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Wir sehen drei leicht gekleidete junge Männer dem Wäldchen von Ermenonville zuschreiten. An ihrer Kleidung läßt sich trotz aller Nonchalance des Reisenden jene ungesuchte Eleganz sehen, die geschmackvolle Menschen niemals verleugnen können.
Alle drei sind junge ungarische Kavaliere. Von allen dreien haben wir bei Mr. Griffard gehört und wir werden erfahren, daß jene beiden, welche an der Seite des dritten gehen, infolge einer gegenseitigen Wette, Europa zu Fuß durchwandert und dabei in Entbehrungen aller Art miteinander gewetteifert haben. Beide haben kräftige markierte Gesichtszüge. Den einen charakterisieren besonders seine dichten schwarzen Augenbrauen, ein gewisses sarkastisches Lächeln, das übrigens nur auf Augenblicke über sein Gesicht steigt und dann verschwindet; der andere ist eine athletische Gestalt, mit ungeheurer Brust, dichtem schwarzen Haar, kühn blickenden feurigen Augen, einem auf Entschlossenheit deutenden Munde und einem kleinen flaumartigen Schnurrbärtchen; wenn er spricht, läßt er eine so tiefe donnernde Stimme hören, daß man ihn, wenn man ihn nicht sieht, für einen ausgewachsenen Mann hält.
Der dritte, der in der Mitte der beiden geht, ist ein hochgewachsener, schlanker, junger Mann mit glatt rasiertem Gesicht. Seine Kleidung ist einfach, auf seinem Gesicht scheint gar kein besonderer Ausdruck vorzuwalten, kalte leidenschaftslose Ruhe weilt darauf; auf seinen Lippen, in seinen Augen liegt jener verklärende Gleichmut, der den Frauen so gefährlich ist. Seine Bewegungen sind englisch nachlässig, jedoch ohne alle gesuchte Affektation, seine Rede fließt ruhig dahin, ohne daß er auf ein Wort einen besondern Nachdruck legte oder den Ton hier und da verstärkte – er scheint sich vielmehr darum zu kümmern, daß seine Rede verständlich sei, als daß er seine Redefertigkeit bewundern lasse. – Das ist jener junge Mann, von dem Griffard erzählte, daß er in Amerika auf dem dritten Deck gereist sei.
Der Seltsamkeit wegen können wir hinzufügen, daß alle drei ungarisch sprechen, was genug zu verwundern ist, wenn wir bedenken, daß die Zeit unserer Geschichte 1822, der Ort das Wäldchen von Ermenonville und die Personen ungarische Magnaten sind.
Die jungen Männer nennen sich während ihres Gesprächs mit den Taufnamen; der feurige, muskelstarke heißt Nikolaus, der mit den dunkeln Augenbrauen Stephan und der mittlere Rudolf.
Der aufmerksame Beobachter könnte die Bemerkung machen, daß der eine von den drei mit verschlungenen Armen wandelnden jungen Männer, immer um eine Kopflänge vorwärts und einer am meisten zurück ist, so daß der in der Mitte Befindliche bald vor-, bald rückwärts gezogen wird und oft genötigt ist, stehen zu bleiben und die während der heftigen Diskussion aufgelöste Ordnung wieder herzustellen.
In der Waldeinsamkeit sprechen sie ein wenig lauter; der Wald von Ermenonville ist kein Lieblingsplatz der Modewelt, da kann man sprechen, diskutieren, so laut man nur will und wird doch nicht für lächerlich gehalten.
Plötzlich tritt aus dem Gebüsch ein junger Mann, der, stehen bleibend, auf das Gespräch der drei lauscht. Nach seinem Äußern zu urteilen, gehört er zur arbeitenden Klasse; auf dem Kopf trägt er eine breite flache Mütze, seine kräftigen Glieder sind in eine blaue Leinwandbluse gehüllt, die mit einem bunten Kragen versehen ist. Auf dem Gesicht des jungen Mannes spiegelt sich Freude und Überraschung über die Sprache der drei ihm entgegenkommenden jungen Männer. Einen Augenblick scheint er zu schwanken, aber dann geht er ihnen entschlossen entgegen und spricht sie an: Ah, meine Herren, Sie sprechen ungarisch, ich bin auch ein Ungar.
Eine Freudenthräne blinkte in dem Auge des jungen Arbeiters.
– Wir grüßen dich, Landsmann, sprach jener mit der donnernden Stimme, indem er dem Unbekannten die Hand freundschaftlich entgegenstreckte und die seine männlich schüttelte. Dasselbe thaten auch die übrigen.
Der junge Handwerker war ganz gerührt und fand kaum Worte, um seine Gefühle auszudrücken.
– Vergeben Sie mir, meine Herren, daß ich mich Ihnen so aufdränge; aber seitdem ich in Paris wohne, es sind schon sieben Jahre, höre ich meine Landessprache zum erstenmal und das thut mir so wohl, so wohl.
– Also kommen Sie mit uns, sagte der in der Mitte, wenn Sie Zeit haben; schlingen Sie sich ein in einen von uns und plaudern wir.
Der Handwerker schien bescheiden zu zögern, als derjenige, der Stephan hieß, ihn unter dem Arm nahm und mitzog.
– Halten wir Sie nicht von irgendeinem Geschäft auf?
– Nein, meine Herren, heute ist Feiertag, heute arbeiten wir nicht.
– So halten wir Sie vielleicht von einem Rendezvous zurück, fragte jener mit flüchtigem Lächeln.
– Durchaus nicht, antwortete der Handwerker. Ich bin es schon gewohnt, hier spazieren zu gehen, so oft ich freie Zeit habe.
– Aber dieser Ort bietet ja wenig Unterhaltung.
– Freilich sind die Weinhäuser weit von da, aber hier befindet sich das Grab eines großen Mannes, dessen Werke zu lesen mehr wert ist, als was immer für eine Unterhaltung; denn sie sind so geschrieben, daß sich auch der einfältigste Mensch daran erfreuen kann. Die Herren kennen sie vielleicht. Aber was frage ich so dumm! Wie sollten so gebildete Herren nicht die Werke von Jean Jaques Rousseau kennen!
– Sie pflegen Rousseaus Grab zu besuchen.
– Niemand verehre ich so wie ihn. Seine Bücher habe ich schon hundertmal durchgelesen und immer finde ich neue Schönheiten darin; o wie wahr ist jedes seiner Worte! Ich habe es schon oft an mir selbst erfahren; wenn ich eine große Sorge im Kopf hatte, oder wenn mir was übles passiert, da nahm ich nur meinen Rousseau vor und gleich wurde ich ruhig. So gehe ich denn an Feiertagen heraus zu dem einfachen Denkmal, das ihm gesetzt wurde, da setze ich mich nieder, nehme sein Buch heraus und manchmal kommt es mir vor, als ob ich mit ihm selbst spräche. Ich bin schon zeitig in der Früh herausgekommen und jetzt kehre ich zurück.
Rudolf sprach frostig drein und gab dem Gespräch eine ganz andere Wendung.
– Was für einen Beruf haben Sie in Paris?
– Ich bin ein Arbeiter, Herr, ein Tischlergeselle in Goudchauxs Atelier; wenn Sie vorbeikommen, so nehmen Sie sich die Mühe, die Kunstmodelle und die gotischen Kirchenornamente anzuschauen, die in der Auslage zu sehen sind, die habe ich gezeichnet.
– Warum streben Sie nicht nach einem eigenen Etablissement?
Der Handwerker seufzte unwillkürlich.
– Ich will nicht in Paris bleiben, mein Herr, ich gehe zurück nach Hause.
– Nach Ungarn? Geht's Ihnen vielleicht schlecht in Paris?
– Besser könnt' ich mir's gar nicht wünschen. Meine Meister schätzen mich, meine Arbeit wird mir gut bezahlt, man liebt hier sein Handwerk, weil es durch die ewig sich ändernde Mode beinahe zur Kunst erhoben wird; es ist ja eine wahre Freude, alle Tage an einem neuen, prächtigen Stück zu arbeiten und sich damit auszuzeichnen; aber ich kann doch nicht in Paris bleiben, sondern gehe nach Hause, obwohl ich weiß, daß ich dort weder fürstliche Prachtbetten, noch Kirchengalerien zu machen bekommen werde, weil man so was einem Einheimischen gar nicht zutraut; ich weiß, daß ich mit Armut zu kämpfen haben werde und daß ich, um leben zu können, Bauernbetten und gemalte Truhen werde machen müssen, weil man von einem ungarischen Meister nichts anderes erwartet; aber ich gehe dennoch nach Hause.
– Haben Sie vielleicht Verwandte zu Hause? fragte Rudolf.
– Niemanden außer dem lieben Gott.
– Dann ist es unbegreiflich, daß Sie sich von hier fortwünschen, wo es Ihnen so gut geht.
– Gewiß ist's eine Thorheit, meine Herren, und ich kann mir es selbst nicht erklären. Ich war fast noch ein Kind, als ich vom Hause losgerissen wurde und seitdem ist eine lange Zeit verflossen, aber dennoch kommen mir die Thränen ins Auge, wenn es mir einfällt, daß jenes Volk, das meine Sprache spricht, hundert und hundert Meilen von hier entfernt ist, und daß ich nicht auch dort sein kann; ich kann Ihnen gar nicht sagen, was das für ein Gefühl ist. Seien die Herren nur einmal sieben Jahre von der Heimat entfernt, dann werden Sie's schon auch erfahren, wie wohl das thut.
Armer närrischer Junge, er dachte, jeder Mensch fühle so wie die Tischlergesellen.
Stephan wandte sich zu Rudolf und flüsterte ihm ins Ohr: Hörst du? Wenn ihr nur den hundertsten Teil von dem fühltet!
Rudolf zuckte die Achseln und murmelte: Ein beneidenswertes Gefühl!
Indes waren die jungen Männer bei einem Kreuzweg angelangt und zauderten, nicht wissend, welchen Weg sie einschlagen sollten.
– Ah, unser junger Freund ist ja in dieser Gegend bekannt, sprach Nikolaus, der liberalste im Austeilen von Freundschaftstiteln. Sie werden so gut sein, uns den Weg zu zeigen, wir wollten auch Rousseaus Grab besuchen.
Der junge Handwerker konnte seine Überraschung nicht verbergen.
– Sie wollen auch auf die Pappelinsel?
– Sie scheinen sich darüber zu wundern?
– Weil das ein sehr verlassener Ort ist, das Grab eines Weisen, das sehr wenige besuchen. Aber ich freue mich sehr darüber, daß auch Sie sich an ihn erinnern; von ganz Frankreich möchte ich nur dieses Grab mit mir nehmen. Heute war ich schon einmal dort, gehe aber gern aufs neue hin. Ganz bis zum Grab können wir zwar nicht gehen, denn es ist rings von einem Sumpf umgeben, aber gegenüber befindet sich ein ziemlich hoher Hügel, auf dem eine Art antiker Tempel steht; auf einer der Säulen ist Rousseaus Name aufgezeichnet und wenn wir uns dort hinstellen, so können wir den Grabstein des Weisen bequem sehen.
Die jungen Männer nahmen den Antrag gern an und gingen durch das immer dichter werdende Gebüsch auf den dem jungen Handwerker wohlbekannten Fußpfaden; der Führer blieb zuweilen stehen, da er nicht glauben konnte, daß die jungen Männer hinter ihm so schnell gehen können, wie er.
Endlich wurde der Hügel sichtbar, auf welchem zu Ehren Montaignes ein kleiner Tempel errichtet wurde, auf dessen sechs Säulen der Name je eines Philosophen aufgezeichnet ist, darunter Voltaire, Montesquieu und Rousseau. Das Gebäude ist nur halb fertig und wurde vielleicht gerade deshalb der Tempel der Weisheit genannt.
Dem Tempel gegenüber ist der kleine Raum sichtbar, welcher die Pappelinsel heißt: dort blinkt unter dem zitternden Laube der weiße Grabstein des Weisen, ein hoher Obelisk, auf dem die Worte eingegraben sind: » Hier ruht der Mann der Natur und der Wahrheit.«
Kein Wunder, daß dieses Grab so verlassen ist, die Wahrheit ist ein schlechter Empfehlungsbrief. Aber die Natur hat das Grab ihres Lieblings in besonderen Schutz genommen; nie welken darauf die Blumen und ringsherum läßt sie Gebüsche grünen, als ob sie dieses Grab für sich allein behalten wollte.
Bei dem Denkmal Montaignes, von wo man auf das Grab sehen kann, angelangt, nahm der Handwerker von den drei jungen Männern Abschied, denn er mußte nach Paris zurückkehren; er drückte ihnen gerührt die Hände, entfernte sich, ohne sich nach ihren Namen zu erkundigen und schaute sehr oft nach ihnen zurück.
– Ich fühle eine solche Niedergeschlagenheit, sprach Stephan, nachdem der Handwerker fort war; ich weiß nicht, ob die Worte dieses Arbeiters daran Schuld sind oder dieser düstere Ort, den ich mir ganz anders vorgestellt habe. Ich dachte mir, der Wald von Ermenonville sei eine heitere Gegend mit blühenden Sträuchern, dazwischen ein Fluß mit einer kleinen Insel, auf welcher ich mir nur Najaden und Faune mit Querpfeifen vorstellen konnte, kurz ich erwartete ein Tempe zu finden und siehe da, wir finden nichts als einen mit Schilf und Wassertulpen bedeckten Sumpf und in dessen Mitte einen kunstlosen Stein unter keineswegs malerischen Pappeln.
– Einmal war diese Gegend so, wie du sie dir vorgestellt hast, sagte Rudolf, der sich ins Gras legte, während Nikolaus sich die Aufschriften des Denkmals ins Portefeuille schrieb, ein blühendes Tempe, dem sogar die Najaden nicht fehlten, nämlich die galanten Damen von Paris. Zu Rousseaus Grab konnte man auf zwei Wasserarmen in kleinen Nachen gelangen. Der Ort war zu Schäferstunden wie geschaffen. Aber einmal kam ein Wolkenbruch, riß die Ufer des kleinen Baches fort, überschwemmte die Ebene und seitdem ist hier der Sumpf, seitdem wird Rousseaus Grab von niemanden besucht, als von Fröschen, die seit Homer große Freunde der Dichtkunst sind, von einigen reisenden Sonderlingen, die auch dazu Zeit haben und etwa noch von einem Tischlergesellen, welcher die neue Heloise liest. Das ist das Los eines jeden Gelehrten. Glücklich ihr Barbaren, die ihr keine Gelehrte habt.
– Wenn du unter diesen glücklichen Barbaren uns verstehst, so verdienen wir jetzt dieses Kompliment nicht mehr, denn in neuster Zeit beginnt auch der Ungar aus seiner geistigen Lethargie zu erwachen und nicht mehr ist Csokonai der letzte Dichter, der in der Litteratur einen Platz einnimmt, noch ist der » gelehrte Palócz« die einzige Zeitschrift, welche die schöne Litteratur repräsentiert. In diesem Jahre sind schon mehrere gelehrte und wissenschaftliche Zeitschriften entstanden; unsere Almanache aber, die in diesem Jahre erschienen sind, brauchten wir selbst nicht vor der häkeligsten Kritik zu verbergen.
– Auch ich halte die Vorliebe für uns selbst für ein ehrenwertes Gefühl.
Stephan geriet in Feuer.
– O das ist mehr als Vorliebe, es ist Selbstbewußtsein. Unsere jungen Dichter, die in neuerer Zeit aufgetaucht sind, machen uns stolz auf unsere Sprache, auf unsere Nation.
Nikolaus war mit seinen Aufzeichnungen fertig und sprach mit donnernder Stimme darein.
– Ist also der Ungar wie die alten Weiber, nur auf seine Sprache Sprache und Zunge werden im Ungarischen mit dem einzigen Worte nyelv ausgedrückt; es wäre etwas gezwungen, wollten wir zur Rettung des Wortspiels, das im Original vorkommt, oben sagen: Unsere Dichter machen uns stolz auf unsere Zunge u. s. w. D. Ü. stolz? haben wir keinen andern Wirkungskreis vor uns, der uns groß machen kann, als Verseschreiberei und Buchdruckerei?
– Freund! große Helden, große Staatsmänner sind immer nur dort entstanden, wo es große Dichter giebt und es ist der Totenschein einer Nation, wenn ihre Dichter verstummt sind, es ist das Lebenszeichen einer aus ihrer Lethargie erwachenden Nation, wenn ihre Dichter sich wieder hören lassen. Heutzutage würde einen Geist, wie Johannes Hunyadi, kaum ein anderer Beruf erwarten, als Pflügen und Säen, während ich es wage, den jungen Männern, welche heuer in der »Aurora« vor das Publikum hingetreten sind, Bajza, Szenvey, Vörösmarty, eine glänzende Zukunft zu prophezeien.
– Unbekannte Namen, sprach Rudolf, den Kopf auf die Hand stützend und einen abgerissenen Grashalm im Munde drehend.
– Sie werden es nicht bleiben. Übrigens kann ich bekanntere nennen, damit du nicht glaubst, daß diejenigen, die sich mit Litteratur beschäftigen, für Parias der Nation gehalten werden; in dem heurigen Jahrgang des Almanachs »Hebe« findest du Namen, wie Dezsöfi, Franz Teleki, Gedeon Ráday, Majláth, die gehören zu den unseren und sind keine unbekannten Namen.
Hier zeigte sich wieder das flüchtige, sarkastische Lächeln auf dem Gesicht des Sprechenden.
– Galvanische Zuckungen von Leichen, nichts weiter, antwortete Rudolf kalt.
– Du glaubst, wir seien tot? fragte Stephan.
– Ja.
– Nicht wahr! riefen jetzt die beiden andern auf einmal mit Heftigkeit.
Rudolf antwortete mit unerschütterlicher Ruhe.
– Wenn ein lauter Ton eine triftige Widerlegung des Todes ist, so habt ihr recht, daß ihr mich so anschaut; ihr leugnet den Gedanken, weil er euch noch schmerzt; aber ich sehe, weiß und fühle es, es ist meine unwiderlegliche Überzeugung, daß unser Stamm seine Rolle ausgespielt hat und dahin zurückkehren wird, wohin seine Vorfahren, die Hunnen, Avaren und Pedschenegen geraten sind. Unsere Städte, unsere größeren Handelsplätze werden schon jetzt von wenigen Magyaren bewohnt. Die Großen des Stammes wissen nur von der Landkarte her, wo das Land liegt und ohne daß sie sich den geringsten Zwang anzuthun brauchten, könnten sie Franzosen, Deutsche, Engländer u. s. w. sein; die Originalrasse wird nach und nach auf ihre Pußten, in ihre Hütten hinausgedrängt; allmählich werden sie auch dort, von tüchtigeren Landwirten verdrängt, verschuldet werden und zu Grunde gehen und der Adel wird unter seinen veralteten Institutionen begraben werden, sobald diese mit der Civilisation in Zusammenstoß geraten. Das ungarische Volk wird nicht von den Barbaren, sondern von der Civilisation vernichtet werden, und was hat unser Stamm, das ihm eine Zukunft verspricht.
– Er hat Söhne! sprach Nikolaus mit starker Stimme.
– Gut gesprochen, Nikolaus! rief Stephan, ihm die Hand drückend; übrigens behaupte ich, daß unser Stamm alles hat, was er braucht um zu leben.
– Ja freilich, er hat Wein und Getreide!
– Das ist auch etwas; ein Volk, das zu leben hat, ist gegen Entkräftung verwahrt. Freilich ist es auch, weil es zu leben hat, nicht genötigt, seinen Geist anzustrengen, aber der Ungar ist ein Tausendkünstler. Ist er einmal genötigt, sich sein Brot mit Mühe zu erwerben, so wird er mit seinen vielseitigen Fähigkeiten Wunder thun. Er wird alle Losungswörter der Civilisation zu den seinigen machen, wird mit der Zeit gleichen Schritt halten und auf jedem Felde mit den ersten Nationen der Welt wetteifern; da wird in dem ganzen Stamm ein neues Leben, neue Bewegung, eine neue Blutcirkulation sein, er wird das Schwert niederlegen mit dem er einst ganz Europa verteidigt hat und beweisen, daß er jedes Werkzeug zu handhaben weiß, mit welchem man Ruhm, Nutzen, Ehre erwerben kann, sei es der Meißel des Bildhauers, die Haue des Bergmanns, der Pinsel des Malers, das Senklot des Baumeisters, er wird hochherzige Männer haben, die ihn aneifern und begeistern und ich glaube sogar, daß sie schon geboren sind.
– Und die Hauptsache, die du vergessen hast, sprach Nikolaus darein, ist, daß er einen diplomatischen Wirkungskreis hat und du mußt doch zugeben, daß der letzte ungarische Táblabiró im kleinen Finger mehr Staatsweisheit besitzt, als der erste ...
Er sah es selbst ein, daß er zu viel sagen wollte.
Rudolf lächelte bei letzterer Behauptung und wandte sich zu Stephan.
– Dem da antworte ich nicht, sagte er auf Nikolaus deutend, denn er wäre im stande mich in diesen Sumpf zu werfen; aber das, was du gesagt hast, ist nur meine Behauptung, wenn auch umgekehrt. Wenn unsere Nation ihre Eigentümlichkeiten ablegt und sich den Formen anschmiegt, welche die neuen Begriffe vorschreiben, dann hört sie auf das zu sein, was sie ist; sie beginnt ein neues Leben, aber dem früheren stirbt sie ab, sie kann glücklich, wird aber nicht ungarisch sein; je mehr sie sich den anderen Nationen nähert, desto mehr entfernt sie sich von sich selbst; Poeten und Volksmusiker erhalten nicht das Leben der Nation; von den Staatsmännern getraue ich mich nicht zu sprechen, denn diese stehen unter Nikolaus Schutz.
– Aber all diesen Besorgnissen macht ein Wort, eine Idee ein Ende. Dieses Wort heißt wollen und nicht wollen. Wenn wir sagen, wir wollen leben, wir wollen es mit Beibehaltung all der nationalen Eigenschaften, die edel, lebensfähig und schön sind, wir wollen jeder nach seiner Fähigkeit, auf der gewählten Laufbahn ausharren, wir wollen uns lieben, das Gute schätzen, wenn es auch nicht vom Ausland kommt, wir wollen jeden Vorteil aufsuchen und ausbilden, der unsere Nation hebt; ferner wir wollen nicht die eitlen Nachäffer alles dessen sein, was fremd ist, sondern das von der Fremde übernommene verdauen und in unser eigenes Fleisch und Blut verwandeln; wenn wir ins Ausland reisen, um unserem Vaterland mit unserem Verstand, nicht aber dem Ausland mit unserer Thorheit zu dienen, dann giebt es keine physische und moralische Kraft, die uns in den Zustand der Auflösung versetzen kann. Das Eis schmilzt, aber der Krystall schmilzt nicht und nimmt Funken von der Sonne in sich auf. Die Völker werden einsehen, daß wir lebensfähig sind und unsere Bestrebungen ehren; auf unseren Feldern wird ein neues Leben blühen, auf unseren Land- und Wasserstraßen wird sich der Handel beleben, die ungarische Sprache wird in unsere Salons dringen und Mode werden, in unseren größeren Städten wird der nationale Geist geboren, in der Hauptstadt des Landes, in Pest, wird sich der Glanz, die Kraft, der Geist der Nation konzentrieren, wir werden eine Akademie, Schriftstellervereine, ein Nationaltheater haben. Und das alles brauchen wir nur zu wollen.
– Schön. Und wer wird dieses schöne Streben beginnen? Denn einer muß doch mit dem Beispiel vorangehen; der Geist kann nicht auf einmal in einige Millionen Menschen kommen.
– A capite foetet piscis: Diejenigen, welche die meisten Verdienste in der Vergangenheit, die meisten Sünden in der Gegenwart und die meisten Pflichten für die Zukunft haben, – die ungarischen Magnaten.
– Der größte Teil ist im Ausland, aber du wirst nur doch zugeben, daß sie da nicht ihr Herz verpfänden, wenn sie auch den aus der Heimat mitgebrachten Staub von den Füßen schütteln?
Rudolf lächelte.
– Du bist ein Missionär, der seine Landsleute bekehren will; wirst du vielleicht die Welt durchwandern, um sie nach Hause zu rufen?
– Das halte ich nicht für unmöglich.
– Glücklicher junger Mann, wie alt bist du jetzt?
– Zwanzig vorüber.
– Morgen wirst du um zehn Jahre älter sein. Morgen kommt mit mir in den Klub der » jungen Riesen«. Das ist eine edle Gesellschaft, in welche nur solche Mitglieder Zutritt haben, die sich entweder durch hohe Geburt, durch Reichtum oder durch eine merkwürdig närrische Lebensweise auszeichnen. Hier werdet ihr alle jungen Männer der vornehmen ungarischen Welt beisammen finden. Dann werde ich dich fragen, ob du sie nach Hause bringen willst, oder ob du dich im stande hältst, es thun zu können.
– Unnötige Mühe! die Landtagsregalien werden sie schon nach Hause rufen.
Die letzten Worte sprach Nikolaus, der während der ganzen Diskussion sich bemüht hatte, eine vor dem Tempel liegende entzwei gebrochene Säule aufzurichten, auf welcher geschrieben war: »Wer kann diese Säule wieder aufrichten?« Nikolaus kehrte das eine Bruchstück um, setzte es mit der Bruchseite in die Erde, legte das andere Stück mit der Krone darauf und beantwortete so die weise Frage.
Also Morgen gehen wir in den Klub der jungen Riesen.