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– Jetzt als sich der bunte Sonnenschirm des Himmels voll Abendrot dämmernd ausspannte und als auf der Erde nichts mehr lag als Rot und Nacht: so erhob sich die Musik, und die Töne glitten wie Wellen über den rötlich nachglimmenden See an die Berge hinüber, über welche wie über Wirbel die nachzitternden Saiten des Echo aufgezogen waren.
Aber Lismore fuhr, aus Vergessen oder Empfindung der Musik, noch heftiger fort: »Nein, zwischen zwei Seelen, die sich einander die Arme öffnen, liegt gar zu viel, so viele Jahre, so viele Menschen, zuweilen ein Sarg und allezeit zwei Körper. Hinter Nebeln erscheinen wir einander – rufen einander beim Namen – und eh' wir uns finden, sind wir begraben. Und wenn man sich findet, ists denn der Mühe, des Namens der Liebe wert, die paar glühenden Worte, unsre kurzen Umarmungen? – Vom Morgenrot der Jugend glühet uns der Eisberg der Menschenfreundschaft lügend an, aber in der Nähe erfriert man an ihm, oder man zerschmelzt ihn mit seiner Wärme – wahrlich, die Menschen dulden keine Wärme; ach! wie oft ergriff ich die Hand eines Geliebten und wollt' ihn an meine Seele ziehen, aber die Hand riß ab, der Samielwind hatte dem morschen Toten nur eine schlummernde Gestalt gelassen. – – Aber wie himmlisch fließen die Töne über die Wellen! – Morgen hab' ich sie doch vergessen. – Und so spiegelt jedes Gefühl und jede Liebe uns eine erlogne Ewigkeit vor: ein Scherz, ein Schlaf, eine verlorne Unze Blut, ach! eine Stunde erwürgt die Liebe. So steht überall und überall, wo eine Menschenbrust an der andern liegt, die Zeit und schiebt sie auseinander wie Marmorplatten, weil sie sie nicht auseinanderreißen kann.« – –
Die Musik tönte aus. – »Ach, Adeline! ich habe gewiß nicht recht.« – »Gewiß nicht!« (sagte sie sanft) »ich konnte noch niemand vergessen.«
Nun wurde drüben hinter den Bergen der unsichtbare Geist der Natur rege und wach und ergriff allmächtig die gestorbnen Töne und gab ihnen ein zweites, zitterndes Leben – und das ganze hinübergehauchte Lied kehrte entkörpert und ätherisch und leise zu den Liebenden zurück. Adeline deckte jetzt mit der Hand das rechte, kränkere Auge zu, weil aus ihm allemal die Tränen früher flossen, und ihre holde Seele erblickte, in der Wiege der Echo ruhend, die Arme ihrer Mutter über sich aufgetan – ein Engel hing, gleichsam von den wehenden Tönen gehalten, mit aufgeschlagnen Flügeln am roten Abendgewölke und zeichnete darauf die schönere Paradieseszeit, wo sie noch um ihre Eltern war – den hellen Morgen, wo sie ihrer Mutter in einer langen Umarmung das Versprechen der ersten Liebe gab – den beglückten Abend, wo sie es unter dem Lautenzug eines ähnlichen Echo erfüllte. – Ach! aber durch wie viele Tränentage mußte der Glanz dieser frohen Stunden fallen und wurde darin gebrochen und verschluckt! –
Jetzt schwieg alles! – Nun stieg das zweite Echo auf, dunkler und tiefer, wie aus einer liegenden Brust. – Da rief alles in Adelinens Seele: »Es ist die Mutter – ja, deine Julie redet dich an« – und nun stürzten Träne an Träne aus dem gesunden, linken Auge, und sie verhüllte keine mehr. Sie lehnte sich an ihren Geliebten – ihre Zähren sanken den Schatten-Tönen auf die Erde nach – das vom Nachtflor umwundne, gedämpfte Trauerinstrument häufte den Druck aller teuern Gräber auf ein zerschmolznes Herz, und es mußte ganz verbluten....
Ach! in ihrem Herzen standen allezeit mehr Tränen als in ihren Augen. – Der zweite tönende Traum war vorüber. Siehe da wühlte sich dumpf und fern der dritte Nachhall auf, wie aus einem Busen, den ein Erdbeben eingesenkt... »Wimmernde, tiefe Stimme! welches dicke Grab bedeckt dich so sehr? – Blutiger Ton! warum durchschneidest du mit deinem unsichtbaren Schwert die Seele? – Jammernder, auf Nächte gemalter Schatte! wer bist du?« – »Ich bin dein enthaupteter Vater, und ich jammere in der Grube noch über mich und dich.«...
– Unglückliche Tochter! schaue an den blühenden Himmel! Eine graue Wolke hat sich aufgeworfen wie ein Grab – und hundert Rosen aus Abendrot brennen auf dem dunkeln Hügel. Deine Mutter schläft darin mit der Rose, die du ihr gegeben, und mit dem bleichen Haupte, das du zuletzt geschmückt..... Adeline blickte gen Himmel und fand einen Trost, und die Stimme des zertrümmerten Vaters verstummte; aber ihr Herz, das zerrinnend sich mit den Tränen vermischte, tropfte gleichsam vom Leben weg – und sie wandte das blaß-rote, geschwollne Angesicht plötzlich ab von den malenden Wolken und von den tönenden Bergen und kehrt' es lieber aufgehoben und mit weiten Augen und mit allen seinen weinenden Blicken und Zügen gegen ihren Freund und sagte in grenzenlosem Schmerz: »Ich kann ja meine Eltern nicht vergessen, Leolin! – meine Mutter muß doch in meinem Herzen bleiben. – O! trösten Sie mich gern und oft, aber lassen Sie mich auch recht weinen.« –
Trostlose! ich würde dir keinen Trost sagen. Welchen könnt' ich denn einer Tochter geben, die die erste und letzte Freundin ihres schweren Lebens verloren und für die nun das beste Schicksal nichts mehr hat als Freunde? Kann ich euch Verwaiseten denn aus allen Ecken der Erde irgendein Herz zuführen, das euch so sehr wie das, das in ihr ruht, und so zärtlich und so uneigennützig und so lange liebte? O! wenn ihr die unvergeßliche Lehrerin und Mittlerin und den Schutzengel eurer Jugend begraben habt, wenn sich die Brust, aus der ihr den ersten Nektar des Lebens nahmt, erkaltet nicht mehr für euch bewegt, welche zweite kann ich euch auf der weiten Erde anzeigen, die ebenso warm schlägt und an der ihr ebenso sicher alle Geheimnisse und Seufzer der eurigen in sanfter Umarmung verhauchen dürft? – Nein, es gibt keine – und o! wenn eine solche Verwaisete mich gerade am Geburts- oder Todestage ihrer Mutter läse, sie würde mit ihren Augen voll Tränen gar nicht bis hieher gekommen sein, sie hätte längst ohne mich gesagt: Nein, ich kann nicht getröstet werden! – –
Lismore drückte, überwältigt vom erhabnen, treuen Gram der besten Tochter, ihr fallendes Haupt weinend an sein Herz, und er legte um dasselbe die Arme schwebend, um sie gegen die bald wiederkehrenden Töne taub zu machen, und sagte: »Engel! wer könnte dich einmal würdig betrauern? – Du hast ja einen Schmerz, als wärst du eine Unsterbliche. – Ach! ich sah' das nicht voraus – das Echo sollte dich bloß an ein schöneres erinnern und dich nicht so traurig machen.«
»Sie weinen ja auch, Guter!« sagte sie.
»Ja, und um dich, um dein himmlisches Herz – und um deine gute Mutter, die eine solche Tochter wie dich verlor.« – – »O mein Teuerster!« sagte sie warm, »ich und Sie haben mehr verloren – ach! Sie kennen Ihre Freundin nur halb«, und hier richtete sie ihr himmlisches Angesicht mit einer beredten Miene voll Nachrichten zum teuern Genossen ihrer Seufzer, zum Liebling ihrer Mutter auf. Was sie meinte, war jenes gelinde mütterliche Eindringen in ihre Brust, das ihr an jenem Tage, wo das Echo bei Genetay ihr Herz an ein zweites schloß, alle für Lismore vorteilhaften Geheimnisse ablockte oder einpflanzte. Lismore quälte sie nun mit fieberhafter Innigkeit um die Vollendung ihres Bekenntnisses – er beschwor sie bei dem Grabe ihrer Mutter, diese durch die Enthüllung eines Geheimnisses zu ehren, das sich als ein neuer Kranz um ihr Gedächtnis lege – –: und die Arme deckte ihm im heutigen Taumel ihrer Trauer ihr von der neuen Flut eines Echo fortgeführtes Herz und das Geheimnis des mütterlichen Anteils an ihrer Liebe auf. Aber in ihrem jungfräulichen Munde klang es, als sei die abendliche Hingabe ihrer Seele am meisten – der morgendlichen Unterredung zuzuschreiben...
Hier fuhr sein heißes Herz gerinnend zusammen, wie von eingesprützten, kalten Giften zersetzt: – »Hab' ichs nicht längst erraten,« (sagte eine Stimme in ihm) »sie liebt dich nicht, sie gibt dir nur aus Gehorsam gegen die tote Mutter die Hand« – aber die Wellen der heutigen Liebe und Entzückung liefen, wie bei Wechselwinden, streitend den Wellen des zweiten Sturms entgegen – und er blickte die schöne, leidende Gestalt voll unaussprechlicher Liebe an, und dann dacht' er: »Ich will mich nur noch heute täuschen«, und erhaben wie ein unglücklicher Gott, sank er gleichsam scheidend mit verschloßnen Augen, ohne Sprache und voll Tränen an die, die er zu verlieren besorgte: denn er suchte den Zweifel an ihrer Liebe durch das Übermaß der seinigen zu überwältigen. Gute Adeline! du errietest nicht, daß er darum mit Tränen deine Wangen übergoß, weil er in der schmerzlichen Umarmung zu sich sagte: »Ist denn das meine Geliebte? Ruh' ich schon an dem Herzen, das ich ewig suche? – O Himmlische! wenn du nicht hier bist, der ich angehöre, wenn einmal meine verwundete Seele an deiner ausheilt, dann will ich dirs sagen, ich habe heute an dich gedacht.... Ach! du arme Adeline, ich tue dir doch unrecht, wenn du mich auch nicht liebst.« – Und er riß sich von ihrem Angesichte, wie sich eine blühende Seele vom Leben reißet: er warf sich vor sie hin und blickte in ihr erschrocknes Angesicht und sagte bebend und erstickt: »Adeline! liebe mich ohne Maß, wie ich dich! – Gib mir ein Zeichen, wenn du mich nur deiner Mutter wegen liebst!« Aber er legte, um kein Zeichen zu sehen, sein Haupt auf ihren Schoß, und sie breitete ihre Hände sanft unter sein brennendes, nasses, verhülltes Angesicht. Er hob es noch einmal schwer empor und blickte zu ihr auf wie ein sterbender Engel und stammelte: »Sieh, wie ich liebe – ich würde jetzt sterben, wenn du mir das Zeichen gäbest.« Da sank ihr Haupt wie eine Lilie gebrochen seinem entgegen, und ihre Tränen fielen auf seine Lippen nieder, und ihre herüberfallenden Locken hüllten den heißen Kuß voll Schmerzen ein....
Als nach einer stummen Minute voll wundem Entzücken die zwei Erschöpften das Theater des Trauer- und Schattenspiels verließen: war alles verstummt, ausgenommen einige Wellen am Ufer – die Phönixasche unsrer Freude, die Musik, war verweht, und kein Echo sammelte die Trümmer der Töne mehr – der Abendhimmel war, wie Adeline, bleich geworden – der Frühling legte den Rand der Nacht noch nicht in Mattgold ein, und der Mond hing noch tief unter der silbernen Pforte des Aufgangs – schweigend gingen beide zurück – sie scheuchten eine schlummernde Lerche auf, aber sie stieg, ohne zu singen – und als sie nachts voneinander gingen, sahen sie sich weinend an, aber sie küßten sich nicht......
– Die Menschen sind einsam. Wie Tote stehen sie nebeneinander auf einem Kirchhofe, jeder allein, ganz kalt, mit geballter Hand, die sich nicht öffnet und ausstreckt, um eine fremde zu nehmen. Nicht einmal ihr Körper hält das warme Sehnen nach Liebe aus, aber den Haß wohl; an jenem zerfällt er, sie sind Pflanzen aus einem kalten Klima, die den größten Frost, aber keine Hitze ausdauern.... Wie, glaubt ihr, ich meine die Millionen dumpfe, niedrige, hungrige Menschen, die gern in ihre Gräber zurückkriechen, ohne den Besitz nicht nur, auch ohne den Wunsch der Freundschaft und Liebe? – Ich meine sie nicht; in ihrer niedrigen, dem Kote parallelen Richtung können sie keine Seele zu sich ziehen; nur Menschen, wie nur Eisenstangen, die sich gegen den Himmel richten, werden magnetisch. – Aber diese mein' ich, Menschen wie Lismore. – Ach! daß gerade die bessern am wenigsten lieben, daß es ihnen so schwer wird, zu finden, noch schwerer, zu behalten, daß sie ein Jahrzehend brauchen, um einen Bund zu schließen, und eine Minute, um ihn zu brechen. – – Und dann veraltet der entblößte Mensch, ohne sein zweites Herz – die Jahre setzen um sein bestes Herzblut, wie um alten Wein, eine steinerne Rinde an – er heilet den liebenden Wahnsinn seines Kopfes und das verzehrende Fieber seiner Brust mit Eisstücken, wie die Ärzte Kopf und Brust mit aufgelegtem Eise herstellen – und wenn er in die andre Welt tritt, so muß er fragen: »Ewiger, warum gabst du mir ein glühendes Herz in die Erde mit: ich bringe es totenkalt zurück, es hat niemand geliebt.«... Ach! wenn diese Erde ein Gängelwagen für unsre ersten Schritte sein soll: so ist der Ring desselben, auf dem wir mit der Brust aufliegen, nicht weich genug gepolstert und schneidet zu tief ein. – – Doch so unglücklich sind wir nicht alle, und wer mich hier mit Schmerzen lieset – anstatt mit bloßer Sehnsucht –, der war wenigstens glücklich. Aber lasset uns jetzt in diesem russischen Eispalast der Erde, worin Statuen und Ofen von Eis sind, einander die Hände geben und uns vornehmen, noch öfter zu vergeben, als wir tun, noch öfter daran zu denken: daß wir ja aus so vielen tausend, tausend Herzen nur einige, verarmt, an unserm halten – daß unsre Jahre so kurz und schnell verstäuben, aus denen wir zur Liebe nichts ausheben als noch schnellere Minuten – daß unsre ersten zehn Jahre und vielleicht unsre letzten zehn ohnehin dem verwitterten Herzen die Liebe nehmen – und wie viel wir schon vergessen haben, wie manche glühende Stunde, wie viele heiße Versicherungen, und wie noch mehr wir schon verloren haben. – – Und wenn uns das nicht bessert: so lasset uns auf die Gräber unsrer vorigen Freunde treten und ohne Schamröte sagen: »Wir lieben sie«, indes wir die lebenden vergessen. – Ach! auf jenen Hügeln lernt der Mensch Freundschaft so gut wie Größe.