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Nach einigen Tagen stand Lina wieder auf; der Blutsturz hatte eine Erleichterung, ja scheinbar eine Besserung gebracht; sie hustete ohne Auswurf und wiederholte immer wieder:
»Paß auf, Borja, jetzt werde ich bald gesund! Ich fühle mich schon viel besser und habe gar keine Schmerzen mehr. Ich weiß auch, woher das kommt … Soll ich es dir sagen?«
»Ja, Liebling, sage es mir.«
»Weil wir zusammen gebetet haben. Gott hat unser Gebet erhört. Ich bete jetzt immer für uns beide und bitte Gott, dir zu vergeben. Du hast an ihn nicht geglaubt, er aber hat dein Gebet trotzdem erhört. Glaubst du jetzt an ihn? Betest du?«
»Ich weiß nicht, Lina, vielleicht … Gestern habe ich gebetet.«
»Borja! Du hast gebetet?!«
»Ja, Lina. Wenn Gott allmächtig ist, wird er ein Wunder geschehen lassen. Wenn es Gott gibt, gibt es auch Wunder. Und ich flehe zu ihm um ein Wunder.«
»Laß uns zusammen beten, jeden Abend.«
»Es wird dich aufregen, Lina.«
»Nein, jetzt nicht mehr. Das war nur beim ersten Male so. Und das mußte wohl so sein, damit das Blut kam: das war ein Zeichen von ihm.«
Jeden Abend beteten sie zusammen. Es fiel Lina schwer, niederzuknien, so betete sie sitzend im Bett; er legte den Arm um ihre Schultern, um sie zu stützen; das heilige Lämpchen warf einen sanften Lichtschein in das stille Zimmer, auf die Liebenden.
Boris' Seele fand Trost und Ruhe, wenn er die schlichten Worte des jungen Mädchens nachsprach; mit dem inbrünstigen Gebet erwachte in ihm der Glaube.
Glücklich über seine Liebe, machte er sich auf den Heimweg, sah unterwegs zu den Sternen auf und wiederholte die Worte, die er soeben zusammen mit Lina gesprochen hatte. Zu Hause kniete er vor dem Fenster nieder, um die Sterne sehen zu können, flüsterte von seiner Liebe, von seinem Glück, flehte Gott an, ihm Lina zu erhalten, und Glaube und Unglaube bekämpften sich.
»Wenn du bist, wirst du mich erhören … Ich will, daß du bist, ich will an dich glauben … Man ist nur einmal glücklich im Leben, gönne mir dies Glück … Laß ein Wunder geschehen. Hast du nicht Wunder gewirkt, als du auf Erden warst? Hast du des Jairi Töchterlein nicht vom Tode auf erweckt? Und Lina lebt ja noch! Laß sie nicht sterben …«
Olga Grigorjewna bat ihn:
»Borja, küssen Sie Lina nicht. Es erregt sie so, daß sie nachher in der Nacht unaufhörlich hustet und vor Schwäche so in Schweiß gerät, daß ich ihr die Leib- und Bettwäsche wechseln muß. Ich fürchte jeden Augenblick, daß wieder ein Blutsturz eintreten könnte.«
»Jawohl, Olga Grigorjewna, ich will es nicht mehr tun.«
»Einen kurzen Kuß hier und da einmal können Sie ihr schon geben, ich will ihr dies Glück nicht verwehren. Aber nicht das viele Küssen …«
Bekümmert, leidend, kehrte er nach Hause zurück, betete bei dem sanften Schein des heiligen Lämpchens, das er sich auf ihre Bitte hin gekauft hatte, und sein Gebet war nicht mehr fordernd, war demütig und ergeben. Je öfter und inniger er betete, desto mehr festigte sich sein Glaube. Immer aufs neue wiederholte er: »Herr, laß uns unser Glück … Du kannst es ja …«
Wieder trat ein Blutsturz ein, wieder wurde in der Nacht der Arzt geholt.
»Sagen Sie, Herr Doktor, ist noch Hoffnung vorhanden?«
»Ich muß es Ihnen sagen, Olga Grigorjewna; ich fürchte, keine.«
»Sie wird sterben? … Bald? …«
»Es ist nichts mehr von den Lungen übriggeblieben … Vielleicht in vierzehn Tagen …«
Am nächsten Morgen kam Boris und kniete den ganzen Tag bis zum Abend an ihrem Bett, küßte ihre Hände, die Finger, die weißlichen Nägelchen. Sie richtete sich in den Kissen auf; noch durchsichtiger schien sie in dem weißen Häubchen.
»Mir fallen die langen Haare so lästig, ich will sie scheren lassen, Borja … Wenn wir auf die Hochschule fahren, komme ich gleich als richtige Studentin an … Und meinen Zopf schenke ich dir. Weißt du noch, du sagtest einmal, mein Haar sei weiß wie Reif. Willst du es haben?«
Als der Friseur wieder fortgegangen war, fragte sie bang:
»Wirst du mich denn jetzt auch noch lieben, Borja?«
»Ach Gott, Lina …«
»Dann küsse mich, küsse mich ganz fest, damit ich fühle, daß du mich noch liebst.«
Er berührte kaum ihre Lippen und sank wieder auf die Knie. Bekümmert sah sie ihn an.
»Du hast mich heute noch kein einziges Mal ordentlich geküßt!«
»Es ist dir schädlich, Linotschka. Wenn du erst wieder gesund bist, dann …«
»Dann, dann … Mama hat dir wohl verboten, mich zu küssen, ja?«
Nach dem Mittagessen, als die Dämmerung herabsank, beteten sie wieder zusammen.
»Borja, willst du mir eine Bitte erfüllen? Versprich es mir.«
»Ja, ich verspreche …«
»Ich habe Mama so oft gebeten, mit mir nach unserem Rjabinki zu fahren, wenn auch nur auf einen Tag … Ich möchte in unserer Kirche beten … Es sollte nicht sein … Hier in der Stadt gibt es aber eine Kirche, die Himmelfahrtskirche, die ist wie unsere Dorfkirche. Ich kann jetzt nicht hin, geh du statt meiner, Borja, und bete dort, und ich will hier zu Hause beten, morgen früh. Bete für das Heil des Bräutigams und der Braut, der Knechte Gottes Boris und Jelena. Ich bin doch jetzt deine Braut, Borja?«
»Ja, du bist meine Braut … Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal in einer Kirche war, aber morgen früh will ich hingehen und für dich beten; und ich bringe dir ein Weihbrot mit.«
Die Mutter kam mit der Lampe.
»Linotschka, sitz nicht im Bett; lege dich hin. Sieh, wie erschöpft du bist.«
»Gut, Mama, aber du mußt mir erlauben, daß Borja mich küßt, dann will ich mich hinlegen. Er wird mich in deiner Gegenwart küssen. Borja ist doch mein Bräutigam, Mama … Nur einmal …«
Sie umschlang seinen Kopf, so fest sie konnte, und wollte ihn nicht wieder freigeben, flüsterte, der Mutter freudig und verschmitzt zulächelnd:
»Noch einmal, Borja … Mama hat es ja erlaubt …«
Dann sagte sie beglückt, an die Mutter gewandt:
»Ich habe ihn ja nur einmal geküßt, Mama, nur ein einziges kleines Mal … Ich werde ihn jetzt immer in deiner Gegenwart küssen; wenn du dabei bist, darf ich es doch? … Was bin ich für ein glückliches Mädchen, Mama!«
Im Vorzimmer flüsterte Olga Grigorjewna Boris zu:
»Heute Nacht mußten wir wieder den Arzt rufen lassen, es ging ihr sehr schlecht. Der Doktor sagt, Linotschka würde nur noch vierzehn Tage leben.« Sie brach in Tränen aus. »Ihr armen Kinder … Sie möchte so gern leben … Zum erstenmal hat sie sich heute deine Braut genannt …«
Verzweiflung und Hoffnung kämpften in Boris' Seele, und je stärker seine Verzweiflung wurde, umso inbrünstiger betete er, bemerkte nicht, wie er stundenlang vor dem Heiligenbild kniete. Seine Braut, hatte sie gesagt; und jetzt war sie wirklich seine Braut, hatte er sie doch in Gegenwart ihrer Mutter geküßt. Früher hatte er gar nicht daran gedacht, jetzt aber, da sie sich selbst seine Braut genannt hatte, schien sie ihm noch näher, noch teurer geworden zu sein …
Während der ganzen Frühmesse betete er voller Inbrunst, glücklich in dem Gedanken, daß auch sie, seine Braut, gleichzeitig zu Gott betete.
Als er am Abend von Lina nach Hause kam, fragte ihn seine Mutter:
»Wohin bist du heute morgen so früh gegangen, Borja?«
»Zur Frühmesse.«
»Du bist zur Kirche gegangen? …«
»Lina hatte mich darum gebeten …« Traurig fügte er hinzu: »Gestern war ihr wieder sehr schlecht; heute fühlte sie sich besser. Ich glaube daran, daß ein Wunder geschehen wird. Im letzten Augenblick wird Gott ein Wunder geschehen lassen.«
»Es freut mich Borja, daß du für sie betest … Wenn sie uns genommen wird, läßt sie dir ihren Glauben zurück. Du glaubtest nicht an Gott, da hat er dir eine Prüfung auferlegt, hat dir Liebe und Glück gegeben, und da du den Weg zu ihm gefunden hast, nimmt er dir deine Linotschka wieder, als Strafe für deinen Unglauben … Das ist die Prüfung, die er dir gesandt hat …«
»Als deine Braut nimmt er sie zu sich, um euch erst da oben zu vereinen …«
In den letzten Tagen verbrachte er zuweilen auch die Nacht im Gurnowschen Hause. Er schlief auf dem Diwan im Saal, wachte oft auf, hörte sie endlos husten. Wenn es wieder still wurde in ihrem Zimmer, betete er von ganzer Seele, immer noch glaubend, daß Gott im letzten Augenblick ein Wunder geschehen lassen würde. Aber vielleicht wollte Gott ihn wirklich, wie seine Mutter gesagt hatte, um seines Unglaubens willen strafen, hier auf Erden, um ihm im Himmel ein vollkommenes Glück zu bereiten …
Einen Tag vor ihrem Tode, als beide zusammen wie immer im Flüsterton beteten, sagte Lina:
»Morgen werde ich sterben, Borja.«
»Nein, Linotschka, du wirst nicht sterben … Du bist doch meine Braut …«
»Ich fühle, daß ich morgen sterben werde, Liebster. Sei nicht bange … Ich werde auch dort an dich denken und als deine Braut auf dich warten. Und wenn du kommst, will ich dich zu ihm führen und sagen: Er glaubte an dich, Herr; vergib ihm, daß er gezweifelt hatte …«
Sie verstummte, sann vor sich hin … Dann sagte sie in leisem, kaum noch vernehmbarem Flüsterton:
»Setz' dich zu mir aufs Bett, Liebster … So … Glaubst du jetzt an ihn?«
»Ja, ich glaube an ihn.«
»Umarme mich, Borja … Küsse mich noch einmal, da wir allein sind … Zum letzten Male im Leben … Du brauchst nichts zu fürchten … Heute wird nichts mit mir geschehen … Küsse mich ganz fest, ganz fest …«
Sie umschlang ihn; ihre kraftlosen Arme schienen ihm schwer und lastend; ihre schwachen Hände suchten seinen Kopf an ihre Wange zu drücken. Mühsam ging ihr Atem … Glücklich, mit strahlenden Augen, flüsterte sie:
»Borja, willst du, daß ich zu dir komme? … Glaubst du an das ewige Leben?«
»Ich weiß nicht, Lina … Ich habe niemals darüber nachgedacht.«
»Würdest du wünschen, daß ich komme?«
»Ja, Geliebte.«
»Ich werde kommen … Bestimmt … Erwarte mich … Ich werde kommen und dich küssen, damit du weißt, daß ich dich auch dort liebe … Wirst du auf mich warten? …«
»Ja, mein Leben lang …«
»Ich fürchte den Tod nicht … Ich sterbe, glücklich durch deine Liebe … Ich bin deine Braut, und als deine Braut werde ich ewig leben. Ich bin glücklich, Liebster … Küsse mich noch einmal, zum letztenmal, und dann geh nach Hause … Warte, ich will dich bekreuzigen, Liebster, und du bekreuzige auch mich …«
Sie bekreuzigten einander. Mit Mühe die krampfhaft aufsteigenden Tränen zurückdrängend, zog er sie an sich, als wollte er sie dem Grabe entreißen, und küßte sie auf die Lippen, während sie mit den kraftlosen Fingern wieder suchte, seinen Kopf an sich zu ziehen. Erschöpft sank sie in die Kissen zurück, flüsterte:
»Ich werde zu dir kommen, Borja … Erwarte mich …«
Als er zögerte, von banger Ahnung bedrängt, winkte sie ihm mit der Hand zu, lächelte freudig, hauchte:
»Geh, Liebster; ich werde zu dir kommen.«
In der Nacht fuhr er mehrmals unruhig aus dem Schlaf auf und wiederholte flüsternd ihre Worte: »Ich werde zu dir kommen …« Als zur Frühmesse geläutet wurde, schreckte ihn ein lautes Klingelzeichen im Vorzimmer aus dem Halbschlummer. »Sie ist gestorben«, huschte es ihm durch den Kopf; hastig eilte er hinaus. Es war das Dienstmädchen der Gurnows.
»Ist sie gestorben? …«
»Noch nicht. Das Fräulein bittet, Sie möchten schnell hinkommen.«
Die Kranke hatte in der Nacht wieder einen Blutsturz erlitten. Erst als der Tag dämmerte, war sie ruhiger geworden und hatte die Mutter gebeten, sie in den Kissen aufzurichten und das Fenster zu öffnen, damit sie das Glockengeläut besser hören könne.
»Es klingt wie bei uns in Rjabinki … Schicke nach Boris, Mutter …«
Als im Vorzimmer die Glocke anschlug, flüsterte sie:
»Da ist mein Borja …«
Olga Grigorjewna ging Boris entgegen.
»Geh hinein zu ihr, Borja … Ich kann nicht mehr … Ich warte nebenan …«
Er trat auf die Kranke zu, wollte etwas sagen, sie hauchte kaum vernehmbar:
»Sprich nicht, setz' dich …«
Mit den Augen wies sie neben sich.
»Ich sterbe, Borja …«
Sie fürchtete, sich zu regen, um das leise verhallende Herz nicht zu stören, sagte bloß mit den Lippen:
»Deine Hände …«
Ohne zu blinzeln schaute sie mit unbeweglichem Blick über seinen Kopf hinweg in die Ferne. Er fühlte ihre kalten trockenen Hände schwer in den seinen liegen, sah die blauen Augen langsam erstarren. Im letzten Augenblick aber schien ihm, als glitte ein glückliches Lächeln über ihr ganzes Gesicht, ja ihre Lippen schienen sich zu bewegen, und er meinte zu hören:
»Geliebter …«
Die blutlosen Lippen schienen noch etwas sagen zu wollen, kamen aber nicht mehr dazu; ihr Kopf zuckte, sank leise auf die Seite.