Jean Paul
Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin
Jean Paul

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Möge kein roher Mann der Zeuge von der weichen, zarten Umarmung sein, in der zwei weibliche gebildete Seelen in die Sphärenmusik einer milden, heiligen, melodischen Liebe, ohne den harten Durton einer männlichen, versinken! – Ja, ein Auge, das gern auf der Umarmung zweier Freunde ruht, muß sich noch mehr heiligen, um mit Entzücken auf das Umfassen zweier höherer Freundinnen zu blicken. –Und da ihr mein hartes Geschlecht kennet, ihr Teuren, so entrückt ihr ihm so oft den Anblick eines mißverstandnen Werts, wie die verehrten Statuen der römischen Götter durch Vergraben dem Zertrümmern, oder Mosis Gestalt durch Verhehlen dem Anbeten entzogen wurde.

Julie – so hieß die Gräfin – blickte ihre Tochter lange und mit unbezwinglichen Tränen an, die mit dem Profil sich in ihre Näharbeit vertiefte. »Adeline!« sagte die brechende Stimme. Die Tochter kehrte sich zitternd zu ihr; und der Ton und die Wangen voll alter Tränen hatten ihr alles gesagt, und sie fiel stumm, ohne eine einzige Frage, an den gequälten Busen – und sie küßten sich schweigend – und weinten schweigend – und gleichwohl blickten sie sich an und weinten noch mehr.

Julie drückte sanft die widerstehende Freundin von ihrem Herzen und zog sie endlich neben sich nieder auf ihren Sitz und fing an: »Tochter, wenn du einen Wunsch bisher hattest, so sag mir ihn jetzt: ich werd' ihn gern erhören – sag ihn!« – »Meine Wünsche sind Ihre, weiter hab' ich keine.« – »Nicht so, Adeline! – wenn du etwas wünschest, so begehr es jetzt von mir; ach! du weißt ja nicht, wenn du mich verlierst.« – »Nein, nein – ich wünsche nichts, als daß Sie froher sind – – und daß ich Sie wieder umarmen darf, das wünsch' ich, geliebteste Mutter!« –

Sie umfaßten sich, und unter dieser täuschenden Nähe der armen berauschten Sterblichen sagte die Mutter: »Tochter, rede anders! Wenn du einmal nach meinem Tode an mich dächtest und dich fragtest, ob ich irgendeine deiner Neigungen nicht genehmigen würde: sage mir, was würdest du tun, wenn du dächtest, ich würde sie nicht? Gib mir deine Antwort heute.« – (Nach einem langen zitternden Schweigen:) »Nein, nein, ich werde schon vorher sterben – was könnt' ich noch lieben? – Ach! teuerste Mutter, nennen Sie mir es jetzt, ich werde ja alles recht gerne fliehen, was Sie wollen.« – »Du sollst nichts fliehen; aber würdest du auch jeden Menschen lieben, den ich liebte?« – (Zu fein:) »Jeden, wie meinen Vater, würd' ich ihn.«

»Adeline, wie sprichst du! Du kennst mich heute nicht.« – (Ihr um den Hals fallend:) »O Gott! Mutter, wie verstehn Sie mich?« – (Sie an sich schließend:) »Bleibe nur so! Und sage mir heilig zu, als ständest du an meinem Sterbelager, versprich mirs, bald zu wählen. – Wähle, wenn dein Herz nicht zu viel dagegen hat, den Grafen.«.....

Aber hier mußte Adeline im Schwindel der Empfindungen, die sie umkreiseten, der doppelten Liebe, der Scham, der Freude, des Erstaunens, sich an den mütterlichen Busen lehnen, der zugleich ihr Schleier war, und sie hatte nichts in der Gewalt als die süßesten Tränen, und kein Ja, sondern einen langen Kuß. – Zärtlich sagte die Mutter: » So sagst du mir doch dein Nein nicht«; und leise lispelte ihr ins Herz Adeline: »Nein!« –

Nur der weiche Finger der Mutter konnte den Harpokrates-Finger, den sich Adeline immer auf ihre Lippen drückte, wegschieben und dann die schöne Seele im Nonnenschleier eilig an das Sprachgitter ziehen, damit sie da das Gelübde des weiblichen Schweigens noch schöner breche als halte. Aber allein die Mutter konnt' es auch nur.

Warum nehmen euch, ihr Männer, solche Charaktere nur auf dem Schreibtische und nicht im Leben ein? Warum schont ihr nicht ein scheues frommes Zögern mehr, das ihr bloß lobt? und wenn ihr so viel Recht habt, ein solches moralisches schreckhaftes Auffahren, einen solchen heiligen Skeptizismus, ein solches Mißtrauen gegen die zusammenkommenden Grenzen des Vergnügens und der Tugend zu begehren: so habt ihr eben darum weniger Recht, als ihr meint, die Gelegenheit zur Probe zu geben. – Ich sehe nicht ein, warum allemal ihr den Preis ihrer Siege oder die Beute ihrer – Kämpfe nehmen wollt und mit welchem Rechte ihr euch mit euern blutsaugenden Zungen an jede entblößte Stelle ihres Herzens anlegt, wie in Ost-Indien die Vampyre auf jeden Schlafenden, dessen Stirne nicht ganz zugedeckt ist, niederfallen und sie blutig lecken.

Gehe nachmittags, Leser, mit unserm blühenden Paar, das nun eigne und mütterliche Wünsche vermählen und das sich von einem glücklichen in nichts unterscheidet als in der Hoffnung, gehe mit beiden nachmittags nach der St. Georgen-Abtei bei Genetay, die zwei Stunden von Rouen obliegt. Die Absicht ihres Lustganges ist, dem seltensten Echo zuzuhören, das noch als Kapellmeister die aufs Chorpult eines Berges gelegten Melodien spielte. Es hat das SonderbareIn den physischen Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Paris v. J. 1692 steht dieses Echo beschrieben. Quesnet leitet es vom Halb-Zirkel eines Hofes ab. – Jetzt aber haben die angepflanzten Bäume der Nachbarschaft seine Reize ein wenig verringert. , daß ein Sänger da nur seine Stimme, Zuhörer aber seine nicht, sondern nur den Widerhall derselben, oft zwei Stimmen statt einer, und alle sie anders, bald näher, bald weiter vernehmen.

Auf dem ganzen Himmelswege hielt auf Adelinens Angesicht eine lebhafte schüchterne Verwirrung an, deren heutige Quelle und deren schönste Bedeutung dem Grafen verborgen blieb. Der helle wehende Himmel des Nachsommers wiegte gleichsam die Erde in den Winterschlaf, und unser Paar in den Seelenschlaf der Ruhe. Sie schwankten, auf dem bequemen Steige der Schönheitslinie, dem reizenden Echo entgegen und folgten Pfaden mit kleinen Krümmungen nach, so wie die Seine neben ihnen in großen dem Meere entgegenfloß.

Sie kamen an und durchstreiften die irdische Walhalla; aber fast so wie Lismore immer den Standpunkt verfehlte, auf dem seine Seele ihr Echo in Adelinens ihrer hören konnte, so ging es beiden auch mit dem Standpunkte des physischen Echo: sie fanden ihn nicht. Der Graf tröstete sich leicht darüber: eine weißblühende Allee von seligen Minuten war bis an den Abend für ihn gepflanzt, wo die Gräfin Mladotta mit einem Wagen kommen und die Tochter abholen wollte. Nur mit halben Lauten flog sein Geist, der seinen verwandten suchte, furchtsam und schnell um die zugeschloßnen Knospen der schönen Gefühle, die in Adelinens Herzen noch ohne Farbe und ohne Sonne lagen, wie sich Bienen an Kornblumen, die noch nicht aufgebrochen, hängen. Wie wenig brauchen zwei Menschen, deren Herzen voll sind, von der äußern Welt, wie wenig! Nur einige Blumen, keine englischen Anlagen – nur einen durchsichtigen Bach, keinen schiffbaren Strom – nur ein im Blauen flatterndes Wölkchen aus Silberfolie und die schwer aufgestellten goldnen Flügeldecken, womit ein beseeltes Flug- und Goldsandkörnchen aus dem ausgetrunknen Blumenkelche aufsteigt... Denn alsdann wird vom erwärmten Herzen nicht bloß die ganze Erde, sondern auch alles Kleine dankbar angezogen, wie Edelsteine nicht bloß Licht, sondern auch Spreu an sich saugen. – – Aber nur ein zweites bewegtes Herz ist die dunkle Kammer, worin diese Natur in Bewegung sich abmalt – unser Papier ist nur steife Leinwand mit festen, gelähmten Figuren.

Einige Tagblumen falteten sich schon zu, und die Seele, die Nachtviole in dem Nachtleben, tat sich weiter auf und öffnete sich den Sternen. – Ach! gleich eingeschifften Negersklaven werden wir von der Sehnsucht nach unserm wärmern, schönern Vaterlande am meisten zu nachts erweicht und gedrückt. – Aber beide erwarteten jetzt statt des Echo nichts weiter als die Mutter. Ein kühler Seewind, der sich mit Wimpeln und Brandungen müde gekämpft, trieb jetzt nur noch mit weichen Locken und Bachwellen sein letztes Spiel, und die Blumen wankten nach, da er von ihnen aufflog und mit den Vögeln sich in die Gipfel versteckte.

In solchen Stunden, wo die ganze Natur von ihren Blumen bis zum Abendrot, gleich den Blumen im Morgenlande, ein großer Brief der Liebe voll schöner Zeichen ist, da wurde der von einem halben Leben voll Taten nicht gesättigte Lismore durch die Wonne besänftigt und bezähmt; und er stand mit einem von den Liebesarmen der Natur festgehaltnen Herzen, das keine epileptische Schläge tat, süß in die gleich ihm gemilderte Abendsonne verloren, ein wenig von Adelinen weg, abgesondert durch ein Orangeriegeländer. Sie blickte umgewandt zurück nach der erwarteten Mutter und er nach der Sonne, die glimmend über dem Meere hing. Lismore begleitete sie mit einem Abschiedsgesange, den er, da er in allem ein Improvisatore war, eben selber machte. Der Inhalt davon war: »Kreise träger um, du goldnes Zifferblatt des Himmels! – Rolle nicht so schnell mit deiner Glut aus unserm holden Abend! Ach! zieltest du jetzt mit einem schönern Morgen über Amerika herauf? – Wirst du nur betaute Blumen, nicht auch nasse müde Augen aufschließen? Wirst du nicht, wie ein heißer Funke, auf manchen wunden Busen fallen, dem du ein langes Tagewerk voll Qualen auflegst? – Schlummre lieber in unserm Abendrot und laß dem armen Negersklaven seine tröstende Nacht, seinen Traum von dem entrückten Vaterlande und seine ruhige kleine Minute voll Kühle und Glück.« – – Auf einmal stockte seine Begeisterung: er dachte an sich und fuhr fort: »Ach! ziehe nur hin, wartet denn nicht in jedem Winkel auf dein Verbergen ein Auge, das weinen – ein Herz, das sprechen – ein Jammer, der ruhen, und ein Geist, der den Tag vergessen will?«

So sang er und glich der Nachtigall, die nach der Meinung der Perser allemal mit einer gegen einen Dorn gekehrten Brust zu schlagen pflegt. Adeline stand unwissend im Brennpunkte des Echo. Er hörte also nichts wie sich, aber sie hörte statt seiner bloß die zerteilte Engelszunge des Nachhalls, der die schöne Stimme in zwei zerlegte und damit wie mit zwei Armen das beste Herz gefangen nahm. Sie breitete, bis zum Weinen entzückt, ihre Arme auf die niedrige Orangerie hinter seinem Rücken aus und stellte sich vor, er höre den Doppelgesang auch. Sie hatte das Echo vergessen, weil der Mensch lieber einen Menschen als ein Echo voraussetzt, so wie er im Winter lieber dem Gefühle der Wärme, die ihm die Bewegung gibt, als der Gewißheit der Kälte glaubt. Endlich, da alles aus war, sagte sie mit einem ungewöhnlichen Tone. »Wie himmlisch! was für ein Ton! Ach! solche Herzen muß man lieben.«

Lismore kehrte sich betroffen zurück, und ein weiter heller Himmel voll Mondschein ruhte, von der schönsten Seele ausgemalt, auf dem schönsten Gesichte vor ihm. Sie fragte gleichsam sein Erstaunen: »Haben Sie das Singen gehört?« – Ihm war das Echo unvernehmlich geblieben; er sagte: »Ich weiß nur meines.« Sie wurde hochrot, sagte aber ebenso schnell als leise: »Ich habe Sie nicht gehört.« Ein Strahl beleuchtete jetzt das doppelte Rätsel, und Leolin verfiel auf den Maschinengott des Echo und sang, ohne weitere Antwort und von ihr abgewandt, die Worte gegen die Abendsonne: »Sinke nur ein, o Sonne, das Echo und Adeline, und der Mond und Julie gehen in deinem Himmel auf, und du wirst nicht vermißt!«

Eilig drehte er sich zur irrigen Zuhörerin zurück und sagte bittend-beklommen: »Nehmen Sie darum alles zurück, was Sie gesagt haben?« – O! welcher begeisterte Genius lähmte die Irrlehrerin mit einer verwirrten süßen Unbeweglichkeit? Ihre weißen Arme blieben auf das Grün wie Schmetterlingsschwingen gedeckt – ihr bestürztes und beglücktes Auge zog die ersten Blicke der überraschten Liebe zu langsam zurück – und die Beschämung über die Verwechslung nahm der Zunge die Kräfte des Widerspruchs. Die Sonne tropfte wie geschmolznes Gold in das nahe Meer – aber eh' sie in den Fluten erlosch, flatterte ihr blendender Purpur vor Adelinens Auge und verdunkelte es – und in einer Träne wurde die augenblickliche Nacht und der Purpur größer – und nun kniete, in der flüchtigen Unsichtbarkeit ungesehen, ihr Freund vor sie hin und zog ihre Hand über die kalten Orangen herab – – – und zum ersten-, erstenmal in seinem Leben war ihm, als zöge die Fahrt seines Lebens eine lange schimmernde Furche in die Vergangenheit, wie Schiffe ins Meer eine leuchtende Straße bahnen. – Alles Erhabne in seiner Seele stieg auf und sagte ihm: schweige nur heute und laß die Beklommne schweigen. – Er schwieg; aber die augenblickliche Nacht war die Amors-Binde, die Adelinen den schönen Verlust der Hand und des Herzens verdeckte, wie physische Glieder nur mit verbundnen Augen abgenommen werden. Ihre Seele sank in seine glühende, wie einmal Planeten in die Sonne fallen. – Ach! da die Sonne hinunter war und da sie ihn anblicken wollte, da fühlte sie erst, wie viel sie ihm gegeben habe.

Nun ging auf der bleiche Mond und die – bleiche Mutter: ach! zwei glückliche Tränen und eine Wangenröte sagten ihr alles, und als die Tochter sie zitternd und heftiger als sonst umarmte, war ihr denn da die brennende, bebende Lippe auf ihrer Hand zum Lösen des Rätsels noch nötig? – Aber der reiche Perlenfischer kehrte mit der hellsten und reifen Perle eines Weiberherzens, das sich aus dem reinsten Busen so schimmernd abgeschieden, geschmückt und glänzend nach Hause.

Drei himmlische Genien flogen mit den drei Menschen; aber ein einziger Genius weinte.


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