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Fürst Maximilian von Etelvary war acht Tage nach dem Ausbruche des Krieges nach Helgoland abgereist.
So wie er dessen gewiß sein durfte, daß sein Vaterland nun nicht mehr in den Kampf verwickelt werden könne, gab er dem Drängen seiner Aerzte nach. Es that ihm absolute Ruhe noth. Und solcher Ruhe ist diese Insel inmitten des weiten Meeres so zuträglich; eine steil aufragende, rothe Felsenmasse, am Fuße von weißen Sandbänken umringt, den Scheitel mit grünen Angern bekrönt. Auch die Flagge der Insel ist grün, roth und weiß. Es ist ein kleiner idealer Staat mitten in der unendlichen See. Er hat sogar seinen Reichstag, der allerdings nur aus sechs Mitgliedern besteht; doch das hat eben den Vortheil für sich, daß sich in diesem Landtage unmöglich sieben Parteien bilden können, wie im Parlamente eines andern Staates mit roth-weiß-grüner Fahne wohl. Im Uebrigen liebt man hier sein Vaterland so gut als irgendwo, obschon es ein Boden ist, der kein Brod bietet. Die Erde giebt hier nur Kartoffeln; das Meer ringsum giebt Fische und die Luft über dem Lande Wandervögel. Und doch lieben seine Kinder dieses Land. Das Meer unterwühlt die Felsen sichtlich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr; es höhlt unterirdische Dome in ihrem Schooße aus; das Land wird von Jahrhundert zu Jahrhundert an Umfang geringer, Stück für Stück löst sich von seinen Küsten, endlich wird es ganz verschwinden sammt dem Volke, dessen Sprache von Tag zu Tag seltener gesprochen wird. Und doch liebt das Volk sein Vaterland.
Jeden Sommer kommen die vornehmen Leute zu Tausenden hieher, die körperliches Siechthum oder Lebensüberdruß von dem glücklichen Festlande auf die öden Sandbänke treibt. Wer von der Welt nichts wissen will, braucht hier absolut nichts von ihr zu hören.
Fürst Max Etelvary hatte seit seiner Ankunft auf der Insel kein Zeitungsblatt, keinen Brief vom Continente zu Gesichte bekommen. Ihm selber gestattete der Hausarzt das Lesen durchaus nicht. Raphaela las ihm regelmäßig aus Jules Verne's Romanen vor.
Der ganze Abschnitt der Weltgeschichte, der sich während dieser kritischen sechs Wochen ereignet hatte, war ihm unbekannt geblieben. Sein Ordinarius ging mit der Politik nicht anders um, als mit den sonstigen tödtlichen Giften auch; er bestimmte vorkommenden Falles genau, wie viele Tropfen von einem Gran gereicht werden dürfen, so sorgfältig als ob er Morphium oder Kirschlorbeer verordnete. Absolutes Stillschweigen würde den Kranken erst recht erregt haben. So viel mußte man ihn wissen lassen, daß der Krieg im Zuge sei; doch nur zwischen zwei Parteien und mit wechselndem Glücke; die drei neutralen Großmächte bieten übrigens Alles auf, die kriegführenden Staaten zu einem ehrenvollen Friedensschlusse zu bewegen. Alles in Allem war das auch richtig.
Damals durfte man dem Fürsten auch noch immer erzählen, wo die einzelnen Schlachten oder bedeutenderen Gefechte vorgefallen waren. Die Umgegend von Metz liegt ja noch an der Grenze. Rézonville, Gravelotte, Sainte Marie aux Chênes, Saint Privat la Montagne, Straßburg – lauter Namen, die in der Geschichte dieses Krieges an sich nichts weiter bewiesen, als daß beide Theile noch immer mit gleichen Kräften kämpften. Ueber die Details durfte vor dem Fürsten schon nicht mehr gesprochen werden. Das würde ihn aufgeregt haben. Man sagte ihm, der Friede sei in Bälde zu gewärtigen; dem nationalen Stolze, der Ehre sei beiderseits nachgerade genug gethan. Der Fürst nahm die »Reise in den Mond« vor und überließ sich ganz und gar den Eindrücken der wundersamen Geschichte von dem Projektil, das da in den Mond abgeschossen wird. Er war vielleicht der einzige Mensch in Europa, den damals das Schicksal »dieses« Geschosses interessirte. Wird die Kugel den Mond erreichen? – Das beschäftigte ihn in jenen Tagen, als alle Welt fragte: Wird Mac Mahon wohl Paris erreichen? Das Aluminium-Geschoß erreichte den geheimnißvollen Himmelskörper nicht; es flog an demselben vorbei, – ein Ereigniß, dessen Ursachen uns der Dichter weit klarer darlegt, als die Strategen die Gründe zu entwickeln wissen, weshalb Mac Mahon Paris nicht erreichte. Was geschieht nun aber weiterhin mit den Passagieren des wunderbaren Projektils? Das interessirte den Kranken in hohem Grade. Die Gefahr des Zusammenstoßes mit der Feuerkugel, die ihnen entgegenkommt, war bereits glücklich vorüber; bei dem Scheine derselben vermochten sie einen flüchtigen Blick auf die jenseitige, bewohnte Hemisphäre des Mondes zu werfen.
Eines Tages im September sagte der Arzt zu seinem Kranken: »Der Krieg kann als beendigt angesehen werden. Die Ereignisse haben eine derartige Wendung genommen, daß nunmehr Friede geschlossen werden ›muß‹.«
Der Kranke ließ es schließlich mit voller Beruhigung dabei bewenden, daß das fliegende Geschoß nach dem Gesetze der Parabel vom Monde zurückkehren müsse und wieder auf die Erde fallen werde. Wenn nur den Passagieren kein Unfall passirt!
Eines Nachmittags, als der Fürst eben in ruhigen Schlaf versunken war, schreckte ihn plötzlich ein Kanonenschlag auf, dem nach wenigen Sekunden ein förmliches Pelotonfeuer aus Geschützen schweren Kalibers folgte.
Der Kranke sprang auf und stürzte ans Fenster; er riß die Vorhänge von demselben und blickte auf das Meer hinaus. Draußen auf der grünen Wasserfläche standen vier eisengepanzerte See-Ungeheuer unter weißschwarzer Flagge gegen vier ähnliche Leviathane, welche die roth-weiß-blaue Flagge führten. Die beiden Geschwader feuerten aufeinander. Vergebens flüchtete der Kranke, der Weltscheue, der Europamüde in die Einöde des Felseneilandes; die Meerschiffe tragen den Krieg bis hart an seine Zufluchtsstätte und regaliren ihn mit Kanonengebrülle. Die Seeschlacht währte den ganzen Nachmittag über. Zum Sinken wurde von den Panzerschiffen keines gebracht. Längst schon hatte sich die Nacht auf die unermeßliche Fläche herniedergesenkt, als noch immer vereinzelte Blitze, draußen am Horizonte aufleuchtend, die Bahn bezeichneten, welche die zwei feindlichen Geschwader kämpfend weiter zogen.
Das war der Gnadenstoß gewesen; er hatte den Todkranken ins Herz getroffen. Als die Kanonade verstummt war, stand er an allen Gliedern zitternd da; marternde Krämpfe preßten ihm das Herz zusammen. Der Arzt war besorgt zu seiner Pflege herbeigeeilt – die Feuerschlünde dort draußen vermochte er nicht mit ärztlichem Verbote zu belegen. Der Kranke wies ihn zurück und schob das Codein von sich, das ihm gereicht werden sollte. Er brauchte keine beruhigenden Mittel mehr. »Gebet mir die heute eingelangten Zeitungen! Ich will Alles wissen.«
Er gehorchte nicht mehr, er befahl! Das ist das gute Recht der Kranken bei den letzten Schlägen des Herzens. Der Arzt flüsterte Raphaela zu, der Fürst werde den Morgen nicht mehr erleben.
Und dann gab man ihm die jüngst angelangten Zeitungen. Welch eine entsetzliche Lektüre – Ein Zeitungsblatt aus den Septembertagen des Jahres 1870! Und all das hatte er vorhergesehen, vorausgefühlt, er hatte gewußt, daß es so kommen werde. Seine letzte Lebenskraft hatte er in dem Bemühen verschwendet, das Fatum abzuwenden. Man hatte ihm nicht geglaubt. Und nun waren sie alle dahin, die nicht hatten glauben wollen, die Träger der gestern noch so glänzenden, großen historischen Namen, die Lenker der Weltgeschichte – dahin, zunichte geworden, untergegangen! Nun konnte auch er untergehen, sie hatten einander nichts weiter mehr zu sagen.
Der Fürst hieß seine ganze Umgebung das Zimmer verlassen, nur seine Tochter bat er zu bleiben. »Raphaela, mein Kind, ich hätte noch einen Brief zu schreiben, aber meine Hand zittert, ich vermag die Feder nicht zu führen, und meinem Sekretär kann ich die Sache nicht vertrauen. Willst Du an meiner Statt niederschreiben, was ich Dir diktiren werde?«
Raphaela legte ohne ein Wort zu erwidern die Schreibgeräthe auf dem Tisch zurecht, setzte sich ihrem Vater gegenüber und faßte mit ihrer Linken seine Hand, um von seinen Lippen abzulauschen, was er flüstern würde und aus seinem Händedrucke zu errathen, was er etwa nicht aussprechen könnte. »Schreibe oben über das Blatt: ›An Leon Zarkany.‹« Raphaela nahm die Feder und schrieb: »Lieber Leon! Ich stehe am Ende meiner Lebensbahn. Was ich in diesem Augenblicke rede, sind meine letzten Worte und sie sind an Dich gerichtet. Du weißt, was Du mir gewesen bist. Nur Deine Seele war mein, weiter nichts; und bei meinem Tode vermag ich Dir nur meine Seele zu hinterlassen, weiter nichts. Denn was ich Dir überdies hinterlasse: dieses arme Vaterland, welches die Diplomaten ein »anonymes« Land genannt haben, – das ist kein Erbe, das ist nur eine Schuld. Du kennst den Abgrund, mit dem es unterwühlt ist; Du kennst den Sturm, der über dasselbe hereinzubrechen droht: ich habe sie Dir gezeigt. Du kennst die namenlose Thätigkeit, die für die Aufrechterhaltung des Vaterlandes kämpft, das Werk, an dem Du mitgewirkt hast, unter dessen Wucht ich zusammengebrochen bin. Vom morgigen Tage an wirst Du Niemanden mehr haben, dem Du helfen könntest an seinem Werke, Niemanden, der Dir helfen könnte. Ein einziger Hoffnungsstrahl ist es, der mich in das Jenseits geleitet. Ich lasse zwei Schätze hier zurück; der eine gehört meinem Vaterlande, der andere meinem Herzen; der eine ist mein großer irdischer Besitz, der andere ist meine Tochter.«
Er hielt ein. Irgend etwas bedrückte ihm das Herz. »Finsterniß!«
Raphaela schrieb auch dieses Wort nieder. Dann trat sie zu ihrem Vater, schloß sein Haupt in ihre Arme und preßte ihre Lippen auf seine Stirne. Der Sterbende kämpfte seine Qualen nieder. »Wo bin ich geblieben?«
»Finsterniß« – las Raphaela.
»Was wollte ich doch mit dem Worte sagen?«
»Vielleicht hast Du sagen gewollt: Finsterniß würde mich im Jenseits umfangen, wenn ich denken müßte, diese meine Schätze seien in schlimme Hände gekommen.«
»O wie treu erräthst Du meine Gedanken. Ja, ja, das habe ich gedacht! Du verkehrst bereits unmittelbar mit meiner Seele. Schreib' es nur nieder. Ja – nun weiß ich auch wieder, wie ich fortfahren wollte: »Wenn nicht ein Hoffnungsstrahl mich dahin geleitete: die Hoffnung, daß Jemand hienieden zurückbleibt, der meine Stelle ausfüllen wird, auf den zugleich mit meinem Willen auch meine Kraft als Erbe übergeht. – Und dieser Mann bist Du. Du hast meine Mission verstanden. Wer da kämpfen will, muß hinaustreten auf den Plan. Vom jenseitigen Ufer des Flusses ein groß Geschrei erheben, ist zu gar nichts nütze. Du hast begriffen, daß die Vaterlandsliebe ohne Einfluß nur Lebenstrieb ist, aber nicht Lebenskraft. Du hast Dich der Aufgabe unterzogen, die damit anhebt, daß sie Entsagung fordert, Resignation auf alle die süßen Schwärmereien der Jugend. Verstand, Wille, Liebe und Befähigung müssen sich vereinen zu diesem Deinem Streben; drei dieser Vorbedingungen besitzest Du bereits, auch die vierte mag Dir wohl werden.« – Ach, Raphaela, ich kann nicht weiter. Meine Ideen martern mich. Wie so nichtig ist doch Alles, was der Mensch baut und gestaltet! – Schicke nach meinem Beichtvater; meine letzte Stunde naht heran. Doch nein, steh' nicht auf! Ich habe den Faden wieder gefunden. Schreibe: »Meine letzte Stunde naht heran. Ich wünsche in vaterländischer Erde zu ruhen, an der Seite meiner guten, unvergeßlichen Gattin. In diesen kriegerischen Zeiten darf meine Tochter sich nicht allein hinauswagen auf die See. Die Schrecknisse des Krieges erstrecken sich bis hieher. Mein ganzes Gefolge besteht aus unerfahrenen, unbeholfenen Menschen. Komm' Du, mich heimzuholen, geleite meinen Sarg ins Vaterland. Sei der Reisegenosse meiner Tochter, ihr Hort inmitten der Gefahren des Meeres. Lasse sie den ganzen Adel Deiner Seele, den vollen Schatz Deines Manneswerthes erkennen in den Tagen des Schmerzes und der Gefahr ...« Schreibst Du denn auch, was ich Dir vorsage, meine Tochter?«
»Ja, Vater, ich schreibe.«
»Und mein Segen ruhe gemeinsam auf Euch Beiden, auf Deinem und auf ihrem Haupte. – Hast Du auch das geschrieben? – Nun denn, reiche mir das Blatt her, gieb mir die Feder, ich will unterzeichnen.«
Raphaela trug das kleine bewegliche Schreibpult dem Vater hin, knieete vor ihm nieder und hielt es ihm dar, bis er mit zitternder Hand zum letzten Male seinen Namen unterzeichnet hatte.
»Es ist gut,« flüsterte der Sterbende beruhigt, und schloß das Haupt seines Kindes an seine Brust, um es noch einmal zu küssen. – »Siegle nun den Brief. So, ich danke Dir. – Küsse mich. – Lege Deine Hände, zum Gebet gefaltet, noch einmal hieher, auf mein Herz. – Wir wollen nicht Abschied nehmen von einander; wir scheiden ja nicht. – Laß mir den Priester kommen.«
Und als der abnehmende Mond wieder aus dem Meere emporstieg, war er von hinnen gegangen, hinüber in das unermeßliche Dunkel, wohin von dieser düstern Erde so glänzende Hoffnungsstrahlen Denjenigen geleiten, der da glaubt an ein ewiges Leben.
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