Jean Paul
Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin
Jean Paul

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Fünfte biographische Belustigung

Trauer einer guten Tochter – Neujahrstag – Derbystoner-Vase – Zweck der Ehe – Argwohn

Ich glaube, unsrer Adeline konnte der lange Katakombengang ihrer Zukunft nicht neblichter und bergiger vorkommen als Schottland, noch finsterer, als das Gesicht war, womit die Schwester des Grafen ihr bis auf eine Stunde vor Glasgow entgegenfuhr. Jane Gladuse (Johanna Klaudia) war nämlich in ihrer Jugend von ihrem Eheherrn wieder freigelassen worden, bloß mit dem Ehe-Ring signiert, als Zeichen ihrer verlornen Freiheit, wie man die von Falken gefangnen Reiher mit einem Ringe, der den Fürsten und den Datum des Fanges entdeckt, wieder fliegen läßt. Sie war eine verwitibte junge Dame von 49 Jahren und gehörte unter die Witwen, die man, wie den grünen Tee, fünfmal aufgießen (nämlich heiraten) kann, ohne sonderlichen Verlust ihrer aromatischen Kraft. Nun saß gerade jetzt ein zweiter Aufgießer oder Abonnent auf ihr Exemplar in London, der bald die Winterlustbarkeiten mit den Frühlingskuren zu Glasgow zu vertauschen versprach. Nicht die Ankunft ihres Bruders, den sie so innig liebte wie ihren zweiten Abonnenten und Prätendenten, sondern seine mitreisende Trauerschleppe war ihr verhaßter als Robespierres Schweif: denn an seiner Heirat zerschellte wahrscheinlich die ihrige. Ihr fiel, wenn er ein Hagestolz blieb, die Hälfte der durch sein Leben gehenden Transito-Güter anheim, als eine aufs Zölibat gelegte Taxe. Bisher hatten ihn nun nicht nur alle Mädchen, wie wir wissen, durch die gedrohte Anwartschaft der täglichen Gefängnisfieber vor der Conciergerie der Ehe gewarnt, sondern auch Jane selber: denn Lismore war Zeuge gewesen, daß seine Schwester mit ihrem Eheherrn ganz anders als Xanthippe mit Sokrates zusammengelebt; denn der Grieche hatte bekanntlich Geduld und die Griechin Kinder. Aus dem Anblicke ihrer Ehe und aus deren Kontraste mit den romantischen Hoffnungen, die sich der Graf vom Glücke der seinigen und von der möglichen Identität zwischen Braut und Gattin machte, kann ich mir ja viel besser als aus andern Gründen eine recht stachlichte Verzierung seines Saals erklären: man weiß nämlich, wenn in der einen Nische eines Saals eine Statue steht, die man einheizt, so muß nach dem Stuben-Rhythmus in der andern eine gegenüberstehen, durch die das Schloß (wie z. B. des Fürsten v. Esterhazy seines) abbrennt, wenn der Ofenheizer Feuer anmacht. Zu diesen zwei Ofenpuppen wählte der Graf in der einen Blende einen Amor, den man heizte, und in der andern den Hymen, in den nie ein Schwefelfaden kam.

Adeline schloß ein nachsichtiges freundschaftliches Herz für die Schwester auf, deren Bruder ihr noch außer dem seinigen so viel gegeben: sie war überhaupt die schöne Gegenfüßlerin der meisten Mädchen, die gegen Herren sich nicht genug bücken und gegen Mitschwestern sich nicht genug zurückwerfen können und die Zurückhaltung und Gefälligkeit an die unrechten Geschlechter verteilen. Mir geht die junge Dame, Jane Gladuse, nahe: denn eh' beide zum Tore einfuhren, mußte sie – sie setzte sich vergeblich dagegen – wahrhaftig die bleiche Emigrantin von Herzen lieben. »Die gute Fremdlingin hat ja auf ihrem Gesichte das Spanisch-weiß und Perl-weiß und Orgelmacher-weiß beisammen, und betrübter und betränter könnte man gar nicht aussehen«, dachte Gladuse, und aus der totalen Sonnenfinsternis ihres eignen Gesichts wurde eine partiale. Denn sie war ebenso mitleidig als neidisch oder verlogen, und die aufrichtigsten Tränen entflossen ihr so leicht wie die falschesten Worte. Überhaupt wünschte sie von Herzen, daß es ihrem Nebenmenschen – sie konnte sonst keinen mitleidigen Anteil an ihm nehmen – recht jämmerlich erging: denn sie war die beste Freundin in der Not und half so lange, bis man heraus war; dann erst fing sie an zu beneiden und anzufeinden; sie konnte nie, wie der kahle Hofmann, dem Glücklichen ihre Freundschaft schenken. – –

Eine weibliche emigrierte Dienerschaft, die schon vor Adeline über den Kanal geschwommen war, hatte das achte Stockwerk im Hause des Grafen – denn in Schottland haben die Gebäude, z. B. in Edinburg, oft 12 Stockwerke – schon besetzt und zurecht gemacht. Ihrem hohen Stockwerke diente und zinsete, wie einem Throne, die ganze Gegend um Glasgow mit ihrem Reize und ihrem Clide-Fluß; daher räumte ihr der Graf es aus: die weite Perspektive sollte ihre Wehmut zerteilen; aber in einem fremden Lande tut eine große Aussicht oft das Gegenteil. Als sie heute zum erstenmal in den neuen Zimmern einsam war, weinte sie recht von Herzen, und zwar in dem Zimmer, das schon lange für ihre Mutter zugerichtet war; aber sie legte sich freilich die anklagende Frage vor, wie sie allezeit dem edelmütigen Grafen für die balsamischen Blumenbeete, womit er den ganzen Weg ihres Lebens umbaue, in dem Grade danken könne, den sein Feuer begehren werde.

– Ich wollte, ich könnte jetzt den Winter, wo die Natur die stärkende Frühlingskur gebraucht, so aus Adelinens trübem Leben ausstreichen, wie er in warmen Ländern fehlt. Wie die Krankheiten des Frühlings sich im Winter entspinnen: so umzog sie der Winter mit einem Dunstkreis voll Krankheitsmaterie, in dem jeder Atemzug dem Frühlingsfieber ihres Herzens verarbeitete. Du Unglückliche! Denn gerade im künftigen Frühling hatte der Graf deiner Mutter zugesagt, das Vermählungsfest der großen Natur mit seinem eignen zu feiern und in die Flitterwochen des Wetters die seinigen zu verweben. – –

– Adeline war unter der See- und Landreise, ausgenommen den ersten Tag, weniger in sich gewandt – gefaßter – und aufmerksam auf ihn gewesen, und er konnte den schönen Fluß seiner Stunden, den der Schiffspöbel bloß mit Sand- und TrinkgläsernAuf dem Schiffe hat man zum Zeitmaße, wie der Tod, Sanduhren. maß, nach den sanften Blicken berechnen, die ein dankbares Auge, wenn es sich abgetrocknet hatte, auf ihn warf. Er erwartete in Glasgow, diesem sogenannten schottischen Paradies, den Wachstum seines eignen – aber hier schloß sich sein kleiner Himmel wieder zu: was Adeline gewesen war, ist ihrem ganzen Geschlechte auf Reisen eigen, weil es da der männlichen Brustwehr bedürftiger ist. Aber in den bessern Zimmern, in denen sich so traurig die schönen ihrer Jugend und die letzten schlechten ihrer Mutter abspiegelten, hörte die kurze Meerstille ihrer Seele auf. Der Jammer ergriff ihr geschwollnes Herz und drückte aus ihm jede Träne, die auf der Reise nicht vergossen wurde. Die Schwester des Grafen, die ohnehin der Pfeilerspiegel ihrer Nächsten war und die zwar nie zuerst, aber auch nie zuletzt mitweinte, machte die Weiche noch weicher. Beim kleinsten Sandkorndrucke eines Gedankens einer Ähnlichkeit flossen ihre gedrückten Augen über. Konnte sie in die Untertasse ihrer Teeschale, worein eine Rose und zwei Rosenknospen eingebrannt waren, hineingehen, ohne an ihre Mutter zu denken, die immer wahre Rosen getragen und gepflegt und der sie eine seidne auf die zerfallende Brust in der Stunde ihres letzten und tiefsten Untersinkens angesteckt hatte, weil die wahren schon vor ihr entblättert waren? – Konnte sie ihre Hand auf ihr Herz legen, ohne es an die weiche Locke, an der es schlug und die nicht von ihrem, sondern vom begrabnen Haupte dahin gefallen war, wie in tausend Dornen zu drücken? – Ach! schoben nicht hundert andre Zufälligkeiten die Hoffnung des Grafen auf, ihr in die bedeckte Höhle der Geliebten hinabgesunknes Herz, das am geliebten zerstäuben wollte, wieder in den Sonnenschein des Lebens heraufzuziehen? Nur ein Beispiel!

Als sie am Neujahrsvormittage mit seiner Schwester ein wenig bald in die Kirche fuhr: war diese ausgeleert; aber unter dem Fußboden zitterte ein unverständlicher melancholischer Gesang, so ungefähr als wenn aus den zusammengefallnen Toten in den Kirchen-Begräbnissen unterirdische Stimmen gingen. Von welchen Ähnlichkeiten wurde Adeline am Morgen des ersten verwaiseten Jahres angefallen! – Das Singen kam daher: in Schottland haben die Kirchen zwei, oft drei Stockwerke. – Derselbe Prediger hält in den Frühkirchen zwei Predigten (oft über einen Text) hintereinander, die bloß der Gesang und das Stockwerk voneinander trennen. Adeline hatte also im zweiten das Souterrain-Getöne des ersten gehört... Das Schicksal hatte einmal beschlossen, den ersten Tag des Jahres mit lauter dicken schottischen Wolken zu überziehen: denn als sie aus dem Tempel ging, lagen im Kirchhof zehn Menschen, rufend und zuckend, auf den beschneiten Hügeln. Zehn Gespenster hatten schon Adelinens Herz mit kalten Händen gefaßt und erkältet, eh' ihr die Begleiterin sagen konnte, daß es nur Konvulsionärs wären, die man aus der Kirche dahin trage und die nach einer Viertelstunde von selber davongingen, ohne in ihrem Gedächtnis oder an ihrem Körper eine Spur davon mitzunehmen.

Der gute Graf, durch dessen Herz alle Dolche des ihrigen drangen, konnte nicht erraten, wie manchen er leicht hätte abwenden können. Wenn sie abends mit jener freundlichen Helle trauriger Augen, die mich so betrübt, in ihr Schlafzimmer fortgegangen war: so kam sie doch morgens mit erhitzten, trüben daraus zurück, und das bloß eines – Hutmachers und eines Stecknadelhändlers wegen. Dieser wohnte ihr gegenüber im dritten, und jener im zweiten Stockwerke des nämlichen Hauses. Auf der gewöhnlichen gelben Grundierung desselben war nun – wie in mehrern schottischen Städten, z. B. in Edinburg, Sitte ist – die Ware, womit jeder handelte, nicht herausgehangen, sondern angemalt. Oben auf dem Hintergrunde, nämlich im dritten Stockwerke, standen FarbenköpfeIn England ist ein herausgehangner Kopf das Schild des Nadel-Lagers. , und unter den unbedecktem Köpfen im Mittelgrunde, im zweiten, gleichsam die herabgefallnen Hüte. Ach! verarget es einer in die Fremde gerißnen, zwischen den Schatten zweier Grabmäler trauernden Waise nicht, wenn ihr Auge, das der Traum zwar schließt, aber nicht trocknet, zwischen dem gemalten kahlen Kopfe und zwischen dem enthaupteten ebenso traurige und so tödliche Ähnlichkeiten ausfindet, als die waren, womit der Aufgang der Sonne den Aufgang ihrer Mutter beschleunigte! – Ich sage, verdenkt ihrs nicht; und ihr könnt auch nicht, wenn ihr noch hört, daß jeder Traum ihr die Mutter in die Hände gab, die allemal eine frische Rose voll Tau neben dem silbernen Busen-Kruzifix stecken hatte und die zu ihr sagte: »Adeline! wo muß unser Graf (Adelinens Vater) so lang' in Paris bleiben? Wir wollen ihm doch entgegen.«

– Ach, beraubter Mensch! denkst du denn nicht daran, wenn du abends vor dein Bette, diesen Tempel der prophetischen Orakel, trittst, daß mitten im Totentanze unsrer Horen, mitten auf der Erde, diesem Zergliederungshause der Zeit, die mit ihrer Haarsäge unser kleines Jahrfunfzig in Sekunden auftrennt und alle feste Gestalten in Pastellgebilde, denkst du denn nicht daran, daß der Traum die Pastellgemälde unsrer Geliebten fixiert, daß dieses Echo der Zeit uns alle begrabnen Stimmen wiedergibt, die in schönern Tagen harmonisch in die unsrige einfielen und die nun klingen zu hoch über uns oder zu tief unter uns? – Ach! ohne den Traum, der um den im Schlagflusse Erblindeten musivische Welten voll Tulpen und Juwelen stellt, und der die umgeworfnen Lebenden mit aufgerichteten Toten umzingelt, ach! ohne ihn würd' es ja zu lange, bis wir unsre Brüder und Eltern und Freunde wiedersähen; wir würden ja durch den Tod um uns her mit jedem Jahre zu sehr verarmen, wenn nicht die Träume den Schlaf, das Vorzimmer der Gruft, mit den Brustbildern derer, die im zweiten Leben wohnen, behingen. Freilich, arme Adeline, arme Julie! gehört ein ganzer Tag dazu, um eine Nacht zu vergessen, worin ihr unten im wogenden Wasser-Spiegel des Traums das geschloßne Grab und die geschloßne Wunde von neuem und zu weit aufgerissen wiedersahst. – –

Da Lismore nur heftigen, nicht dauerhaften Kummer leicht mit dem andern teilte – weil die Sympathie mit jenem bloß Feuer, die mit diesem kalte Vernunft begehrt und weil seine eigne Standhaftigkeit überhaupt auf eine fremde drang –: so konnt' er anfangs nichts tun – ob er gleich mit Freuden alle fressende Gifttropfen ihres Grams aus ihrer Seele in seine gesogen hätte –, als ihren Schmerz vergrößern, um ihn mitzuempfinden. Er warf sichs vergeblich hinterher vor, daß er in allen Unterredungen seine Beredsamkeit verwende, sie untröstlich zu machen; aber er konnte den Strömen seiner Gefühle nicht Einhalt tun. Am meisten tadelte er sich über das neue Jahr.


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