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»Mein Vater.«

Hätte Leon, als er vor Raphaela hintrat, auch nur einen Schatten jener Vertraulichkeit merken lassen, zu welcher das Schreiben des Fürsten ihn berechtigte, er würde ganz gewiß einem eisig kalten Blicke begegnet sein, der ihn mit einem Male bis an den äußersten Pol zurückgestoßen haben würde; wäre er aber mit Thränen in den Augen, weich und empfindsam vor ihr erschienen, so würde er höchstens ein Hohnlächeln auf diesem klassischen Gesichte erzielt haben: eine Rückerinnerung an Alienor. Es giebt keine erbärmlichere Fratze als gemachte Traurigkeit. Der wahre Schmerz schneidet keine Gesichter; er geht vor dem Antlitz her ohne sich zu zeigen, und doch wird alle Welt ihn inne.

Leon trug nicht einmal Trauerkleider. Er erschien in gewöhnlichem Reisekostüm, ohne Flor auf der Kopfbedeckung: einer tüchtigen Lammfellmütze, wie sie für eine Seereise paßt. Die Reiherfeder, die er sonst daran zu tragen pflegte, hatte er entfernt – das war auch Alles.

Die Prinzessin empfing ihn in Anwesenheit des Arztes. Leon wartete ab, bis sie ihm die Hand reichte, die er dann mit ernster Ehrerbietung ergriff. »Wir haben auf Sie gewartet,« sprach Raphaela.

»Entschuldigen Sie, Prinzessin, daß ich so spät komme. Ich war nicht in Wien, als das Schreiben anlangte und bekam es daher nicht sofort zu Händen.«

»Ich bedaure das um Ihretwillen, denn nun können Sie meinen guten Vater nicht mehr sehen. Der Sarg ist bereits geschlossen. Und ich hätte sehr gewünscht, daß Sie ihn nochmals gesehen hätten; er sah auch im Tode nicht anders aus, als im Leben, ganz dasselbe schöne, sanfte, leidende Gesicht. Eine Locke seines schönen, silberweißen Haares habe ich aufbewahrt; wir wollen uns in dieselbe theilen. Ich habe nicht zugegeben, daß man ihn einbalsamire. Das war recht, nicht wahr? Ich habe eine unsägliche Scheu vor dieser Operation seit dem Tode meiner armen guten Mutter. Es blieb demnach nichts übrig, als ihn in einen bleiernen Sarg zu verschließen und so zu transportiren. Billigen Sie diese Vorkehrung?«

In der Frage lag eine gewisse Zärtlichkeit, welche ihm ein Recht gab zu antworten. Leon billigte die getroffene Anordnung nicht. »Ich gestehe, daß ich es lieber gesehen hätte, wenn Sie statt des Bleies Eisen gewählt haben würden, oder Messing, oder irgend ein anderes Metall.«

Raphaela verzog unmerklich die Lippen. »Und weshalb das?«

»Ich hege gewisse Besorgnisse, die übrigens möglicherweise auch unbegründet sein können. Die Chancen stehen wie hundert zu Eins. Doch ist es nun einmal geschehen und läßt sich nicht mehr ändern.«

Raphaela führte Leon nach einem offenen Korridor und zog die Hülle von dem schweren Bleisarge. Es war ein glatter fünfkantiger Sarkophag, ohne jede Verzierung, ohne Inschrift. Es erfolgte keinerlei Ausbruch der Empfindsamkeit. Leon wandte sich an den Arzt: »Der Sarg ist mit Weingeist gefüllt?«

»Jawohl, ganz nach Vorschrift. Es ist das das Präservativ gegen die Verwesung.«

»Er dürfte sonach etwa zehn Centner wiegen. Eine solche Last kann nur auf dem Verdecke transportirt werden und muß mit eisernen Bändern befestigt sein, um bei dem Schwanken des Schiffes nicht ins Meer zu rollen. Ist dafür gesorgt?«

»Wahrhaftig – nein. Daran haben wir nicht gedacht.«

»Dann bitte ich den Herrn Secretär zu beauftragen, daß er alles Nöthige besorge. Die See geht eben jetzt sehr hoch.«

Dann wechselte er mit dem Arzte flüsternd und von Raphaela abgewandt einige Worte. Raphaela bemerkte, daß von ihr die Rede war, und sie ahnte auch worum es sich handle. »O um mich wollen die Herren keine Sorge haben. Ich fürchte die erregte See nicht.«

Leon nickte mit dem Kopfe. »Dann können wir morgen aufbrechen.«

Der Arzt ging, um den Secretär zu beauftragen, Alles vorzukehren, was die technischen Schwierigkeiten der Einschiffung erforderten. Es mußten Arbeiter und Träger bestellt werden.

Raphaela und Leon blieben allein. Raphaela bat ihn, ihr gegenüber Platz zu nehmen; das Licht fiel ihm voll ins Gesicht, so daß man ihm tief ins Auge blicken konnte. Die Prinzessin sah unverwandt forschend in diese Tiefe.

»Sie haben Sorgen um mich wegen der Seekrankheit?« fragte sie. »Ich bekomme sie nicht; ich bin dessen gewiß. Ich denke, der Wille thut viel.«

»In diesem Falle sehr viel. Auch die Gemüthsstimmung und das Beispiel sind entscheidend. Zuweilen macht die ganze Reisegesellschaft sich über das Uebel lustig; sowie aber einer davon ergriffen wird, bekommen es auch alle Uebrigen der Reihe nach. Furcht befördert die Krankheit, Muth drängt sie zurück.«

»Ich werde muthig sein. Ich habe mir Folgendes ausgedacht: ich will nicht in der Kajüte bleiben, wo das Aechzen und Wimmern der Erkrankten ansteckend wirkt. Ich gehe auf das Verdeck hinauf, halte mich am Tauwerke fest, richte die Augen nach dem Himmel und denke mir dabei: ei wie prächtig das schaukelt! Zum Tode aber will ich sagen: Komm' heran! Ich fürchte Dich nicht; du bist ein guter Freund. Dadurch will ich es vermeiden, mich zu seinen Füßen zu winden. Oder ich fasse den ersten besten Mann der Muth hat, einen Matrosen, auf Deck am Arme und bitte ihn, mir Anekdoten und Reise-Abenteuer zu erzählen.«

Leon machte nicht die Bemerkung: es werde ja auch noch ein anderer Mann an Bord sein, der Muth hat, nicht den Kopf wider die Wand stützt und lustige Geschichten zu erzählen weiß. Er sagte statt dessen blos: »Das wird gut sein, Prinzessin.«

Darauf sprach Raphaela die bedeutungsvollen Worte: »Ich bitte Sie, nennen Sie mich nicht Prinzessin.« Jeder Andere würde sich diese Rede dahin interpretirt haben, daß nunmehr die Zeit gekommen sei, in Zärtlichkeit zerfließend auf die Kniee zu sinken, jene schneeigweiße Hand zu fassen, sie zu küssen und dabei mit einem verständnißinnigen Seufzer zu stammeln: »Raphaela!«

Leon that nichts von all dem. Er sagte bedächtig: »Etwa deshalb, weil der Fürst gestorben ist?«

Raphaela war befriedigt davon, daß Leon nicht wankend wurde. »Deshalb. Der Fürstentitel unseres Hauses geht mit dem letzten männlichen Sprossen desselben zu Grabe; die Waise ist fortan blos Gräfin. Die Verleihung ist unter diesem Vorbehalte geschehen.«

»Wohl. Indessen ist, soviel ich weiß, dem Fürsten Maximilian von Etelvar die Zusage geworden, daß der fürstliche Rang und Titel auch auf seine Tochter übergehen solle, wenn er dieselbe in Sohnesrechte einsetzen würde.«

»Die Zusage ist meinem Vater allerdings geworden. Er hatte das betreffende Gesuch auch bereits vorbereitet, hat es aber niemals eingereicht, sondern in den letzten Tagen wieder vernichtet. Ich bin also in der That fortan ›nur mehr‹ Gräfin. Uebrigens giebt es auch eine Stelle, die alle Menschen gleich macht: die wogende See. Auf dem Deck des Meerschiffes sind Fürsten genau dieselben elenden, schwankenden Gestalten, wie die Matrosen auch; bei dem Menschen, der sich leidend am Boden krümmt, haben Rang und Würde ein Ende. Dort können die Gleichgestellten, die Reisegefährten einander doch wohl nicht anders nennen als ›Sie‹«.

»Ich erachte diesen Wunsch als Befehl. Sollte ich dagegen verstoßen, so wird die Schuld nicht an mir gelegen haben.«

»Sondern an mir. Ich will bestrebt sein, Sie die Reisegefährtin niemals vergessen zu machen. Lassen Sie uns auf das Meer hinaussehen.«

Leon hatte auch bisher dem Fenster zugekehrt gesessen, welches die Aussicht nach dem Meere bot; der Widerschein der See beleuchtete die schönen edlen Züge seines Antlitzes. Nunmehr wandte sich Raphaela gleichfalls dem Fenster zu.

»Sie sagten vorhin, Sie seien von Wien fern gewesen. Wo waren Sie denn, seitdem Sie Paris verlassen haben?«

Leon erzählte ihr, wo er gewesen war. Er berichtete in schlichten Worten nur das einfache Ereigniß, die Geschichte von neun Bauerkindern, welche die vorige Woche noch ihren Taufpathen umringt und das »Röslein auf der Haide« gesungen hatten – und heute singt es die Mutter vereinsamt inmitten der fünf kleinen Grabhügel. Es ist nichts Bedeutendes an der ganzen Geschichte. Und doch: als Leon von den neun winzigen Schuhen erzählte und wie die Mutter die Aepfel je zu zweien auf die leeren Kissen vertheilte, da drangen Raphaelen mit einem Male unaufhaltsam die Thränen in die Augen. »Mein Gott!« stammelte sie und während sie mit der einen Hand das Angesicht bedeckte, reichte sie die andere unbewußt Leon dar.

Leon aber weinte nicht, wie Alienor.

»Und sie tragen nicht einmal einen Trauerflor um Ihre kleinen Pathen?« (Es war ihr schon früher aufgefallen, daß er kein Trauerzeichen trug. – Vielleicht auch um eines anderen Todten willen.)

»Ich will nicht jedem nächstbesten Profanen, der mir in den Weg tritt, erzählen müssen, weshalb und für wen ich Trauer trage.« (Die Antwort galt auch bezüglich jenes Anderen.)

»Und nun hören Sie unsere Tragödie,« sagte Raphaela.

Und sie erzählte ihm, welch ein idyllisches Leben sie hier inmitten des Meeres geführt, bis jene Kanonenschläge diese Ruhe verscheuchten. Sie erzählte, was ihr Vater litt, als jene Schreckensscene alle Wunden seines kranken Herzens zumal aufriß, als er Alles erfuhr, was man ihm bisher verheimlicht hatte und wie dieser Schmerz ihn getödtet habe. Und während sie all das erzählte, ging in Leons Gesicht eine Veränderung vor sich, welche Raphaelen erschreckte. Er war bleich geworden, sein Auge hatte allen Glanz verloren, auf seiner Stirne perlten schwere Tropfen Schweißes. Dieses Antlitz bot nicht ein Bild der Trauer, des Schmerzes, sondern der Selbstanklage. Ihm war, als wuchtete die ganze Last des bleiernen Sarkophages dort drüben auf ihm während der ganzen Erzählung. Endlich sprach Raphaela zu ihm: »Sie sind sehr alterirt – Sie sind krank?«

»Daß ich es doch wäre;« sagte Leon und erhob sich von seinem Sitze. »All das hätte nicht so kommen müssen.«

Raphaela verstand seinen Ideengang. »Können Sie denn dafür, daß es so gekommen ist?«

»Vielleicht nicht. Wenn aber doch? Wer kann das wissen?«

»Ich weiß es. Ich habe es von meinem Vater gehört. Jemand beschuldigte Sie vor ihm, Sie hätten etwas verdorben. Mein Vater erwiderte: ›Das ist nicht wahr! Napoleon Zarkany hatte Alles so vollführt, wie es geschehen mußte. Die Zukunft ist ein Geheimniß der Gottheit!‹ Thut es Ihnen wohl, daß ich Ihnen das gesagt habe?«

»Ich danke Ihnen dafür aus voller Seele.«

Leon bemerkte jetzt, daß seine Stirn über und über mit Schweiß bedeckt sei und trocknete sie mit dem Taschentuche. »Ich will nun nach den Vorbereitungen sehen. Ich muß noch heute Nacht den Sarg nach dem Schiffe bringen und ihn daselbst befestigen lassen.«

»Und morgen holen Sie mich ab? Kommen Sie nur recht früh, sobald der Morgen graut. Lassen Sie mich wecken. Hier ist des Nachts kein Glockenschlag, kein Nachtigallengesang, kein Hahnenschrei zu hören.«

Leon empfahl sich und sagte, er wolle zuvor noch den Sarg besichtigen, ob er auch wohl geschlossen sei.

Raphaela folgte ihm nicht. In dem Saale, in welchem sie zurückblieb, waren die sämmtlichen Wandspiegel in den Ecken angebracht, so daß sie das Bild des Raumes in der Diagonale zurückstrahlten. In dem einen Spiegel konnte man in den Korridor hinaussehen, eben auf die Stelle, wo der Sarkophag stand. Raphaela sah Leon dahin eilen. Er knieete an dem Sarge nieder und starrte eine geraume Weile nach einer Stelle. Dann erhob er sich plötzlich wieder und schlug sich mit der Faust dreimal heftig wider die Stirn. Und dann stäubte er sich die Kniee ab, bevor er in den Saal zurückkehrte.

Im Saale traf er Raphaela abermals. »Es ist alles in Ordnung,« sagte er und ging. Erst außerhalb des Hauses wurde er gewahr, daß um seine Mütze ein Trauerflor geschlungen war. Raphaela hatte ihn darum gewunden, während er draußen im Corridor stumm vor dem Sarge kniete. Im Laufe des Tages sah ihn Raphaela nicht wieder. Sie fand einen Mann von Wort an ihm. Als sie um zwei Uhr nach Mitternacht erwacht war und sich angekleidet hatte, da sie das Mondlicht für die Morgendämmerung hielt, fand sie den Sarg nicht mehr draußen im Corridor. Leon hatte ihn so vorsichtig fortschaffen lassen, daß sie dadurch nicht im Schlafe gestört wurde.

Raphaela blieb in dem leeren Corridor. Sie lehnte sich über die Brüstung hinaus und wartete auf Leon. Sie war bereits so weit mit ihm, daß sie ihn erwartete. Sie wußte sich selber nicht Rechenschaft zu geben, wie das komme. War es mehr als blos Interesse? Mehr als Gehorsam gegen den letzten Willen des Vaters? Mehr als Anhänglichkeit an den Stärkeren? – Sie erwartete ihn.

Es war eine schöne, stille, mondhelle Nacht. Der Wind hatte sich nach Mitternacht gelegt. Raphaela rief Leon, als er vor dem Hause anlangte, vom Corridor herab den Morgengruß zu. Leon eilte hinauf zu ihr.

»Ich bin um eine Stunde früher gekommen,« sprach er. »Der Wind hat sich plötzlich gelegt. Es dürfte gerathen sein, den günstigen Moment zu nützen, um uns einzuschiffen, denn gegen Morgen wird die Brise wieder aufsteifen.«

Raphaela war mit ihren Reisevorbereitungen längst zu Stande. Sie schickte die männliche Dienerschaft voraus, nahm den Reisemantel um und begoß noch einmal die Blumen, die ihr der Besitzer der Villa als ein Zeichen freundlicher Aufmerksamkeit hatte an das Fenster stellen lassen. Dann nahm sie Leons Arm und ließ sich, vom Arzte, dem Secretär und ihrer Kammerfrau gefolgt, an den Strand hinab geleiten. Nach einigen Schritten wandte sie sich um und sagte zu der Kammerfrau: »Emilie, ist Camilla da?«

»Jawohl, Prinzessin,« antwortete die Angeredete. Leon sah sich um; er vermochte nirgends eine dritte Dame zu entdecken. Unten am Strande, beim Einsteigen in das Boot, welches auf der schwellenden Fluth tanzte, mußte man den Damen behilflich sein. Als die Reihe an die Kammerfrau kam, sprach Raphaela zu Leon: »Ich bitte, nehmen Sie Emilien einstweilen, während sie in den Kahn steigt, Camilla ab.«

Leon schrak ein wenig zusammen, als ihm die Kammerfrau mit einem Mal etwas in die Hand gab, das sie in ihr weißes Taschentuch eingeschlagen trug. Es war ein weißes Kätzchen. Raphaela hatte den Schauer bemerkt, der ihn überlief und heftete ihre großen Augen verwundert auf ihn. »Fürchten Sie sich vielleicht ebenfalls vor Katzen?«

»Ei behüte!« (Er hatte in dem Kätzchen den Liebling Livia's erkannt, daher war das Beben gekommen. Dann aber drückte er das seidenweiche Köpfchen des sanften Thieres an seine eigene Wange und flüsterte ihm schmeichelnd zu: »Zizus, zitz, miutz!«)

Bis sie an Bord kamen, blieb das Meer ruhig; kaum aber waren die Anker gelichtet, so begann die See hoch zu gehen und in dem Augenblicke, als der Dampfer sich in Bewegung setzte und zu schaukeln begann, verschwand auch schon die Kammerfrau vom Verdeck und zog sich in ihre Kabine zurück.

Als vollends die Sonne aufging und ihr rother Dämmerschein die Felseninsel, die immer weiter und weiter zurücktrat, noch röther strahlen machte, begann der Wind, als ob der Morgenschein ihn mit sich führte, plötzlich wieder mit erneuter Kraft zu wehen und nun bewegte sich das Schiff nicht mehr blos in jenen schaukelnden Schwankungen hinüber und herüber, die noch immer angenehm sind, als ob man sanft gewiegt würde, sondern es hüpfte und stampfte, wie es über die hohen Wogenberge wegsetzte, der vollen Länge nach, so daß sich bald der Schiffsschnabel, bald wieder der Spiegel hoch aufbäumte.

Die Passagiere waren bereits alle vom Deck verschwunden. Nur Raphaela und Leon hielten am Verdecke Stand.

Wider die Thür der Kajütenluke gelehnt und an der Klinke sich festhaltend, sah das stolze Weib den Wolken zu, die über ihrem Haupte dahinjagten. Sie hatte zum Schutz gegen die Spritzwellen, die unaufhörlich über Deck gingen, die Kapuze ihres Regenmantels über den Kopf gezogen und plauderte mit Leon, der sich an der Spannkette des Schlotes aufrecht hielt.

»Ich liebe das Meer. Wenn ich die Frau eines Seemannes wäre, würde ich immer mit ihm fahren. Wessen Vaterland die See ist, der kann niemals heimatlos werden. Das Meer läßt sich keine Grenzen auf den Rücken malen, wie die Erde; es läßt sich nicht unterjochen. Das Meer ist die Verwirklichung der Idee eines ›gemeinsamen Vaterlandes.‹ Es erweist sich Demjenigen, der in seinem Gebiete sein Brod gewinnt, nie so stiefmütterlich, wie die Erde; es nährt so viele Menschen wie das Festland und gewährt ebenso vielen ein Grab. In diesem Augenblicke, wo die Planken unter unsern Füßen ächzen und knarren, wo wir jeden Moment besorgen müssen, im nächsten zum Meeresgrunde hinabzusinken und die Wogen einer Gebirgskette gleich sich gegen uns heranwälzen, denke ich daran, auf wie viel ruhigerer Stelle ich gleichwohl hier stehe, als ich in jenem Lande stünde, dessen Boden jetzt eben so gewaltige Wogen wirft, wie dieses Meer, das den Untergang ganzer Provinzen zu beklagen hat. Dieser Gedanke läßt mir den Orkan selbst als eine sanfte Fee erscheinen. Mit Hilfe dieser Vorstellung kämpfe ich jede Anwandlung von Uebelbefinden in mir nieder; ich denke daran, wie viele Menschen noch weit mehr leiden, als ich. Ich liebe diesen Sturm. ›Diesen‹ Sturm!«

»Auch mir ist das Meer ein vertrauter Freund,« sprach Leon. »Es kann noch kommen, daß ich Seemann werde. Ich mache unsern Ur-Eltern stets einen Vorwurf daraus, daß sie das Pferd so sehr geliebt haben; hätten sie doch lieber das Schiff geliebt. Sie würden dann nicht die Steppe gesucht haben, die je üppigeren Graswuchs bietet, sondern den offnen Strand am freien Meere. Mit dem Kraftaufwande, mit welchem sie Ungarn eroberten, hätten sie sich auch in Japan niederlassen mögen. Dieses Land ist mein Ideal. Ich glaube immer, ich werde noch einmal im Leben dahin kommen. Rings um und um Meer; nirgends ein Nachbar, nirgends ein Stammverwandter, nirgends eine Diplomatie. Das Land erzeugte sich Alles selber.«

Raphaela klagte, daß ihre Füße zu zittern beginnen; sie könne sich nicht mehr aufrecht erhalten.

»Und doch ist das erste Erforderniß, um die Seekrankheit zu bekämpfen, das, daß man auf den Füßen bleibe. Stützen Sie sich auf meine Schulter und gestatten Sie, daß ich Sie mit meinem Arm aufrecht halte.«

Raphaela folgte dem Rathe und als Leon den Arm um sie legte, schwand auch der Schwindel und der Kopf ward ihr wieder frei.

Und nun lobten und priesen sie mit einander das Meer so lange, bis es sich durch die fortwährende Verherrlichung besänftigen ließ. Gegen Mittag legte sich der Sturm, die Wolken verzogen sich, die Wolkenberge glätteten sich und die kleine Yacht dampfte nunmehr auf den gesänftigten Wellen schaukelnd dahin.

Ein Dampfer, der im Osten in Sicht kam, schien direkt den Curs der »Water-Nymph« kreuzen zu wollen. Das fremde Schiff war eine Kriegsfregatte, ein Zweimaster, der mit Segel- und Dampfkraft fuhr. Als er näher herangekommen war, erkannte man ihn als einen französischen Kreuzer.

»Der will uns wahrscheinlich anrufen,« bemerkte Raphaela und richtete ihr Fernrohr auf das fremde Segel.

»Nun dann mag er sehen, wie er uns erreicht.«

Sowie der Kreuzer erschien, änderten die meisten im Osten sichtbaren Segel ihren Curs. Es waren das wahrscheinlich deutsche Schiffe und trugen nicht eben großes Verlangen, als gute Prise genommen zu werden. Die Fregatte fand kein anderes Schiff vor als die Yacht. Sie erreichte dieselbe auf der Höhe von Neuwerk. Die Yacht war nicht verpflichtet, von dem Kriegsschiffe eher Notiz zu nehmen, als bis sie angerufen wurde. Die Fregatte erließ denn auch alsbald den Ruf, auf eine halbe Meile nahe gekommen, gab sie einen Signalschuß ab. Das Passagierboot hielt nun im Laufe inne und ließ das Kriegsschiff herankommen. Etwa zwölf Faden von der Yacht entfernt hielt auch der Kreuzer an und kehrte ihr seine Breitseite zu, aus deren Luken zwölf Kanonenschlünde gähnten. Dann wurde vom Kriegsschiffe ein Boot ausgesetzt, welches an den Passagierdampfer herankam; es brachte einen Schiffslieutenant mit sechs Marinesoldaten. Wenige Minuten später standen der Offizier und seine Mannschaft auf dem Deck der Yacht. »Keine Kriegscontrebande an Bord?« fragte der Lieutenant.

»Keine,« antwortete der Capitän in gutem Glauben.

Seiner Pflicht gemäß sah sich der Offizier am Schiffe um; er hatte nicht nur das Wort des Commandanten in Empfang zu nehmen, sondern sich überdies auch durch den Augenschein zu überzeugen, daß das Schiff contrebandefrei sei. Das erste Object, auf welches er stieß, war – der Sarg. Er stand, mit starken Eisenbändern und Schrauben an die Planken befestigt, mitten auf dem Deck ganz blank und unverhüllt da. »Und das hier, mein Herr?« fragte der Lieutenant.

»Das ist ein Sarg,« sagte der Capitän.

»Allerdings, aber ein Sarg aus Blei. Wissen Sie denn nicht, daß Blei Kriegscontrebande ist?«

»Mir wurde das Stück als Sarg aufgegeben. Es liegt die Leiche eines angesehenen, ungarischen Magnaten darin, die von Helgoland in seine Heimat transportirt werden soll.«

»Das kann ich glauben und auch nicht.«

»Seine Familie, sein Leibarzt und Gefolge stehen hier; sie Alle werden es bestätigen.«

Die Genannten waren in der That mittlerweile Alle auf Deck gekommen und harrten, was nun daraus werden solle. »Das war es, was Sie vorausgesehen haben!« flüsterte Raphaela Leon zu, schmiegte sich an ihn und klammerte sich an seinen Arm.

»Und wenn dem auch so ist,« entgegnete der Lieutenant – »Sie werden sich doch wohl nicht einbilden, daß ich mir vor der Nase weg acht bis zehn Centner Blei durch einen Todten nach Deutschland einschwärzen lassen werde.«

Dem Capitän der Yacht riß die Geduld. »Sie werden aber doch nicht verlangen, daß wir den Leichnam aus dem Sarge nehmen und ins Meer werfen?« erwiderte er und setzte dann mit Nachdruck hinzu: »Der Verstorbene war ein sehr vornehmer Mann!«

Die letztere Bemerkung brachte den jungen Lieutenant gleichfalls in Harnisch. »Ei, mein Herr – was wollen Sie? In einer Zeit, da die wackersten Männer zu Tausenden auf allen Schlachtfeldern hingestreckt liegen und der Feldherr mit dem gemeinen Mann über- und nebeneinander in eine gemeinsame Grube gesenkt wird; wo die Leichname der edelsten Männer den Geiern und Raben zur Beute fallen; wo Helden und Heerführern und genialen Köpfen und den einzigen Söhnen trauernder Wittwen zu Hunderten mit einander ein einfaches Holzkreuz genügen muß; heute, wo man kalten Blutes den Schädel zur Seite stößt, den gestern noch ein Halbgott zwischen den Schultern getragen hat – heute verlangen Sie von mir, daß ich einen ungarischen Magnaten bedaure, daß ihm nach einem ruhigen Tode kein anderes Grab geworden, als der herrliche Meeresgrund? Geben ein Stück Segeltuch, eine Kanonenkugel, drei Salutschüsse, auf halben Mast gehißte Flaggenparade und zwölf Faden Seewasser etwa nicht eine Leichenfeier, die jedes Fürsten der Welt würdig ist?«

Leon fühlte, daß die Hand des Mädchens in der seinen zitterte. Er ließ sie los und trat plötzlich zwischen die beiden verhandelnden Seemänner hin. »Mein Herr!«

»Mein Herr!« sprach seinerseits der Schiffslieutenant, grüßte mit einer höflichen Verneigung und richtete nunmehr das Wort an Leon. »Oder wenn Ihnen gar so sehr darum zu thun ist, den ungarischen Herrn der Erde seines Vaterlandes wiederzugeben, – jenun, Hamburg ist nicht mehr weit, hüllen Sie ihn bis dahin in getheerte Leinewand, und dort kaufen Sie dann einen andern Sarg und legen ihn hinein. Oder noch ein anderes Mittel: Sie haben einen Arzt an Bord; wir borgen Ihnen eine Quantität Mercurius corrosivus, wir haben dessen genug am Schiffe; der Arzt mag die Leiche bis Hamburg einbalsamiren.«

»Mein Gott!« klang es bei diesem Worte in zitterndem Tone von Raphaela's Lippen.

»Ich will Ihnen glauben,« schloß der Lieutenant, »daß in dem Sarge ein Leichnam liegt, – nun der gehört Ihnen, den mögen Sie mit sich nehmen; das Blei aber gehört mir, das nehme ich.«

Bei dieser Erklärung sprang Leon mit einem jähen Satze vor den Sarg hin, riß seinen Revolver aus der Seitentasche und rief mit zornig schallender Stimme: »In diesem Sarge liegt mein Vater! Wer Hand daran legt, dem jage ich eine Kugel durch den Kopf.« Leon hielt das Pistol auf die Stirn des Offiziers gerichtet, im nächsten Augenblicke lagen aber auch schon die Karabiner der sechs Marinesoldaten gegen ihn in Anschlag. Der junge Schiffslieutenant wandte sich eher nach seiner Mannschaft um und sagte: »Bis auf mein Commando bleibt jede Waffe bei Fuß.«

Dann schaute er ruhig in die Mündung der Pistole, die nach seiner Stirn gerichtet war, verschränkte die Arme über die Brust und lächelte, als er zu Leon sprach:

»Es wäre Schade um Sie, mein junger Freund, und auch um den Andern, den Sie niederschießen würden. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß in diesem Sarge Ihr Vater liegt?«

Bei diesen Worten begann Leons Hand zu zittern. Er bemerkte plötzlich, daß er sehr schlecht nach der Stirn des Mannes ziele, der ihm dort gegenüberstand. Sein Arm mit der Waffe in der Faust sank erschlafft nieder. Was sollte er antworten? Sollte er sagen: »Ja, es ist mein Vater! ich bekräftige es mit meinem Ehrenworte!« Sollte er sein Ehrenwort hinwerfen, Angesichts so vieler Menschen, die alle wissen würden, daß er nicht die Wahrheit geredet habe? – Sollte er sein Wort zum Pfande geben Angesichts dieses stolzen Weibes und sie beleidigen in dem Augenblicke, da er sie rettete? Sollte er sich für ewige Zeiten unfähig machen, sich vor diesem Weibe auf seine Ehre zu berufen? Er war erschüttert. In demselben Momente aber stürzte Raphaela an seine Seite, faßte mit beiden Händen seinen Arm und antwortete an seiner Statt: »Ja. In diesem Sarge ruht sein Vater! Und mein Vater! Ich bezeuge es bei unserer Beider Ehre!« – Sie sprach diese Worte mit so wahrer Innigkeit, mit so unwillkürlich verrathener Bewegung, daß sie Leon bis ins Herz drangen.

Der Schiffslieutenant hätte kein Franzose sein müssen, wenn er diese Erklärung nicht ihrem vollen Sinne nach verstanden haben würde. Es war ein Roman; und ein Roman hat selbst im Kriege seine eigenen Privilegien. » Honneur au malheur!« entgegnete er. Dann grüßte er die Dame militärisch mit dem Degen, commandirte seine Mannschaft das Gewehr zu präsentiren, gab dem Capitän seine Papiere zurück und verließ das Schiff.

Von diesem Tage promenirte Raphaela fortwährend an Leons Arme auf dem Verdeck. Die Personen ihres Gefolges flüsterten einander schmunzelnd ihre Bemerkungen zu. Der Fürst konnte nur in dem Sinne Leons Vater sein, daß die Prinzessin Leons Braut war.

Die Yacht traf noch rechtzeitig in Hamburg ein, daß der Sarg zur Bahn gebracht und mittels Separatzuges nach Berlin transportirt werden konnte. Es war spät Abends, als sie eintrafen. Raphaela wollte nicht länger hier verweilen, als erforderlich war, um den neuen, weiteren Separatzug einzuleiten. Leon dagegen gab den Rath, in Berlin zu übernachten.

Er sagte ihr auch, was ihn hier aufhalte. »Ich muß heute noch unumgänglich nothwendigerweise mit dem Kriegsminister sprechen.«

Raphaela war es zufrieden. Als sie aber dann später nähern Aufschluß suchte und ihn so nahe liegend fand, da dachte sie darüber nach, was für ganz eigens geartete Menschen diese Diplomaten doch seien. Leon, der in Berliner Hofkreisen bekannt geworden war, vermag es nun nicht über sich, an einem solchen Tage des Triumphes im Fluge durch die Hauptstadt zu reisen, ohne auch seinerseits den betreffenden Kreisen den Zoll seiner Glückwünsche abzustatten; es dient ihm nicht zur Entschuldigung, daß der Zweck seiner Reise kein anderer ist, als einen Todten nach der Heimat zu bringen und einer trauernden Dame ritterliches Geleite zu geben. Und vollends als Leon vor ihr erschien, um sich zu empfehlen und Raphaela sah, daß er vollständig zum Balle gekleidet war, in weißer Cravatte, weißer Weste und Frack! Geht man so zum Kriegsminister zu Besuch? Leon las diese Frage in Raphaela's Augen.

»Zu Hause treffe ich die Excellenzen jetzt nicht. Die Hauptstadt giebt zur Feier des heutigen Tages einen Ball; die Herren erscheinen natürlich alle auf demselben und ich muß sie dort aufsuchen.«

Also auf den Ball geht er – in die Gesellschaft tanzender und schäkernder Damen! Und hier läßt er indessen ein trauerndes Mädchen zurück, welches – mindestens doch seiner Obhut anvertraut ist –! Wahrhaftig, die Höflichkeit ist äußerst kaltblütig.

Raphaela ging nicht zur Ruhe. Nun gerade nicht. Sie wollte erproben, wie es denn thue, wenn das Weib daheim auf Denjenigen warte, der sich anderwärts gut unterhält. Sie hatte nicht lange zu warten. Leon kam noch vor Mitternacht nach Hause. Als er von der Kammerfrau vernahm, daß Raphaela noch gar nicht zu Bette sei, ließ er sich bei ihr anmelden.

»Prinzessin, wenn es Ihnen gefällig ist: es ist Alles zur Weiterreise bereit.«

Raphaela nickte zustimmend mit dem Kopfe. Leon war binnen fünf Minuten zur Reise umgekleidet. Eine Stunde später waren sie am Bahnhofe. Die Maschine des Separatzuges stand geheizt; es mußte nur noch das Signal abgewartet werden, damit bei dem derzeit äußerst regen Verkehre ein Zusammenstoß mit einem etwa entgegenkommenden Zuge vermieden werde. Leon ließ mittlerweile ein Schlafwagen-Coupé für Raphaela und ihre Kammerfrau in Stand setzen und bat sie dringend, sich nun Ruhe gönnen zu wollen.

»Sie haben deren noch nöthiger als ich,« erwiderte Raphaela: »Sie haben in vergangener Nacht nicht geschlafen.«

»Ich will im Waggon schlafen,« versprach Leon.

Indeß, die Nacht war nicht danach, daß man sich ruhig dem feueräugigen Ungethüm hätte anvertrauen mögen, um dann seine Seele Gott zu empfehlen und zu schlafen. So weit die Doppelgeleise reichten, rasselte in kurzen Zwischenräumen Zug auf Zug in entgegengesetzter Richtung vorbei; Raphaela sah sie durch die Fenster des Waggons nur flüchtig gleich eilenden, polternden Gespenstern kommen und verschwinden. Als man aber auf die eingeleisige Strecke gekommen war, weckte sie plötzlich das schrille Warnungssignal der Maschine und das Geschrei des Zugspersonals.

Unter all den wirren Stimmen erkannte sie auch Leons Stimme. Sie ward neugierig, öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Der Zug stand mitten in ausgedehntem, flachem Moorlande; ein Stationsgebäude war weit und breit nicht zu sehen. Eine überaus triste Gegend. Die unabsehbare, sumpfige Sandebene war mit einzelnen Lärchen- und Fichtengehölzen bepflanzt, die das Wasser der Tümpel, welches sie widerstrahlte, noch schwärzer erscheinen ließen.

An der Stelle, auf welcher der Zug stand, machte die Bahn eine jähe Krümmung gegen Süden und auf dem Bogen sah man ein feuriges rothes Augenpaar herannahen, ein nächtliches Ungeheuer. Die Dampfpfeife der Maschine lärmte ohne Unterlaß. Die herankommende Doppelleuchte hielt im Laufe inne, und nun ertönte aus der Ferne ein Widerhall der Allarmsignale herüber. Aus Allem, was sie sah, konnte Raphaela entnehmen, daß ein nicht signalisirter Zug dem ihrigen entgegenkam. Leon hörte sie in der Ferne rufen und schreien. Als er dann zurückkehrte, erkannte sie ihn beim Scheine der Laterne, welche der Conducteur vor ihm her trug. Sie wollte wissen, in welches Coupé er einsteigen werde. Er stieg aber nirgends ein, sondern sprang neben den Maschinenführer auf die Lokomotive. Er hatte die ganze Fahrt über auf der Maschine gestanden, um sie vor jedem Unfalle zu bewahren. Raphaela bedauerte ihn von Herzen und nahm sich vor, sowie der Zug anhalten würde, ihn zu sich in den Waggon zu rufen und ihn nicht wieder hinauszulassen. Mit diesem guten Vorsatze schlief sie dann ein und erwachte erst in Dresden wieder. Der Zugführer meldete, hier sei die Frühstücksstation. Der Arzt erschien, um Raphaelen in den Wartesaal zu geleiten. Leon, berichtete er, habe eben seine liebe Noth mit dem Stationschef, den er überzeugen müsse, daß es dem Dienstreglement nicht zuwiderlaufe, wenn man den Sarg nicht erst umlade, sondern denselben Waggon bis Wien weiterrollen lasse.

»Ich fürchte übrigens,« fuhr der Arzt fort, daß wir auch noch einen größeren Anstand haben werden. An der Grenze bei Bodenbach werden uns die Zollwächter anhalten; da werden wir wegen des fatalen Bleies, an welches Niemand gedacht hat, wieder Unannehmlichkeiten haben und ich weiß nicht, ob es gelingen wird, auch hier mit etwas Pathos darüber hinwegzukommen. Wer weiß, was der phlegmatische Deutsche hier am Festlande zu einer Scene sagen würde, die auf der hohen See dem Franzosen gegenüber von so guter Wirkung war. Die Deutschen gestatten nämlich die Ausfuhr von Blei so wenig, als die Franzosen die Einfuhr.«

Bei Bodenbach geschah in der That, was der Arzt schon in Dresden vorgesehen hatte: der Zollinspector beanstandete die große Menge Blei.

»Wissen Sie, daß Blei in Kriegszeiten als Kriegsmaterial gilt? Haben Sie die Bewilligung, eine so bedeutende Quantität Blei ausführen zu dürfen?«

»Ei versteht sich.« »Wo haben Sie sie? Und von wem?«

»Hier in meiner Tasche. Vom Kriegsministerium.«

Damit überreichte er ihm das Document.

»Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?«

»Warum haben Sie mich denn nicht gleich danach gefragt?«

Der Inspector betrachtete abwechselnd bald die Ausfuhrlicenz, bald Leons Gesicht. »Hören Sie einmal; sind die Herren Ungarn alle so witzige Leute?« »Hui, erst die, die zu Hause sind –!«

Als Leon zu Raphaela zurückkehrte, streckte diese ihm dankerfüllt die Hand entgegen. »Sie sind deshalb die vergangene Nacht in Berlin geblieben. Sie haben an einen Umstand gedacht, der einem Andern gar nicht eingefallen wäre, und den wohl auch Niemand so rasch zu schlichten vermocht hätte. Ich habe Sie verkannt. Ich will Ihnen fortan nie mehr widersprechen.«

»Und ich will mir diese Ihre Güte sofort zu einer Bitte zu Nutze machen.« »Verfügen Sie ganz nach Ihrem Belieben.«

»Wenn wir nach Wien kommen, wollen wir die Reise unterbrechen, um einen ganzen Tag daselbst zu verweilen.«

»Wünschen Sie das meinethalben, damit ich ausruhe?«

»Auch deshalb; aber auch aus einem andern Grunde. Der verewigte Fürst hatte aufrichtige Verehrer in Wien, die nicht nach Etelvar hinabkommen können, um ihm an seinem Sarge ein letztes Lebewohl zu sagen. Wenn der Sarg einen Tag über in irgend einer Kapelle ausgesetzt ist, so können sie Alle dahinkommen und es wird ihnen wohlthun, dort eine Thräne zu weinen.« »Ein schöner Gedanke ...« flüsterte Raphaela und reichte Leon die Hand.

Diesem aber erfüllte der Gedanke den Kopf, daß dort in Wien ein verlassenes Mädchen lebe, dessen Herz noch von einem großen Schmerz befreit werden mußte, wenn es sich ungesehen, unbeachtet ausweinen konnte am Sarge des Mannes, der ihm ein Vater gewesen im Leben, der im Tode ihm gestorben war, dessen große Seele es dem Himmel geopfert hatte, um der Treue zu seiner Liebe willen.

Leon liebte Niemanden, als nur Livien. Und Raphaela erwähnte Livien während der ganzen Fahrt auch nicht mit einem Worte! Ihren Liebling aber, das Kätzchen, hatte sie sogar nach Helgoland mit sich genommen.

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