus Petersburg verschwindet?«

Vielleicht war es nur das eine Wort »Mönch«, was die kleine Fenja jäh ernüchterte. Die Erinnerung an Nikolai überkam sie, die Ahnung, daß Nikodim etwas gehört haben mußte, offenbar aber etwas sehr Unbestimmtes, da es Afonka war, der seine Unruhe erregte; darum wollte er um ihre Vergangenheit wissen. Gleichzeitig gedachte sie des unerträglichen Schmerzes unter dem Messer des Arztes damals und rückte von Nikodim ab.

»Laß einen Augenblick, ich sitze unbequem …«

Sie blieb kalt und verschlossen, trotzdem er sie wieder umarmte, ließ sich nur widerstrebend küssen, stand bald auf, ohne auch nur auf eine seiner Fragen geantwortet zu haben, und sagte ruhig, während sie ihr Haar in Ordnung brachte:

»Ich werde mich ruhiger fühlen, wenn er nicht hier ist. Wenn du kannst, erfülle meine Bitte.« Sie blickte auf die Uhr. »Wie spät es schon geworden ist, elf Uhr. Die Wirtin wird wieder unzufrieden sein.«

Als Petrowskij sich im Vorzimmer verabschiedete, fragte er:

»Wirst du zu mir kommen, wenn Kaljabin fort ist?«

»Falls er auf längere Zeit verreist, ja.«

Als die kleine Fenja in ihr Zimmer zurückkehrte, lachte sie laut auf. Beim Einschlafen fühlte sie sich nicht verletzt, wie an jenem ersten Abend; sie zürnte ihm, weil er sie auch diesmal nicht verstanden, sie nicht hatte lieben wollen, wie sie war, nicht gespürt hatte, daß das Weib, das Liebe bereits erkannt hatte, in ihr erwacht war.

 

Auch Petrowskij lag grübelnd in seinem Bett, dachte an Afonka, fühlte noch Fenjas Lippen auf den seinen und ihre zärtlichen Arme um seinen Hals und bedauerte, daß es so gekommen war, daß er sie nicht genommen hatte. Wenn sie heute sein geworden wäre, schien ihm jetzt, so hätte sie ihm wohl alles über Afonka erzählt. Er beschloß, bei der Partei einen Auftrag an Afonka auszuwirken, der diesen längere Zeit von Petersburg fernhielt, und sich in seiner Liebe zu der kleinen Fenja über alle Hemmungen hinwegzusetzen; wenn sie zu ihm kam und sein geworden war, würde sie ihm aus eigenem Antrieb alles sagen.

 

Als er am Sonnabend in der Bierhalle mit Kaljabin zusammentraf, erklärte er ihm in trockenem Geschäftstone:

»Kommen Sie morgen nach der Selenina Straße, um Flugblätter und Drucktypen in Empfang zu nehmen, die Sie dem Werkmeister Stepan Gruschin auf Drakins Fabrik abliefern. Hier haben Sie Geld, unterzeichnen Sie die Empfangsbescheinigung. Als Zeichen besonderen Vertrauens erhalten Sie außerdem den Auftrag, die auf dieser Liste genannten Genossen aufzusuchen, die Ihnen Briefe übergeben werden; die Briefe stecken Sie in einen gemeinsamen Umschlag, den Sie schließen und versiegeln. Das Paket wird von Ihnen abgeholt werden. Danach nehmen Sie dort eine Stelle auf einer Fabrik an; wir brauchen einen zuverlässigen Mittelsmann als Bindeglied zwischen der Provinz und dem Zentrum. Zum Herbst muß alles zum Losschlagen vorbereitet sein. Verstehen Sie, Kaljabin?«

»Ich verstehe sehr wohl, Nikodim Alexandrowitsch, warum aber soll ich plötzlich dort bleiben? Ich bin aus unserer Heimatstadt gewissermaßen geflohen, und nun soll ich wieder dahin zurück? …«

»Da läßt sich nichts machen, Kaljabin. Ich habe Ihnen bereits gesagt, die Partei erweist Ihnen als einem zuverlässigen Parteigenossen besonderes Vertrauen durch die Erteilung dieses Auftrages, der Sie auf einen verantwortungsvollen Posten stellt. Die Folgen einer Ablehnung sind Ihnen wohl klar?«

»Na schön, Nikodim Alexandrowitsch, ich will mich fügen. Es sieht aber so aus, als schickten Sie mich absichtlich von hier fort; warum nur? …«

Sie vermieden es, einander in die Augen zu sehen; obwohl durch die gemeinsame Arbeit verknüpft, fühlten sie, daß sie Feinde waren.

»Leben Sie wohl, Kaljabin; ich wünsche Ihnen Erfolg. Auf den Bahnhof begleitet Sie der ›Schuster‹.«

»Wozu ist denn ein Begleiter nötig? … Zweifeln Sie etwa daran, daß ich abreisen werde?«

»Der Ausschuß hat es so bestimmt. Leben Sie wohl.«

 

Afonka beschloß, den Auftrag auszuführen, aber um keinen Preis in seiner Heimatstadt zu bleiben, die er verlassen hatte, um seinem Stern von Bethlehem näher zu sein.

Am Tage nach Afonkas Abreise erhielt die kleine Fenja einen Brief von Petrowskij, in dem er sie bat, ihn am Abend zu besuchen; in einem P. S. teilte er ihr noch mit, daß Kaljabin abgereist sei und wohl überhaupt nicht mehr nach Petersburg zurückkehren werde; ihre Bitte sei erfüllt.

Sie wußte, weshalb Nikodim sie zu sich bat, und ging hin, hatte aber das Empfinden, daß sie sich an diesem Abend durch nichts bewegen lassen würde, sich ihm hinzugeben. Vielleicht später einmal, wenn es sich von selbst so machte. Es war nur ein unbestimmtes Gefühl; sie konnte nicht voraussehen, was geschehen würde, denn sie liebte ihn ja. Alles in ihr war ruhig und klar, als sie zu ihm ging, auch die glühendste Liebkosung würde sie nicht erschüttern.

Sie trat ein, gefaßt und still. Petrowskij hatte sie erwartet und öffnete selbst.

»Da wär' ich denn bei dir.«

Auch Petrowskij, aus seinem Entschluß heraus, begegnete ihr sicher, obwohl die Erwartung des Kommenden ihn erregte. Wie zwei gute Freunde plauderten sie den ganzen Abend über von ihrer Heimatstadt, von gemeinsamen Bekannten und Freunden, doch machte sich eine gewisse Spannung, etwas Unausgesprochenes, ja Unaufrichtiges fühlbar und eine besondere Innigkeit infolge der schmerzlichen Hemmungen. Um zehn sagte Fenja, sie wolle nun gehen; da trat Petrowskij auf sie zu und umarmte sie.

»Geh nicht fort, Fenja.«

»Warum nicht?«

»Bleib heute bei mir … Ich möchte mit dir zusammen sein.«

»Weshalb, Nikodim? …«

»Verstehst du denn nicht? …«

»Ich verstehe, ich weiß; ich will bleiben, aber du sollst nichts fragen; es gibt keine Vergangenheit, es gibt nur eine Gegenwart, nur den heutigen Tag, nur meine Liebe zu dir. Wenn du das verstehen kannst, wenn du mich lieben kannst, so wie ich bin, so wie du mich vor dir siehst, will ich bleiben, will ich dein sein; dann laß uns zusammen an unserer Zukunft bauen.«

Während sie sprach, schmiegte sie sich zärtlich an ihn und wäre wohl geblieben, wenn er sie nicht wieder mit Fragen bedrängt hätte.

»Fenitschka, Liebste, so versteh doch! Siehst du, wenn man einen Menschen durch und durch kennt, wenn sein ganzes Leben offen und klar vor einem liegt, dann erst ist man seiner ganz sicher, dann sind keine heimlichen Zweifel mehr möglich. Ich bin kein Unmensch, es liegt mir fern, auf deine Vergangenheit eifersüchtig zu sein, aber siehst du, ich würde es als schmerzlich empfinden, würde mich vielleicht mein Leben lang verletzt fühlen, wenn in dieser Stunde etwas Fremdes, Unausgesprochenes zwischen uns bliebe, wenn deine Seele sich mir nicht vertrauensvoll öffnete.«

»Genügt es dir denn nicht, daß ich dich liebe und dich nicht nach deiner Vergangenheit frage? Ich liebe den, der du jetzt bist, nicht den, der du vielleicht einmal warst. Und ich bin aus freiem Antrieb zu dir gekommen und wußte doch, weshalb ich kam. Willst du mich so, wie ich bin?«

Sie schmiegte sich an ihn, als wollte sie sagen, er solle sie nicht von sich stoßen, nachher würde es vielleicht zu spät sein, dann würde sie vielleicht niemals wiederkommen, wie sehr sie ihn auch liebte … Beide schwiegen, als warteten sie darauf, wer nachgeben, wer sich ergeben würde. Wohl eine Minute saßen sie stumm aneinandergeschmiegt und fühlten, daß keiner von ihnen weichen wollte. Da stand Fenja auf und sagte ruhig:

»Ich bleibe heute nicht bei dir, Nikodim. Wenn es sich später einmal so fügt, will ich dein sein, aber heute nicht. Begleite mich. Es ist spät geworden und ich fürchte mich, allein zu gehen.«

Sie legten den kurzen Weg schweigend zurück. Vor ihrer Haustür fragte Nikodim:

»Darf ich dir einen Kuß geben?«

»Du weißt doch, daß ich dich liebe; warum fragst du …?«

»Und ich darf auch zu dir kommen?«

»Aber natürlich … Du dummer Junge!«

Sie kam ihm zuvor und küßte ihn zärtlich.

Ein bitteres Gefühl und das Empfinden erlittener Kränkung war in der kleinen Fenja von diesem dritten Abend zurückgeblieben, und verschwommen huschte es ihr durch den Kopf, daß sie sich ihm nicht hingeben würde, um nichts in der Welt; warum nicht, wußte sie eigentlich selbst nicht recht. Begütigend dachte sie: Vielleicht später einmal, aber jetzt nicht.

Und schon halb im Einschlafen, flüsterte sie, ohne recht zu wissen, aus welchem Grunde:

»Du dummer Junge, du dum-mer Junge …«

 


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