Jean Paul
Leben des Quintus Fixlein
Jean Paul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfter Zettelkasten

Der Kantatesonntag – zwei Testamente – Pontak – Blut – Liebe

Die Frühlingsmonate kleiden die Erde neu und bunt, aber den Menschen meistens schwarz. Gerade wenn unsere Eisregionen zu fruchtbaren werden und die Blumenwellen der Auen über unsern Weltteil zusammenschlagen: so stoßen uns überall Menschen in Flören auf, deren Frühlingsanfang voll Tränen ist. Aber auf der andern Seite ist ja das Aufblühen der verjüngten Erde die beste Kurzeit gegen den Schmerz über die, die in ihr liegen, und Blumen verhüllen uns Gräber besser als Schnee. – – Der alte Lehrer des Konrektors, Astmann, begegnete im April, der weniger veränderlich als tödlich ist, dem Tode, der ihm das am Magen siechende Gehirn eindrückte. Man wollte seinen Abschied der Rittmeisterin verdecken; aber das ungewöhnliche Leichengeläute trug ihr seinen Schwanengesang ans Herz und setzte die Abendglocke ihres Lebens allmählich in ähnlichen Schwung. Alter und Leiden hatten an ihr schon dem Tode die ersten Einschnitte vorgezeichnet, daß er wenig Mühe brauchte, sie ganz zu fällen; denn den Menschen geht es wie den Bäumen, die lange vor dem Umsägen eingekerbet werden, damit ihnen der Lebenssaft entfließe. Der zweite Schlagfluß traf sie in geringer Entfernung vom letzten: es ist sonderbar, daß der Tod, wie Gerichte, die Schlagflüssigen dreimal zitieret.

Die Menschen schieben ihren letzten Willen gern so lange hinaus wie ihren bessern: die Rittmeisterin hätte vielleicht alle ihre Stunden bis auf die sprachlose und taube ohne Testament verrollen lassen, hätte nicht Thiennette in der letzten Nacht, ehe sie aus der Krankenwärterin die Leichenfrau wurde, die Sieche auf den armen Konrektor gebracht und auf sein darbendes Leben und auf die schmalen Lebensdiäten und Alimentengelder, die ihm das Glück ausgeworfen, und auf seine leere Zukunft, wo er als gelbes mattes Gewächs in den trockenen Dielen-Fugen der Schulstube zwischen Schülern und Gläubigern welken werde. Ihre Dürftigkeit war ihr das Modell zur seinigen, und ihre innern Tränen waren die flüssigen Tuschen ihres Gemäldes. Da die Rittmeisterin nur für Domestiken testierte und bei den männlichen anfing: so stand Fixlein obenan – und der Tod, der ein besonderer Hausfreund des Konrektors sein muß, hob nicht eher seine Sense auf und tat den letzten Schnitt, als bis sein Muttersöhnchen mit vernehmlicher Stimme zum Testamentserben erkläret war: dann schnitt er alles ab, Leben, Testament und Hoffnungen. –

Als der Konrektor auf einem Wäschezettel seiner Mutter diese zwei Todes- und Hiobsposten in seiner Sekunda erfuhr: so war das erste, was er tat, daß er die Sekundaner entließ und in Tränen ausbrach, ehe er im Konrektorat angekommen war. Ob ihm gleich die Mutter mit geschrieben hatte, daß er im Testament bedacht geworden – ich wünschte aber, der Gerichtshalter hätte ausgeplaudert, wie viel es gewesen –: so fielen ihm fast mit jedem O, das er masorethisch in der deutschen Bibel assortierte und eintrug, große Tropfen in die Feder und machten die Dinte zu blaß. Ihn zerfraß nicht der poetische Schmerz des Dichters, der die klaffenden Wunden in Leichenschleier hüllet und den Schrei durch sanftes Trauergetöne bricht, noch der Schmerz des Philosophen, den ein offnes Grab in das ganze Katakomben-Geklüfte der Vergangenheit einschauen lässet und vor dem sich der Todesschatten eines Freundes zum Schattenkegel der ganzen Erde aufrichtet – sondern ihn preßte das Weh eines Kindes, einer Mutter, die schon der Gedanke – ohne Nebenbetrachtungen – bitter zerknirscht: »So soll ich dich nicht mehr sehen, so sollst du verwesen, und ich sehe dich, du gute Seele, niemals, niemals mehr.« – Eben weil er weder den poetischen noch philosophischen Kummer hatte, machte jede Kleinigkeit einen Absatz, eine Lücke in dem seinigen; und er war wie ein Weib noch denselben Abend fähig, sich einige künftige Gebrauchszettel seiner angekündigten Erbschaftsmasse zu entwerfen.

Vier Wochen darauf, d. h. den 5. Mai, wurden die Testamentssiegel aufgebrochen; aber er ging erst den 6. (am Kantatesonntag) nach Hukelum ab. Seine Mutter lief seinen Grüßen mit Tränen entgegen, die sie über die Leiche vergoß – vor Trauer – und über das Testament – vor Freude. – Dem zeitigen Konrektor Egidius Zebedäus war verehrt: erstlich ein adeliges großes Bette mit einer Spiegeldecke, in dem der Riese Goliath sich hätte umwenden können und an das nachher ich und die Leserin näher treten wollen, um es zu prüfen – zweitens wurde ihm als rückständiges Osterpatengeld für jedes Jahr, das er zurückgelegt, ein Zopfdukaten legiert – drittens sollen ihm alle Rezeptions- und Stationsgelder, die ihn die Kreuzeserhöhung in das Quintat und Konrektorat gekostet, bei Heller und Pfennig erstattet werden. – »Und weißt du denn«, fuhr die Mutter fort, »was die arme Fröhlen kriegt? – Ach Gott! nichts! nicht den roten Heller da!« – Denn der Tod hatte die Hand starr gemacht, die sich gerade ausstrecken und der armen Thiennette einen kleinen Regenschirm gegen die Strichgewitter und Blutregen ihres Lebens reichen wollte. Die Mutter berichtete diesen Fußstoß des Glücks mit wahrem Mitleid, das bei den Weibern den Neid ablöset und das ihnen leichter wird als die Mitfreude, die mehr männlich ist. In manchen weiblichen Herzenskammern sind Mitleiden und Neid so nahe Wandnachbarn, daß sie nirgends tugendhaft wären als in der Hölle, wo die Menschen so erschrecklich viel ausstehen, und nirgends fehlerhaft als im Himmel, wo die Leute des Guten zu viel haben.

Der Konrektor hatte nun auf Erden den Himmel, in den seine Wohltäterin aufgeflohen war. Zuallererst sprang er – ohne sein Schnupftuch einzustecken, in dem seine Rührung war – die Treppe hinauf, um das große testierte Bette aufgeschlagen zu sehen: denn er hatte eine weibliche Vorliebe für Möblen. Ich weiß nicht, ob der Leser schon in alte Ritterbetten geschauet hat oder gestiegen ist, in die man durch eine kleine Treppe ohne Geländer, die daran hängt, leichtlich kommen kann und in denen man im Grunde allemal eine Treppe hoch schläft. Nazianzen berichtet (Orat. XVI), daß schon die Juden hohe Betten mit solchen Hühnerleitern gehabt, aber bloß des Ungeziefers wegen. Die legierte Bette-Arche war gerade so groß – und ein Floh hätte sie nicht mit Erddiametern, sondern mit Siriusweiten gemessen. Als Fixlein von diesem kolossalischen Dormitorium die Vorhänge zurückgeschoben und den Bettehimmel in einem großen Spiegel offen gesehen hatte: wär' er gern darin gewesen; und wenn er aus dem Nachtkegel in Amerika einen Kegelschnitt hätte nehmen können, er hätte sich damit eingebauet, um nur eine halbe Stunde mit seiner dünnen Rutentaille im Flaum-Weiher herumzuschwimmen. Die Mutter hätte ihn durch längere Kettenschlüsse und Kettenrechnungen, als das Bette war, nicht dahin lenken können, den breiten Spiegel oben ausbrechen zu lassen, obgleich sein großer Spiegeltisch sich in nichts besehen konnte als in einem Rasierspiegel; – er ließ den Spiegel oben daran: »Sollt' ich einmal g. G. heuraten«, sagt' er, »so kann ich doch gegen Morgen meine schlafende Frau ansehen, ohne daß ich mich im Bette aufsetze.«

Was den zweiten Artikel anlangt, nämlich die legierten Patenpfennige: so macht' es gestern seine Mutter recht gut. Der Gerichtshalter hörte sie über die Jahre des Erben ab, und sie legte diesem geradezu die Dental-Zahl zweiunddreißig bei. Sie hätte gern gelogen und den Sohn wie eine Inschrift für älter verkauft; aber gegen diese veniam aetatis würden, sah sie, die Rechte mit Rechten exzipieret haben: »es sei erlogen und erstunken; wäre der Sohn zweiunddreißig alt: so wär' er ja längst Todes verfahren, wie nun wohl nicht anders zu präsumieren.«

Und gerade unter der Erzählung sprach ein Aufhammerischer Bedienter ein und reichte gegen Revers und gegen Ratifikation des von der Mutter ausgestellten Geburtsscheines die Goldstange von zweiunddreißig Rechen-Pfennigen des Alters dem Konrektor wie eine Lebens-Ruderstange zu: Herr von Aufhammer war zu einem knauserischen Hader über einen bürgerlichen Geburtsschein zu stolz.

Und so ging durch eine stolze Freigebigkeit einer der besten Prozesse vor die Hunde, da man die Goldstange auf der Ziehbank der Richtersbänke zu dem feinsten Golddraht hätte ausziehen können. Aus der Flocke, die nicht auszuwirren war – denn erstlich konnte Fixleins Alter mit nichts dokumentiert werden, zweitens mußte man, so lange als er lebte, präsumieren, daß er noch nicht zweiunddreißig Jahre alt gewordenDa wir jetzt nach den vorliegenden Akten auf keine andere Präsumtion bauen können als auf die, daß er im zweiunddreißigsten Jahre abstirbt: so konnte ihm, im Falle er zweiunddreißig Jahre nach dem Tode der Erblasserin stürbe, gar kein Heller abgereicht werden, weil er nach unserer Fiktion bei Abfassung des Testamentes nicht einmal ein Jahr alt gewesen wäre.  –, aus dieser Flocke wären nicht bloß Seide und Strangulier-Schmachtriemen, sondern ganze Prellgarne zu spinnen und zu zwirnen gewesen. Die Klienten überhaupt hätten sich weniger über Prozesse zu beklagen, wenn diese länger dauerten: die Philosophen streiten jahrtausendelang über philosophische Fragen, und es fällt daher auf, daß Advokaten die juristischen in ihren Akten schon in sechzig, achtzig Jahren von der Hand schlagen wollen. Aber das ist nicht die Schuld der Rechtsfreunde: vielmehr wie Lessing von der Wahrheit behauptet, daß nicht das Finden, sondern das Suchen derselben den Menschen beglücke und daß er selber dem Geschenke aller Wahrheiten für die süße Mühe des Forschens entsagen würde, so wird der Rechtsfreund nicht glücklich durch das Finden und Entscheiden, sondern durch das Untersuchen einer juristischen Wahrheit – welches man eben prozessieren und praktizieren nennt –, und er würde sich gern ewig der Wahrheit, wie die Hyperbel der Asymptote, nähern wollen, ohne sie zu erreichen, da er mit Weib und Kind als ein ehrlicher Mann bei dieser ewigen Approximation bestehen könnte. –

Der abgeschickte Bediente hatte außer dem Gold-Legat noch ein Dekret vom Gerichtshalter, worin dem Testamentserben auferleget war, von den Prägekosten, die er zahlen müssen, da er als Quintus und Konrektor unter der Rändelmaschine seiner Vorgesetzten lag, Belege und Scheine beizubringen, worauf er sein Geld wiederbekommen sollte.

Der Konrektor, der sich gegenwärtig an die Reihe der Millionäre anschloß, hielt die kurze Geldrolle wie ein Zepter in der Hand, wie eine herausgezogene Teichdocke des Meeres der Zukunft, das nun ablaufen und ihm alle Besetzfische langgewachsen, trocken und festliegend anbieten muß.


 << zurück weiter >>