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4

Tränenlos geleitete er sie auf den Friedhof, wartete, bis der Hügel aufgeschüttet war, und kehrte mit seiner Mutter nach Hause zurück; an dem Totenmahl beteiligten sie sich nicht. Tagelang schloß er sich in seinem Zimmer ein und ging des Abends an ihr Grab. Er erwartete sie. Sein ganzes Leben war schmerzlich gespannte Erwartung geworden. Des Nachts betete er und harrte, und wenn er nicht schlafen konnte, richtete er den Blick ins Dunkel und hoffte, daß sie ihm erscheinen würde, in Brautschleier und Myrtenkranz, wie sie im Sarge gelegen hatte, mit durchsichtig schimmerndem Gesicht, unfaßbar in ihrer jungfräulichen Reinheit. Sie würde ihm die Hände aufs Herz legen, auf daß durch ihre Berührung das Empfinden der Zeit verwehe, sich über das Kissen beugen und ihren Bräutigam küssen, um seine Seele emporzutragen in die Gefilde der ewigen Seligkeit.

In seinen Gebeten flehte er, Gott möge ihm seinen Unglauben vergeben und ihm seine Braut erscheinen lassen. Nicht bei ihrem Namen, »meine Braut« nannte er sie immer. Und immer wieder kam ihm der Gedanke, sich von der Welt zurückzuziehen und Zuflucht in der Stille des Klosters zu suchen. Dort würde er sie erwarten, bis der Tod ihn für immer mit ihr vereinte. Durch ein Gespräch mit seinem Vater wurde er von dieser Absicht abgelenkt.

Unruhig verfolgten die Eltern jeden seiner Schritte. Sie fürchteten an die schmerzende Wunde zu rühren, richteten keine Fragen an ihn, suchten ihre Besorgnis zu verbergen. Des Abends, wenn er, vom Friedhof zurückgekehrt, sich zu ihnen an den Teetisch setzte, verbarg der Vater das Gesicht hinter seiner Zeitung, während die Mutter sich in stummen Selbstanklagen verzehrte, durch eifriges Schlucken die aufsteigenden Tränen zurückdrängend. Sie hatte dieses Leid heraufbeschworen, ihren Einzigen dieser Qual ausgesetzt, wo sie doch von Anfang an das Törichte ihrer Hoffnung auf eine Wunderwirkung der Liebe hätte einsehen müssen …

Wie zufällig sagte der Vater einmal:

»Also nun geht's bald nach Petersburg? …«

Da dachte Boris zum ersten Male daran, daß die Bestätigung seiner Immatrikulation längst eingetroffen, die fälligen Beträge abgesandt seien und er sich nun wirklich über die Zukunft entscheiden müsse; ob er der Welt den Rücken kehren oder, in der Welt bleibend, in einem Einsiedlerleben seiner Braut ewige Treue bewahren solle?

Ohne sich an jemand im besonderen zu wenden, fuhr der Vater fort:

»Eine schöne Zeit das, die Studentenjahre, die schönste Zeit des Lebens … Nie werde ich mein erstes Jahr auf der Universität vergessen. Eine neue Welt tat sich vor mir auf, als ich die ersten Vorlesungen besuchte … Es reißt einen hin, ergreift den ganzen Menschen … Damals kam mir der Wunsch, einst selbst auf dem Katheder zu sitzen. Hunderte von Augen hängen an deinem Munde, haschen nach jedem Wort wie nach einer Offenbarung.«

Boris erwog den Gedanken, sagte unbestimmt:

»Vielleicht würde auch mich jetzt die Gelehrtenlaufbahn reizen …«

Die Mutter fiel freudig ein:

»Ich wäre stolz, dich als Professor zu sehen, Borja.« Leiser fügte sie hinzu: »Gelehrte sind wie Einsiedler, ein bißchen nicht von dieser Welt.«

Der Vater sprach weiter:

»Einmal legte ich eine Prüfung im Hause eines Professors ab … Es war ein großer Tag. Ich fürchtete, laut zu sprechen, um die Stille seines Arbeitszimmers nicht zu stören, blickte andächtig auf jedes Blatt Papier auf seinem Schreibtische. Als wäre es gestern gewesen, sehe ich noch alles vor mir: ein Fenster, ein Schreibtisch, ein schwarzer Lederdiwan und – keine Wände: sie verschwanden hinter den zahllosen Büchersimsen; auf dem Tisch – ein halbgeleertes Glas starken Tees, beschriebene Bogen und das Bild eines jungen Mädchens. Weißt du, Junge, ich wollte gar nicht mehr fort …«

Das war ein Arbeitszimmer, wie Boris es sich wünschte … Als er in sein Zimmer gegangen war, sagte die Mutter zu ihrem Manne: »Wie gut du verstanden hast, den Jungen zu nehmen, Waßja, an ihn heranzukommen …«

»Er wird sich die Sache überlegen und sich entschließen, zu studieren.«

»Hoffentlich, Waßja. Wenn er auch kein anderes Mädchen liebgewinnen sollte, so wäre er doch vor dem Kloster gerettet. Er trug sich bestimmt mit dem Gedanken, Mönch zu werden …«

Boris dachte an die Worte seines Vaters, wartete sehnsüchtig darauf, daß seine Braut ihm erscheine und ihm den rechten Weg weisen möchte, und schlief zum ersten Male die Nacht durch. Beim Morgenfrühstück sagte er zum Vater:

»Ja, Papa, ich will Gelehrter werden.«

 

Die letzten Tage vor seiner Abreise verbrachte er auf dem Friedhof. In sich versunken, gab er nicht acht auf die Außenwelt. Als er eines Tages zur Kirchhofspforte schritt, zuckte er bei dem Anruf eines jungen Mädchens zusammen:

»Guten Tag, Borja.«

Es war die kleine Fenja an der Seite jenes Studenten, mit dem sie damals auf der Heimreise zu Weihnachten im Zuge bekannt geworden war.

»Ich hatte Sie nicht bemerkt, Fenja. Verzeihung.«

»Ich habe von Ihrem Kummer gehört … Ich fühle mit Ihnen …«

Der Student drückte ihm stumm die Hand. Boris fand keine Worte; wie schuldig sah er Fenja an.

»Ich wollte Sie nur begrüßen, Borja …«

Als er weiter schritt, trug ihm der Wind die Worte nach:

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie eigenartig er ist … Ganz anders als die übrigen …«

Sie bogen in einen verlorenen Weg ein, wo eine in Laub verborgene Bank stand, um sich zu küssen, bis es dunkel wurde.

 

Seit jenem Abend hatte die kleine Fenja immer wieder an Boris Smoljaninow denken müssen, obwohl sie sich noch immer gekränkt fühlte, weil er ihrer Einladung damals nicht gefolgt war. Auch seine Worte über den Stern von Bethlehem und die Weisen aus dem Morgenlande, die sich vor ihm verneigten, hatte sie nicht vergessen. Im Laufe des Winters hatte sie ihn einigemal auf der Straße getroffen, ohne daß er, in seine Liebe zu Lina und seine Sorge um sie vertieft, Fenja bemerkt hätte.

Als Fenja zu den Weihnachtsferien nach Hause gekommen war, hatte Kirill Kirillowitsch ihr infolge der Unruhen in Petersburg nicht erlaubt, in die Hauptstadt zurückzukehren; so mußte sie denn bis zum Beginn des Herbstsemesters zu Hause bleiben.

»Wenn du wenigstens ein bißchen vernünftiger wärest!« hatte Onkel Kirja gesagt. »Aber einmal bist du schon unter Kugeln und Kosakenpeitsche geraten; ich lasse dich nicht fort.«

Und an jenem Studentenabend bei ihr war sie in toller Fahrt mit wildläutenden Schellen allein nach Hause zurückgekehrt, den ganzen Abend über vor Arger reizbar und erregt gewesen.

Beim Abendessen goß sie sich und ihren Gästen die Gläser immer wieder voll und sagte nachher in ihrem Zimmer zu Walja Shurawljowa, mit der sie sich enger befreundet hatte:

»Ich will küssen, Walja … Du denkst, es kommt daher, weil ich soviel getrunken habe? Keine Spur – vor Ärger. Ich bin selbst hingefahren, um ihn zu holen, und er hat mich abgewiesen! So ein Dickkopf …«

»Smoljaninow läßt sich nicht einfangen … Er soll ja noch nie ein Mädchen geküßt haben.«

»Komm, dann küsse ich eben dich, Walja …«

Angeheitert durch den Weingenuß küßte sie die feinen Löckchen hinter dem Ohr der Freundin, was diese kitzelte, und flüsterte:

»Hast du dich schon von jemand küssen lassen?«

»Ach, bis zum Überdruß …«

»Und weiter ist nichts geschehen? …«

»Doch, in der vorletzten Klasse, mit einem Kadetten. Seitdem aber ist's bloß beim Küssen geblieben …«

»Auch mir ist's so ergangen …«

»Mit wem?«

»Das ist ein Geheimnis … Und jetzt möchte ich mich wieder küssen lassen. Und weißt du von wem? Von Smoljaninow!«

Auch Walja hatte man nicht nach Petersburg gelassen; so verbrachten denn die beiden Freundinnen die langen Winterabende zusammen. Sie gingen spazieren, saßen in Fenjas Zimmer, legten Karten.

»Was soll das Kartenlegen, Walja? Es ist ja doch niemand da, für den man sich interessieren könnte! Die Gymnasiasten habe ich satt, die wollen nichts als küssen …«

»Weißt du … Hast du nicht davon gehört? Iwina hat mir davon erzählt, es gibt hier einen Liebesbund, »Lichtstümpfchen« heißt er … Schülerinnen, Gymnasiasten und auch Husarenoffiziere nehmen teil daran … Sie kommen des Abends zusammen …«

Walja erzählte der Freundin von dem Liebesbund. Hinter der Kaserne, beinahe schon am Rande der Vorstadt habe der »kleine« Husarenkornett Igrewitsch bei einer Hebamme ein paar Zimmer für die heimlichen Zusammenkünfte der Bundesmitglieder gemietet; es sehe dort recht eigenartig aus. Breite Bänke umgäben den Tisch, auf dem große Bowlenterrinen mit einem Liebestrank ständen. Dieser Liebestrank werde von den Husarenoffizieren mit Hilfe der Hebamme gebraut; für die Eingeweihten sei es in der Hauptsache eine Kognak- und Likörbowle, für Neueintretende kämen besondere aufreizende Kräuter und Wurzeln hinzu; dieser Liebestrank werde neuaufgenommenen Mädchen in silbernen Pokalen gereicht. Darauf würde das Licht gelöscht und eine Schale mit Punsch angezündet; die ganze Nacht durch flackere das bläuliche Lämpchen auf dem Tisch – als Leuchtfeuer. Den Terrinen werde der Trank mit Schöpflöffeln entnommen, wie der Wein des heiligen Abendmahls, bis die Pärchen sich auf den Bänken zusammenfänden. Dann werde wieder getrunken und wieder geliebt. Zuletzt sinke man, eng umschlungen, in Schlaf und trenne sich erst in der Morgenfrühe. Reiche der Platz auf den Bänken nicht, so lege man sich einfach auf den Teppich hin, ohne viel zu fragen, wen die trunkenen Arme im Halbdunkel umschlingen, wen die heißen Lippen küssen. So liebe man oft an einem Abend mehrere, wen man gerade erhasche, einen nach dem anderen, und wisse bei dem häufigen Wechsel schließlich gar nicht mehr, wen man geliebt habe. Werde ein Mädchen schwanger, so nehme sich die Hebamme ihrer an. Die Gymnasiasten brächten es fertig, sogar halbwüchsige Mädel aus der fünften Klasse einzuführen, die dann von den Husaren zu Mitgliedern geweiht würden. Gemeinschaftlich sei die Liebe, gemeinschaftlich auch die Kasse; die Mitglieder hätten einen Beitrag von einem Rubel monatlich zu entrichten; wieviel der Liebestrank und die Dienstleistungen der Hebamme kosteten, sei nur den Husaren bekannt. Die übrigen Gymnasiasten seien über die Sache aufgebracht, sie hätten sogar eine besondere Versammlung einberufen und ihren Kameraden ihr unzüchtiges Benehmen vorgehalten; die ganze Stadt wisse von der Sache, doch könne man nichts dagegen unternehmen. Der Elternbeirat habe einmal einen Lehrer vom Gymnasium hingesandt, den der Kornett Igrewitsch mit der Frage im Vorzimmer empfangen habe:

»Sie wünschen, mein Herr?«

»Ich habe gehört, daß sich hier Schüler und Schülerinnen befinden.«

»Sie irren sich; Offiziere und ihre Damen feiern einen vergnügten Abend. Habe die Ehre!«

Dem Lehrer sei nichts übriggeblieben, als mit langer Nase abzuziehen. Darauf habe man die Sache der Gendarmerie gemeldet, und der Rittmeister selbst sei mit einigen Gendarmen hingegangen und ebenfalls von dem »kleinen« Kornett empfangen worden.

»Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Rittmeister?«

»Ein politischer Geheimverein soll hier tagen, Herr Kornett; ich bin beauftragt, die Angelegenheit zu untersuchen.«

Der Kornett habe seine Hand unter den Arm des Rittmeisters geschoben und ihm vertraulich zugeflüstert:

»Mit Politik befassen wir uns nicht; einige Husarenoffiziere machen sich hier mit ihren Mädeln einen vergnügten Abend. Das ist alles.«

»Trotzdem, ich muß mich durch Augenschein überzeugen.«

»Gern, Herr Rittmeister; wir werden uns freuen, Sie als Gast in unserer Mitte zu begrüßen. Bloß Ihre Leute schicken Sie nach Hause.«

Der Rittmeister sei gleich bis zum Morgen dageblieben und als aktives Mitglied in den Bund aufgenommen worden; auch werde ein unschuldiges Mädel aus der fünften Klasse eigens für ihn in Bereitschaft gehalten werden, sei ihm versprochen worden.

So hatten denn weder die Eltern noch die Polizei etwas ausrichten können; bis den Husaren der Spaß zu teuer geworden sei. Die meisten hätten sich zurückgezogen, und der Bund zerfalle allmählich …

Fenjas Augen glühten neugierig. Mit trunkenen Küssen auf den Hals, unter das Ohrläppchen, geleitete sie ihre Freundin zur Tür und flüsterte:

»Ich möchte so gerne küssen, Walja!«

»Ich auch …«

Die ganze Nacht träumte Fenja von der Erbsünde und umschlang statt Boris Smoljaninow ihr Kopfkissen. An ihn dachte sie, wenn sie über den Geheimbund nachsann. Und in ihrer Vorstellung sah sie, nach dem Genuß des Liebestrankes, ihn und sich in wollüstiger Umschlingung.

Am nächsten Morgen holte Walja sie wieder zu einem Spaziergang ab. Unterwegs sagte die Freundin geheimnisvoll:

»Ich kann dich mit einem Gymnasiasten bekannt machen, willst du? Iwina sagte, er gehöre auch zu jenen …«

Bis zum Abend sprachen und stritten die drei auf der Moskauer Straße über freie Liebe. Der Gymnasiast hatte in der Sache seine eigene Philosophie.

»Warum soll der Mensch immer nur eine lieben? Die Seele ist frei, sie begnügt sich nicht mit einem Menschen, warum sollte es der Körper tun? Die freie Liebe erschließt uns die Erkenntnis vieler Menschen …«

Am nächsten Abend brachte er einen Freund mit; man setzte sich auf eine verborgene Bank in den Anlagen und küßte sich. Darauf erzählten die beiden den jungen Mädchen unter dem Siegel der Verschwiegenheit von dem geheimen Liebesbund und führten sie hin, stolz darauf, daß sie nicht mit Schülerinnen, sondern mit Studentinnen ankamen. Igrewitsch und ein Freund von ihm vollzogen die Einführungsweihen an Fenja und Walja und brachten die Mädchen, auf deren Wunsch, noch am Abend nach Hause. Nachher trafen die beiden Freunde wieder zusammen und sahen sich lachend an:

»Das nennt man eine kleine Enttäuschung; ich hatte gedacht, es wären unschuldige Krabben! …«

»Ich würde an deiner Stelle die Grakina heiraten, Igrewitsch … Sie ist das reichste Mädel der Stadt.«

Igrewitsch selbst riet der kleinen Fenja, den Geheimbund nicht mehr zu besuchen, da ihr Onkel Kirill Kirillowitsch es erfahren könnte; er mietete ein Zimmer, in dem sie sich trafen. Als sich die Folgen des Verhältnisses meldeten, machte er ihr einen Antrag und bat sie, ihn ihrem Onkel vorzustellen. Im Theater vermittelte Fenja die Bekanntschaft und sagte am gleichen Abend zu Kirill Kirillowitsch:

»Onkel Kirja, Igrewitsch hat mir einen Heiratsantrag gemacht …«

»Was, schon? Wann ist er denn dazu gekommen?«

»Darum hat er ja mit Ihnen bekannt werden wollen.«

»Na, dann sag' ihm, daß dein Geld nicht dazu da ist, um von ihm mit seinen Liebchen verjubelt zu werden.«

Die kleine Fenja weinte nicht und regte sich nicht weiter auf, sondern bat ihren Onkel um Geld und ging zu derselben Hebamme, die den Mitgliedern des Geheimbundes mit Rat und Tat beiseite stand. Fenja verbrachte nur einen Tag bei ihr, fuhr nach Hause, schützte Kopfschmerzen vor und ging zu Bett. Sie lag einige Tage, ohne daß jemand den wahren Grund ihres Unwohlseins geahnt hätte.

Walja kam sie besuchen.

»Hol' sie der Kuckuck mit ihrem Geheimbund; ich habe mich auch gedrückt! Die wahre Lasterhöhle …«

Im Frühjahr zog es die kleine Fenja wieder ins Trübe. Aus Neugier und weil sie sich so heiß nach Küssen gesehnt hatte, war sie im Winter in den Geheimbund gegangen. Nach ihrem Bruch mit Petrowskij war eine Leere in ihr zurückgeblieben und ein verzehrendes sinnliches Verlangen in ihr erwacht. Schon auf dem Heimwege aus Petersburg hatte sie sich leidenschaftlich mit dem Studenten, ihrem zufälligen Reisegenossen, geküßt, weil es so leer in ihr geworden war und sie Vergessen und Betäubung suchte. Mit Igrewitsch brach sie kurz entschlossen, sie hatte niemals Liebe zu ihm empfunden, und als ihr Onkel ihr einiges über das Leben des Kornetts erzählt hatte, wollte sie ihn gar nicht mehr sehen. Er schrieb ihr leidenschaftliche Briefe auf parfümiertem Büttenpapier, versicherte sie seiner ewigen Liebe, verhieß ihr ein blendendes Glück und glänzende Erfolge in den Adelskreisen; es half alles nichts; die kleine Fenja antwortete ihm mit keiner Zeile.

Aber als es Frühling wurde, gärte es wieder dumpf in ihr auf.

Die Studenten waren in die Sommerferien zurückgekehrt. Fenja ging mit ihrer Freundin Shurawljowa in den Anlagen spazieren, der Musik lauschend, und traf auf jenen Studenten, mit dem sie sich im Zuge geküßt hatte. Er begleitete sie nach Hause, erinnerte sich seiner Rechte von der Reise her und küßte sie in der Dunkelheit. Bald hatten sie heraus, was sie bei Frühlingserwachen voneinander wollten, redeten eine Woche lang über Liebe, küßten sich des Abends auf verborgenen Bänken und fuhren dann in das Wäldchen vor der Stadt. Gegen Mitternacht kehrten sie erschöpft zurück.

Die kleine Fenja fürchtete jetzt keine Folgen; die Hebamme hatte ihr ein sicheres Mittel empfohlen: Chinin während eines warmen Bades vor dem Unwohlsein.

Den ganzen Sommer über hielt sie es mit ihm; sie besuchten zusammen das Wäldchen vor der Stadt, fuhren Boot, lauschten den Nachtigallen auf dem Friedhof. Allmählich aber verlor dieses Verhältnis seinen Reiz und begann sie zu langweilen.

Dann traf sie Smoljaninow auf dem Friedhof.

Walja Shurawljowa hatte ihr von ihm erzählt. Die ganze Schuljugend sprach begeistert über seine Liebe zu Lina Gurnowa. Fenja wäre gern mit ihm zusammengekommen. Jenes Gespräch auf dem Studentenball, als er ihr von dem Stern von Bethlehem erzählt hatte, konnte sie nicht vergessen. Wenn sie mit ihrem Studenten auf den Friedhof ging, sah sie Boris oft an Linas Grab sitzen, die Stirn in die Hand gestützt. Ihrem Verehrer gegenüber war Fenja jetzt zerstreut und kam schließlich nicht mehr zu den vereinbarten Zusammenkünften. Damit endete ihr Roman, ohne Tränen und Vorwürfe. Der Frühling war längst vergangen, der Herbst stand vor der Tür, bald mußte man zurück auf die Hochschule; da war es an der Zeit, zur Vernunft zu kommen. Das sahen die beiden ein und trennten sich friedlich.

Der Herbst brach an, und nach dem schwelenden ausschweifenden Leben stellte sich Schwermut, eine Art moralischen Katzenjammers, bei der kleinen Fenja ein. Wieder war eine quälende Leere in ihr, die nur durch eine schwärmerische Sehnsucht nach Smoljaninow belebt wurde.

Als sie bei ihrer Abreise nach Petersburg zum Semesterbeginn auf dem Bahnhof von ihrem Onkel Kirja Abschied nahm, sagte sie halb im Scherz zu Kirill Kirillowitsch:

»Onkel Kirja, in diesem Jahr bringe ich mir einen Bräutigam aus Petersburg mit.«

»Dann feiern wir fröhliche Hochzeit.«

 


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