Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nur mit schwerer Mühe gelang es, die beiden im Zimmer Schlafenden zu erwecken. Der Dritte hatte im Bienenhause den Heidenlärm verschlafen, den die Mitbürger vor dem Hause gemacht hatten. Sie hatten keine Ahnung von der bedeutsamen Wendung, die erfolgt war, während sie sich im Jenseits befanden. Der einzige Mensch, der es ihnen hätte sagen können, der Kutscher der Fürstin, erwachte erst am nächsten Morgen. Sie überließen ihn der Sorge des Herrn Nagy Janos, dessen vier gute Pferde, von seinem jüngsten Sohne gelenkt, sie weiter beförderten.
Der Wagen ward noch mit Wegzehrung vollgepackt, dann ließ Pista den Pferden die Zügel schießen und der Wagen rasselte auf die Gasse, die Hausleute winkten ihnen eine gute Weile Grüße nach. Vor dem Wirthshause des Jakob wankten viele sehr gut gelaunte Leute umher. »Ein gutes Zeichen!« sagte Herr Csajkos.
»Nun, das war ein hartes Stück Arbeit,« bemerkte Alienor. »Ich hoffe, das Aergste ist überstanden.«
»Leider nein!« seufzte Leon. »Das Schlimmste kommt erst jetzt.«
»Was? Wieder zu Gegnern?«
»Das ginge noch an.«
»Um Gotteswillen, erschrecke mich nicht! Doch nicht wieder zu guten Freunden?«
»Weder zu Gegnern, noch zu Freunden, sondern zu den Schlimmsten: zu den Indifferenten. Mit den Bisherigen umzugehen, war ein Kinderspiel, das der erstbeste hergelaufene Kortes zuwege bringt. Aber die jetzt kommen, die Sipotaer, die stellen den Meister auf die Probe, da zeige er, was er kann. Da muß jeder Einzelne in Bewegung gesetzt werden und zur Thüre eines Jeden braucht man einen anderen Schlüssel, um zu ihnen gelangen zu können. Sipota ist für den Kortes das, was Nebel und Windstille für den Schiffer. Hier wohnen dreihundert Wähler, die entscheiden, weil Sipota der Wahlort ist.«
Es war schon ziemlich spät am Abend, als sie Sipota erreichten, das von außen ein Dorf und innen eine Stadt ist; auf dem Marktplatze stehen sogar stockhohe Häuser. Nirgends war eine Fahne ausgesteckt, worüber sich Herr Dumka maßlos wunderte. Hatte er doch fünfzig Fahnen Herrn Stipsics gesendet, der ein langjähriger treuer Parteigenosse und ein specieller Großmeister in der Kunst des Fahnenaufsteckens ist. Hat er vielleicht den Brief nicht erhalten, in dem ihm gemeldet wurde, wo er die Fahnen nehmen soll? Freilich hatte ihn Herr Stipsics erhalten, aber er vergaß im anderen Rock die Brille und als er nach Hause ging, da meldete ihm sein Wirthschafter, zwei Kühe auf der Tanya seien von der Trommelsucht befallen worden, er möge sich mit dem Trokar beeilen. Da fand er wohl den Rock mit der Brille, vergaß aber wieder den andern, in welchem der Brief war; er wird ihn schon nach der Wahl finden und dann wird er ihn lesen.
Hier kümmerte sich wahrhaftig kein Mensch um sie. Es erwartete sie Keiner, es stellte sich ihnen Keiner in den Weg. Im »großen« Gasthause, wie man den »goldenen Adler« nannte, fanden nicht Alle Platz, da nur ein leeres Zimmer vorhanden war; die übrigen waren von den Officieren okkupirt, die mit Infanterie und Kavallerie hieher beordert waren, um während der Wahl Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Herren Dumka und Csajkos mußten daher in das alte »weiße Roß« gehen, wo sie auch besser aufgehoben waren; aber Herr Dumka kam doch, sobald er sich umgekleidet hatte, zu den Herren zurück, um mit ihnen in's Kasino zu gehen.
Dieser Vereinigungspunkt der Intelligenz befindet sich gerade dem »goldenen Adler« gegenüber. Die unternehmenden Herren hatten also keinen weiten Weg bis dahin. Herr Dumka ward auf der Treppe vorausgesendet, um mit Hülfe von Zündhölzchen den hinter ihm Kommenden zu leuchten, denn dort ist's finster und eine Lampe wird als Luxus betrachtet.
Gleich vorn war der »Saal«, in dessen Mitte ein Billardtisch stand; bei diesem übte sich mutterseelenallein ein ungemein strobeliger junger Herr in der Carambole-Partie und als er sah, die Eintretenden seien Fremde, beeilte er sich, dieselben von der Bosheit des Brettes in Kenntniß zu setzen, daß es entsetzlich »ziehe« und daß die Kugel nach jedem Stoß etlichemale um sich selber herumschlendert, bevor sie irgendwo stehen bleibt. Da der Prinz weder zu einer Billard-Partie Lust hatte, noch auch die Absicht hegte, die an der Wand ringsherum hängenden martialischen Bilder der Reihe nach zu betrachten, im Lesezimmer aber nur Blätter auslagen, die man zuhause schon vorgestern gelesen hatte, so war es angezeigt, einen Blick in das Spielzimmer zu thun. Dort fand man wirklich vier Herren, die an einem Tische saßen und »Paskievics« spielten; wie man weiß, ist dieses Land dem genannten großen Feldherrn zu hohem Danke verpflichtet, weshalb man auch das beliebte Tarokspiel nach ihm benannt hat.
Nicht minder wahr ist es, daß wenn Jemand »Paskievics« spielt (vorausgesetzt, der Jemand ist gewissenhaft, versteht seine Sache und der Spaß geht um Geld), so ist die Außenwelt todt für ihn und es ist leichter, einen betenden Türken als einen Paskievics-Spieler zu einer Antwort zu bewegen. Als daher Leon den eingeführten Gast unter dessen vollem Titel: »Prinz Alienor von Nornenstein« den Herren vorstellte, sagte ihm Niemand; »Belieben Sie Platz zu nehmen!« und es ist wahrscheinlich, daß wenn Leon Herrn Dumka mit den Worten vorgestellt hätte, »und der hier ist Papst Pius IX.«, er damit keinen größeren Effekt erzielt hätte.
Es blieb nichts Anderes übrig, als auf die später Kommenden zu warten. Und da hatten sie denn einmal Glück. Der Erste, der nach ihnen eintrat, war Herr Samuel von Nagybarothi in Person, der Vertreter des Bezirkes auf dem letzten Reichstage.
Leon beeilte sich, die beiden Celebritäten einander vorzustellen: den gewesenen und den zukünftigen Abgeordneten. Beide waren außerordentlich erfreut über das seltene Glück.
Leon nahm aber Herrn Nagybarothi gleich unter den Arm und führte ihn in das Lesezimmer. »Zunächst eine Frage, die Du mir aufrichtig beantworten sollst. Willst Du in diesem Bezirke neuerdings als Candidat auftreten? Wenn ja, so werden wir in dieser Stadt, die ganz Dir gehört, nicht den Mund öffnen; wir sehen zu, daß wir weiter kommen.«
»Es freut mich ungemein, daß Du diese ehrende Frage an mich richtest. Ich hab' es von Dir erwartet. Ich kann Dir also mit voller Entschiedenheit erklären, daß der türkische Sultan und der persische Schah und der Großmogul und alle Drei zusammen nicht so viel Schätze besitzen, um derentwillen ich mich bewegen ließe, noch einmal mit dem amerikanischen Leder, womit die Bänke des Abgeordnetenhauses überzogen sind, Bekanntschaft zu machen. Ich habe erklärt, daß ich mich zurückziehe, zur Zeit der Wahl werde ich gar nicht hier sein, ich gehe mit meiner Frau nach Korytnicza. Ich habe das Meinige gethan. Genug davon drei Jahre. Soll sich jetzt auch ein Anderer rackern.«
»Du wirst also nichts dagegen einzuwenden haben, daß ich die Sipotaer Wähler zur Anhörung der Programmrede unseres Candidaten einberufe?«
»Nur zu: nur verlange nicht von mir, daß auch ich komme, denn ich erschrecke, wenn ich von derlei nur reden höre.«
»Gut. Jetzt komme zu Alienor zurück, unterhaltet Euch, bis ich in der Druckerei die Einladungs-Plakate besorgt habe.«
Damit führte er den ausgedienten Staatsmann zu dem präsumtiven Nachfolger zurück und überließ es ihnen, irgend ein Thema zu finden, über das sie diskutiren konnten – was nun ging, wie es eben gehen konnte.
Leon eilte mittlerweile in die Druckerei. Der Eigenthümer selbst war nicht zu Hause; es war die Zeit der Sumpfschnepfen und da pflegte er auf dem Anstand zu sein. Aber der Faktor war zu Hause, der Alles in Allem: Setzer, Drucker, das ganze Personal und auch Dampfmaschine ist. Außerdem ist er so taub, daß er Jedem, der zu ihm kommt, vor Allem das Papierrohr hinreicht; eine Oeffnung desselben legt er an sein Ohr, während die andere der Mittheilung harrt. Herr Lapczi setzte eben, als Leon hereinstürzte, und er vernahm durch den Tunnel mit großer Aufmerksamkeit die Bestellung, die Einladung Alienor Nornensteins bis morgen früh zu drucken; das Ganze besteht aus drei Zeilen.
Der verdienstvolle Fachmann legte sehr traurig den Winkelhaken aus der Hand, nahm den Papierschirm von der Stirne, die Brille von den Augen und den Kopf betrübt schüttelnd, sagte er: »Unmöglich.«
»Was ist daran unmöglich?« brüllte Leon ins Hörrohr.
»Na, sehen Sie: Ich setze jetzt den morgigen Theaterzettel: ›Moor Karoly‹. Auf dem Plakat aber ist Alienor Nornenstein unterschrieben. Beide mit ›Versalien‹. In beiden Namen kommen fünf große O vor. Im Kasten aber befinden sich nur vier Versal- O. Beide ›Sätze‹ können daher nicht auf einmal ›stehen‹, nicht in eine Form ›gestellt‹ werden.«
»Nun, so drucken Sie früher den Theaterzettel, dann das Plakat,« schrie ihm Leon ins Ohr. Das war wieder ein so unüberlegter Wunsch, daß Herr Lapczi ihn nicht einmal einer Antwort würdigte, sondern das Hörrohr niederlegte und die Arbeit fortsetzte. Und er hatte Recht. War er doch ganz allein das gesammte Druckereipersonal. Zudem hatte er eine noch aus der Zeit Gutenbergs stammende Holzpresse zur Verfügung, auf der jeder Handgriff drei Mal so viel Zeit in Anspruch nimmt als auf einer modernen Presse. Bis auf diese Weise fünfzig Theaterzettel fertig werden, schlägts Mitternacht und der Mensch muß doch auch schlafen. Leon wußte sich nicht anders zu helfen, als daß er den Direktor im Kaffeehause aufsuchte (an jenem Tage fand keine Vorstellung statt) und ihn dazu vermochte, den Familiennamen des Karl Moor nur mit einem » O« drucken zu lassen, was ihm auch gelang, umsomehr, als er auch darüber unterhandeln mußte, daß man ihm für morgen den großen Saal des Wirthshauses, in welchem die Bühne errichtet war, überlassen solle. Ein Hunderter, als Preis für zwei Logen erlegt, ratifizirte den Vertrag. So löste Leon die verwickelte Frage, wie es möglich sei, den Theaterzettel und die Einladungen bis morgen früh zu drucken.
Alienor war mittlerweile nach Hause gegangen und hatte sich zur Ruhe begeben. Es fehlte nicht viel, daß er Leon verschlungen hätte, als dieser ihm mittheilte, er habe die Versammlung für übermorgen einberufen. »Warum denn nicht für morgen? Wenn ich in diesem verdammten Neste einen ganzen Tag umsonst sitzen muß, werde ich grau vor Langeweile.«
»Nur nicht so hitzig! Der Zorn ist ungesund. Die Einladungen müssen einen Tag lang vom Publikum an den Mauern gesehen werden. Und Du wirst Dich gar nicht langweilen können. Es ist dafür gesorgt. Vormittags machen wir Besuche. Nachmittags kommen Deputationen zu Dir und in der freien Zeit, die Dir bleibt, mußt Du die kleine Rede auswendig lernen, die Du übermorgen in der Versammlung halten wirst, am Abend findet Dir zu Ehren eine Festvorstellung statt, dieser mußt Du bis zu Ende beiwohnen und jenem Herrn applaudiren, der den Franz und Karl Moor in Einer Person geben wird; er ist wohl kein Wähler, aber ein mächtiger Kortes und kommt viel herum.«
»Herrgott von Baiern!« ächzte Alienor. »Es kostete Louis Napoleon nicht mehr Arbeit, sich zum Kaiser von Frankreich wählen zu lassen, als bei Euch zum ungarischen Deputirten gewählt zu werden.«
»So ists,« bestätigte Leon und legte sich auch nieder.
Am Morgen sagte Leon, der erste Besuch gelte der Schusterzunft, denn heute sei Wochenmarkt und die Meister müßten später auf den »Platz« gehen. Leon und Herr Dumka flankirten nun Alienor, Herr Csajkos bildete die Nachhut: er konnte nicht entfliehen. Er mußte zum Schusterzunfthaus gehen. Dort empfing ihn eine große Versammlung; man ließ ihn obenan sitzen. Leon hielt an die Versammelten eine Ansprache, in der er auseinandersetzte, daß er und sein Candidat in der hohen Politik zur Bentham-Schule gehören, deren Grundprinzip, »wie Sie zu wissen belieben«, darin besteht, daß die Zünfte aufrecht erhalten werden, und daß man den Wiener Schustern nicht gestatten dürfe, bei uns Läden zu haben. Diese Rede wurde sehr beifällig aufgenommen. Herr Dumka, der, nachdem sich die Herren entfernt hatten, ein wenig zurückgeblieben war, holte sie bald ein und theilte ihnen freudestrahlend mit, daß der Besuch die besten Folgen gehabt habe; wir haben hier dreißig sichere Stimmen gewonnen. Und er trug sie in die Liste ein.
Von hier begaben sie sich zur Töpferzunft. Dort sagte Leon, daß die Sipotaer irdenen Krüge bei der nächsten Weltausstellung die erste Stelle erhalten müssen. (»Zwanzig sichere Stimmen!« stammelte Dumka, während er in seinem Notizbuche kritzelte.)
Dann besuchten sie Herrn Golyho, den angesehensten Spezereihändler, welcher sie in seinem Laden auf der »Puddel« sitzend empfing und von dort herab, mit den Füßen schlenkernd, mit ihnen sprach und dabei Alienor so vertraulich auf die Schulter schlug, als ob in Sipota die Prinzen wild herumlaufen würden, dazwischen hielt er ihnen einen Vortrag über die Ursachen des Zurückbleibens des vaterländischen Handels und versicherte sie schließlich seiner hohen Protektion. (»Das ist ein angesehener Mann in der Stadt,« flüsterte Herr Dumka, »für den der stimmt, für den stimmen alle Kaufleute.«)
»Haben wir noch viele solche Besuche zu machen?« fragte Alienor.
»Nur einen: bei Herrn Tozso Brnyaßtevics. Zu diesem müssen wir unbedingt gehen. Hier wohnen auch Serben, bei denen er ein- und ausgeht. Wir bedürfen seiner Freundschaft. Aber siehe da, welches Glück! Da kommt gerade Brnyaßtevics. Servus Gospodine!«
Damit hatte er den des Weges Kommenden schon festgenommen; er ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein und zwar raizisch und wie es bei echten Serben der Brauch ist, sprachen, fragten, antworteten Beide gleichzeitig und zwar sehr laut; schließlich hatte es den Anschein, als sei Herr Tozso Brnyaßtevics für die Sache gewonnen, denn beim Abschiede drückte er Alienor die Hand. Seine Hand war so kalt, als sei sie in Eis gekühlt worden.
»Wer war dieser Herr, zu dessen Nennung man zwei Menschen braucht: einen der nießt, und den anderen, der »Zur Gesundheit« wünscht.«
»Der ist das Orakel in der Stadt.«
»Und was für ein Programm hast Du ihm in meinem Namen entwickelt?«
»Er verlangte von uns in einem Athem, daß wir Bosnien und die Herzegovina befreien, den Walachen die Kirche wegnehmen und die Omladina inartikuliren sollen; ich versprach ihm außer all' dem noch daß wir ein Gesetz schaffen werden, in welchem das Tragen von Bärten verboten wird. Das hat ihn sehr gefreut und er schloß sich uns an.«
»Ist er vielleicht ein Barbier?«
»Errathen.«
»Ei, hätt' ich das gewußt! ich hätte ihn gebeten, mich zu rasiren. Seit drei Tagen bin ich nicht barbiert; das Gesicht schmerzt mich fürchterlich.« Leon lachte. »Armer Prinz!« dachte er sich, » er glaubt, er sei nicht barbiert.«
»Wohin gehen wir noch?«
»Zum Geistlichen. Den dürfen wir keinenfalls umgehen. Wir brauchen seinen Segen und seine Stimme.« Und da Alienor beim Geistlichen war, konnte er den Lehrer umgehen? Leon titulirte ihn »Herr Professor« und konnte nicht genug die musterhafte Ordnung loben, die er in der Schule gefunden. Selbstverständlich mußte man auch den Bürgermeister besuchen, weil dieser sehr viel thun kann. Eine unverzeihliche Sünde wäre es aber gewesen, den Fiskal Lorenz Igriczi zu übergehen, der die meisten Klienten hat und Anwalt der Sparkasse ist: von ihm hängt es ab, ob die Wechsel der Wähler gekündigt oder prolongirt werden sollen, was gelegentlich der Wahlen ein sehr gewichtiger Coeffizient ist. Diesen gewann Leon vollständig mit der Versicherung, daß auch Sipota einen Gerichtshof erhält, wenn Alienor gewählt wird.
(»Das sind mindestens fünfzehn Stimmen,« jubilirte Herr Dumka und verzeichnete ihn mit diesem Contingent in sein Notizbuch.)
»Laufen wir noch viel herum?« fragte Alienor, vor Müdigkeit beinahe zusammenbrechend. »Meine Füße tragen mich nicht mehr. Das gehört ja für die Mitglieder des Athletic-Klubs. Auf diesem schauderhaften Pflaster. Ich glaube, man hat diese Steine absichtlich so mit den Spitzen nach aufwärts gelegt, damit die Weiber keine Lust verspüren sollen, das Haus zu verlassen. – Haben wir noch nicht genug Stimmen zusammengebettelt?«
»Noch nicht,« erwiderte Herr Dumka; »es fehlen noch sechzig Stimmen.«
»Schlagen wir sie todt.«
»Geht nicht. Das Militär erlaubt's nicht.«
»Wir machen keine Besuche mehr,« resolvirte endlich Leon. »Wir gehen jetzt zum Mittagessen auf die Tanya.«
»Abscheuliches, kaltblütiges Volk, diese Sipotaer! Nirgends hat man uns zum Essen geladen. Mir schaudert schon vor der Wirthshauskost.« Und dieser Schauder war nicht unbegründet. Man bereitete für ihn schon die Schafskeule zu, die ihm als: » Rehfilet à la prince Alienor« servirt wird.
Auf dem Heimwege kam ihnen am entgegengesetzten Ende der Gasse ein Herr entgegen, der auf dem Kopf einen Jägerhut mit einer Krähenfeder trug und in der Hand eine Reitpeitsche hielt, als gäbe es keinen trefflichern Jäger und Reiter. »Vor dem müssen wir retiriren!« rief Leon, indem er Alienor am Arme mit sich fortzog.
»Warum?« fragte Herr Dumka erstaunt, »das ist doch unser Freund Potyasi.«
»Gerade darum verduften wir!«
»Aber Potyasi ist der gefürchtetste Rädelsführer in der Stadt, ein Kortes ersten Ranges.«
»Ich weiß dies Alles. Nur ist er ein Mensch, bei dem ein Händedruck fünftausend Gulden kostet. Das ist die Null. Darüber hinaus beginnen die Einheiten.«
Darauf wagte Herr Dumka nichts zu erwidern.
»Aber wohin retten wir uns? Er hat uns schon erblickt und kommt auf uns zu.«
»Flüchten wir zu Meister Kalan.«
Ueber dem Thor des Meisters Kalan hing eine Blechtafel, auf die eine auseinandergespreizte Scheere gemalt war: zum Zeichen, daß in dem Hause ein Schneider wohnt.
»Aber er folgt uns auch dorthin nach.«
»Das thut er nicht, weil er Meister Kalan schon seit drei Jahren zwanzig Gulden schuldet.« Und sie retirirten in die sichere Festung.
»Was sollen denn wir hier anfangen?« schmollte Alienor. »Wir machen doch bei Meister Kalan nicht etwa Staatsvisite?« »Wir bestellen für Herrn Dumka einen Paletot.« Vergebens sträubte sich Herr Dumka; er mußte sich für das allgemeine Wohl opfern und von Sipota einen Paletot nach Hause nehmen.
»Mittlerweile soll Herr Csajkos beim Thor bleiben und auslugen, ob der fürchterliche Mensch bereits seiner Wege gegangen ist.«
Meister Kalan fand nichts Merkwürdiges daran, daß ihm diese seltene Ehre zu Theil wurde. Er war nicht nur Schneidermeister, sondern auch Dichter. Wo er einen leeren Papierstreifen fand, den schrieb er mit Versen voll. Er versprach, bis Nachmittag damit fertig zu sein. Nicht mit dem Paletot, für den er Herrn Dumka das Maß nahm, sondern mit dem Siegesgedichte, das er für den Prinzen nähen werde. Da Herr Csajkos nicht kam (jener gefährliche Herr schlich wahrscheinlich noch auf der Gasse herum), ließ Leon von Meister Kalan die schönen Gedichte heraussuchen und bat ihn, einige dem Prinzen vorzulesen, welchem Ansuchen in reichlichem Maße Genüge geschah. (»Auch eine Stimme,« tröstete sich Herr Dumka, als endlich ein Zeichen des Herrn Csajkos verkündigte, daß die Luft rein sei.)
»Ein Königreich für ein Pferd!« ächzte Alienor, der nahe daran war, auf den Rücken eines seiner Begleiter zu klettern, um sich so nach Hause befördern zu lassen. Als sie dann das Essen hinter sich hatten, trieb ihn Leon so lange, bis er die für ihn angefertigte Programmrede vornahm und auswendig lernte. Dann mußte er sie deklamiren: Leon unterwies seinen Schützling in der richtigen Aussprache der ungarischen Worte; er lehrte ihn die Doppellaute deutlich hervorzuschmettern, das › ö‹ mit dem › ü‹, das › b‹ mit dem › p‹ nicht zu verwechseln, die letzte Sylbe der Sätze nicht in französischer Manier zu dehnen, sich nicht zu überstürzen, sondern das Wort langsam und behäbig auszusprechen und die letzten drei Zeilen mit erhobener Stimme und mit ganzer Anstrengung der Kehle in die Menge hineinzuschleudern, denn nur so werde der Effekt vollständig sein.
»Jetzt gehen wir ins Theater.«
Einer Vorstellung von Karl Moor bis zu Ende beiwohnen! In Sipota!
In der Nacht beschäftigte sich Alienor mit dem Gedanken, der ganzen Herrlichkeit den Rücken zu kehren. Er wartete nur ab, bis sich Leon zur Ruhe begab. Nur konnte er diese Absicht nicht zur Ausführung bringen, weil sich Leon nicht niederlegte. Er ließ den großen Saal des Wirthshauses öffnen, wo sich die Bühne befand und dort machte er mit Herrn Dumka und Herrn Csajkos – Statistik.
Am Morgen blieb Alienor nichts übrig, als sich wieder an die Programmrede zu machen, die ihn Leon noch einmal recitiren ließ. »Nie in meinem Leben war mir so elend zu Muthe, wie jetzt,« klagte Alienor, in dem engen Zimmer aufgeregt hin- und hergehend, wie der Menagerie-Tiger in seinem Käfig. »Als würde ich in einer Stunde zur Hinrichtung geführt. Wenn man eine Thüre zumacht, geht's mir durch alle Glieder. Ich wollte, ich wäre schon darüber hinweg.«
Leon tröstete ihn, daß »man sich nur bei der ersten Gelegenheit so fühle; bei der dritten, vierten Wahl wird es Dich nicht im Geringsten geniren.«
»Na, der Schnell-Läufer existirt nicht, der mich einholt, wenn man mir noch einmal sagt, ich solle als Candidat auftreten.«
»Trink' ein wenig rothen Wein.«
Leon ließ für Alienor rothen Wein bringen. Davon ward ihm so schwindelig, daß er die ganze Programmrede vergaß. Darauf trank er wieder kaltes Wasser in solcher Menge, daß es ihm den Magen umdrehte. Endlich war der gefürchtete Augenblick gekommen. Die Deputation war angelangt, die den Candidaten vor die Versammlung lud. Herr Dumka war der Sprecher.
»Du, der Du seit Deiner zartesten Jugend ...«
Mit einem Worte: das Publikum war versammelt und erwartete die Programmrede. Man führte den Candidaten zu jener Thür, die auf die Bühne führt. Dort sollte die Rednertribüne sein. Die Zuhörer okkupirten den Zuschauerraum.
»Der Saal ist gesteckt voll!« flüsterte freudestrahlend Herr Dumka.
Als man Alienor auf die Bühne führte, glaubte er, man habe ihn in den Feuerofen zu Schidrak, Mischak und Abedungo gestoßen. Ellbogen an Ellbogen standen die Leute neben einander und sie strahlten eine veritable Siedehitze aus. Es herrschte eine wahre Dampfbad-Atmosphäre.
Leon stellte ihn den Wählern vor und richtete an ihn das Ansuchen, sein Programm darzulegen.
Alienor machte sich an die schwere Arbeit. Er sagte die eingelernte Rede her in einem Tone, als ob man ihm einen Wollsack auf die Brust gelegt hätte; Niemand hörte ein Wort davon. Dann aber trat Leon vor und setzte auseinander, dies seien, kurz zusammengefaßt, die Prinzipien, die das politische Glaubensbekenntniß des Candidaten bilden, und die er nun so frei sein werde, ausführlicher zu entwickeln.
Er hielt hierauf eine schöne, ernste und gescheidte Rede, in welcher er all Das sagte, was die Wähler nothwendigerweise verstehen mußten. Die Rede dauerte sieben Viertelstunden. Alienor litt mittlerweile Todesqualen. Auch er mußte während dieser ganzen Zeit neben seinem interpretirenden Freunde stehen. Er sah keine menschlichen Gesichter mehr, sondern nur ein blaues und grünes Chaos, er hörte keine Rede, sondern ein unaufhörliches Brausen im Ohre, dazwischen hinein vernahm er heulenden Sturm (das war der zustimmende Beifall des Publikums). Der Schweiß troff von ihm in hellen Tropfen, in den Beinen fühlte er ein Kribbeln, als liefen daran Ameisen auf und nieder und das ganze Gebäude drehte sich mit ihm im Kreise.
Während sieben Viertelstunden waren Wählerversammlung und Candidat mürbe gekocht; dann leerte sie der Koch aus der Pfanne. Man konnte mit ihm zufrieden sein.
Alienor wußte nicht, wie er wieder in sein Zimmer gelangte. »Mein Freund,« sagte er zu Leon, als er wieder im Besitz seiner fünf Sinne war, »der Sultan von Dahomey, der die Fremden in eine mit Zecken gefüllte Grube werfen und sie auf diese Weise zu Tode peinigen läßt, ist im Vergleich mit Euch ein seelenguter Mensch.«
Nach der Versammlung löste eine Deputation die andere ab und alle gaben ihrer Zufriedenheit mit dem Gehörten Ausdruck. Auch Herr Nagy Janos aus Gezetlen war erschienen und erklärte, daß diese heutige Rede nichts zu wünschen übrig lasse. Aber die angenehmste Ueberraschung harrte Alienors, als die Deputation der Sipotaer Schusterzunft bei ihm erschien, und ihm den Meisterbrief überreichte, welchem zufolge Prinz Alienor von Nornenstein einstimmig zum Ehrenmitglied der ehrsamen Schusterzunft von Sipota gewählt ward, Urkund dessen am heutigen Tage dieser mit dem Siegel versehene Brief ausgestellt wurde.
»Du Leon,« sagte Alienor, »ich bin also jetzt der College dieser Schuster? Sehr gut. Wenigstens kann ich jetzt, wenn Fürst Oktavian kein Geld hergeben will, damit drohen, daß ich an meiner Wohnung eine Tafel befestigen lasse mit der Aufschrift: Prinz Alienor Nornenstein, Schustermeister, empfiehlt sich dem geehrten Publikum zu geneigten Aufträgen in allen Arten von Flickarbeiten.« Gegen Mittag begannen sich an Alienor schwache Spuren der beginnenden Gelbsucht zu zeigen.
Herr Dumka und Herr Csajkos hatten alle Hände voll zu thun. Den ganzen Nachmittag schossen sie in der Stadt herum und kamen mit gerötheten Gesichtern und glühenden Stirnen nach Hause, um Leon Meldung zu erstatten, der sich, gleich dem Kassier einer zu wohlthätigem Zwecke veranstalteten Tombola, nicht vom Flecke rührte: »Der Michael Nagy-Csonka hat unseren Bogen unterschrieben!« dann wieder: »Der Gregor Kulimaß ist soviel wie gewiß!« – »Herr Talyiga sammt Sohn sind unser!«
Leon notirte und correspondirte. Dann kam Meister Kalan und brachte das Siegeslied für den Herrn Candidaten. Es war ein sehr schönes Gedicht. Nach einer Stunde stürmte er wieder herein: er brachte einige neue Strophen, die noch viel schöner waren.
Leon sekundirte ihm beim Singen.
Alienor fühlte sich dem stillen Wahnsinn nahe. »Du, Leon,« ächzte er mit ersterbender Stimme, »ich bin in diese Wahlagitation schon so hineingehetzt, daß ich glaube, das Heil Ungarns, der Friede von Europa, der Triumph des Christenthums und unser Aller Seelenheil hänge davon ab und daß, wenn wir unterliegen, für mich nichts Anderes übrig bleibt, als mich im Vereine mit ganz Sipota in die Luft zu sprengen.«
Um sechs Uhr Nachmittags kehrten Herr Dumka und Herr Csajkos mit der betrübenden Kunde heim, daß noch immer fünfundzwanzig Stimmen fehlen, die auf keine Weise erworben werden können. Die gegnerische Partei sei um diese Zahl stärker. »Aber du lieber Himmel,« sagte Alienor, »wir haben doch keinen Gegenkandidaten.«
»Freilich nicht!« lamentirte Herr Dumka. »Die Gegenpartei verheimlicht nur seinen Namen, aber er ist versteckt. In der letzten Stunde rücken sie mit ihm hervor. Sie pflegen's immer so zu machen. Die Intriguanten.«
»So will denn ich was ersinnen,« sagte Leon. »Ich will mich in der Stadt umschauen. Herr Dumka, bleiben Sie zu Hause.« Spät am Abend kehrte er zurück. »Heureka! Ich habe gefunden, was wir brauchen! Ich habe noch vierzig sichere Stimmen.«
»Laß hören, laß hören!«
»Zuerst habe ich zehn sichere Stimmen entdeckt. Wo? Im Choleraspital. Dort sind zehn Stück reconvalescente Kranke, an die Niemand gedacht hat. Morgen früh besuchen wir das Spital und alle zehn Stimmen gehören uns und außerdem wird dies den besten Eindruck auf die Bevölkerung machen.« Zu diesem Vorschlag schnitt auch Herr Dumka eine Grimasse.
»Meine zweite Entdeckung ist noch wichtiger.« »Laß hören, laß hören.«
»Unsere mosaischen Mitbürger verfügen in dieser Stadt über dreißig Stimmen. Ich habe erfahren, daß dem Schächter in der Nacht ein Knabe geboren wurde. Ich machte mich an ihn und redete ihm zu, den Prinzen Alienor zum Gevatter zu bitten. Der wackere Mann hat es zugesagt.«
»Was? Was ist das?« unterbrach ihn Alienor.
»Oh, eine sehr einfache Ceremonie. Der Gevatter hat nichts Anderes zu thun, als sich nach beendigtem religiösem Akte zum gedeckten Tische zu setzen. Der Operateur beginnt nun ein Gebet in chaldäischer Sprache; dann erhebt er ein mit Wein gefülltes Glas, kostet ihn und giebt es weiter. Die um den Tisch Sitzenden kosten der Reihe nach, bis es wieder zum Gevatter zurückgelangt, der den Rest bis zur Neige austrinkt. Das ist eine sehr schöne patriarchalische Ceremonie.« Das war ein glänzender Gedanke von Leon; damit sind alle semitischen Mitbürger für unseren Candidaten gewonnen!
Dann vertheilten die drei Kortesführer die Rollen. In der Nacht wird Leon sämmtliche Wirthshäuser des oberen und Herr Csajkos die des unteren Stadttheils besuchen und die Bürger capacitiren, während Herr Dumka im »Weißen Roß« bleibt, um die einlangenden Meldungen zu übernehmen: der Herr Candidat wird sich selbst überlassen, um sich nach Belieben ausruhen zu können.
Damit ging Jeder seiner Wege.
Um drei Uhr Morgens, als Leon von der Wirthshausinspektion nach Hause ging, stürzte ihm Herr Csajkos schreckensbleichen Antlitzes mit der erfreulichen Nachricht entgegen: »In der Nacht ist Prinz Alienor durchgegangen und Herr Dumka ist verrückt geworden.«
*