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Ein Monat verging. Narzissus ließ nichts von sich hören. Die beiden ersten Wochen hatte Veronika fiebernd im Bett gelegen, ohne daß ihr Arzt hätte einen Krankheitsherd feststellen können, und Veronika hütete sich, ihm bei der Diagnose behilflich zu sein. Nachdem sie das körperliche Gleichgewicht wiedererlangt, hatte sie mühsam versucht, sich in den Zustand einzuleben. Aber wie ein unverrückbarer Fels, der ihr die Welt verbaute, blieb die Frage vor ihr: Ist das denn möglich?
Sie suchte nach Erklärungen der Handlungsweise Keills. Sie jagte nach Entschuldigungen. Oder sie quälte sich auch nur ab, Erkenntnis, Einblick zu gewinnen, und wartete immer auf etwas Endgültiges. Denn vor dem Schweigen des geliebten Mannes war ihr, ein Fluß unterbreche plötzlich seinen Lauf, bliebe, von einer Geisterhand angehalten, stehen. Es war gegen die Natur.
Sie selber hatte Narzissus nicht geschrieben. Denn es gab ja keine Antwort auf das, was er ihr angetan hatte. Aber wo blieb sein Brief? Was zwischen ihnen gewesen, war doch ein Wort der Erklärung wert. Sein Stummbleiben, die antwortlose Hinnahme seines Schweigens nötigten nicht nur zu dem Schluß, daß er von dem Besuch der Frau wußte, sondern steigerte sein Verhalten ins Unbegreifliche und seine Tat ins Rätselhafte.
Übrigens wäre es überflüssig gewesen zu schreiben, sowohl von ihm wie von ihr, denn Pu hatte sich mit Hilfe eines guten Freundes ein Amt bei der Briefverteilung der Post besorgt. Doch immer noch wartete Veronika auf diesen Brief, weil sie sich mit diesem Warten noch eine letzte, ach, sie wußte es wohl, irreale Möglichkeit vorzaubern konnte. Auch nach Monaten kam er nicht. Ihr Gemüt war schon so wund an der unaufhörlichen Reibung mit dem nicht zu erledigenden Zustand, daß sie manchmal mürbe und müde ward und sich vormachte, sie sei errettet, wenn der Brief käme und froh und klar sagte: Aus!
Ab und zu verlor sie die Beherrschung. Sie wollte nicht hinnehmen. Sie wollte handeln. Aber sie konnte ja nicht ins Adressenlose der Welt hineinreisen, ihn suchen und stellen. Dann sah sie sich in überhitzten Vorstellungen mit der hexenhaften schwarzen Frau in einem Kampf auf Leben und Tod um den grausamen Mann. Sie durchstach deren Herz. Und sie sah sich mit ihm ringen, ringen in einem Geist und in einer Liebe, die irdischen Dingen keine Greifkraft ließen. Darüber verfiel sie krisenhaften Ausbrüchen, welche ihrer Umgebung verrieten, wie äußerlich ihre Ruhe war und wie nachhaltig sie daran trug, daß Keill nicht zurückgekommen war.
Keill war aber nicht nur für Veronika verschwunden.
Die chinesischen Behörden mahnten um Erledigung der Angelegenheit des Briefes, der ihn des Waffenschmuggels und der Verschwörung mit einer Geheimgesellschaft überführte, welche die Republik stürzen und den Kaiser zurückführen wollte. Aber Keill schien gar nicht in Peking eingetroffen zu sein. Jedenfalls hatte er sich in der Gesandtschaft nicht gezeigt.
Die Hanjangwerke wußten nichts über ihn. Sein Auftrag blieb unerledigt. Die Braunkohlengesellschaft kabelte vergeblich. Die Telegramme stapelten sich ungeöffnet im Hotel. Das holländische Konsulat in Schanghai, dem Keill als Luxemburger unterstand, zog Erkundigungen über ihn ein. Es seien Anfragen seiner Familie gekommen.
Fünf Monate waren vergangen.
Veronika hatte sich das Herz verhärtet. Bei den Bekannten bestand um Keill etwas wie eine Verschwörung des Schweigens, wenigstens ihr gegenüber, denn Zufälle ließen sie manchmal dennoch Zeugin von Unterhaltungen werden, die sich mit ihm befaßten.
[Das] Konsulat wurde auch über die deutsche Kohlengesellschaft amtlich bemüht. Die Gesellschaft hatte mit der sibirischen Bahn einen anderen Ingenieur geschickt, der nicht nur die Weisung hatte, Keills Auftrag für die Hanjangwerke zu erfüllen, sondern auch zu versuchen, sein rätselhaftes Verstummen aufzuklären. Kamill Beißel, der Ingenieur der Hanjangwerke, brachte ihn zusammen mit Veronika Voyder. Aus Anteilnahme mit seinem Landsmann hatte er schon lange dem Gedanken nachgehangen, einmal in eine offene Aussprache mit dem jungen Mädchen einzutreten. Eine dunkle Regung, mehr als eine Regung war es nicht, brachte in ihm den chinesischen Brief in Zusammenhang mit Keills Verschwinden.
Die Aussprache verlief sonderbar.
Veronika Voyder ging ohne Zögern und ohne sichtbare Wirkung das Gespräch über Narzissus an. Sie sprach von ihm als von einem Mann, den sie wohl kannte, der aber nie ihr näher gewesen sei als etwa Beißel selber oder einer der anderen Herren in Hankau. Nur bei einer Bemerkung schien es Beißel, als verlöre ihre Stimme etwas an Sicherheit.
»Was sagt denn seine Frau?« fragte sie.
»Seine Frau?« sagte der Ingenieur. »Seit wann ist Keill denn verheiratet?«
Beißel machte runde Augen. Er war Zeuge des Empfangs in Schanghai gewesen, und er und alle Welt hielten Fräulein Voyder und den Ingenieur für ein Brautpaar, auch wenn diese nie eine offizielle Erklärung darüber ausgegeben hatten.
Auf die Frage des Ingenieurs antwortete Veronika:
»Ich bin nicht so nah mit Herrn Keills Verhältnissen vertraut, um Ihnen das zu sagen. Aber seine Frau hat mich hier besucht.«
Diese Bemerkung schnitt eine Fortsetzung des Gesprächs ab. Aber einige Tage später kam der neue Ingenieur mit einem Telegramm zu Beißel, das eine Anfrage über Keills Frau mit der Mitteilung beantwortete, Keill sei nicht verheiratet und nie verheiratet gewesen.
Die beiden standen vor der Ungewißheit, was sie mit dieser Nachricht dem jungen Mädchen gegenüber anfangen sollten. Schließlich beschlossen sie, dieses nicht damit zu befassen, weil aus den Umständen hervorzugehen schien, daß Fräulein Voyder in diesem Punkt eine Absicht verfolgte. Sie hielten es für möglich, daß Fräulein Voyder mit dieser vermeintlichen Frau ihren Konflikt mit Keill der Umwelt gegenüber sozusagen vernebeln wollte. Ein Verharren käme deshalb leicht einer unerwünschten Einmischung und einer Nötigung gleich.
So liefen in Hankau die Dinge ins Ziellose.
Veronika war schließlich dazu übergegangen, ein Leben zu führen, das nach außen der Katastrophe keine Rechnung mehr zu tragen schien. Sie hatte mit der jungen, lebenslustigen Frau des Konsuls Freundschaft geschlossen, und man sah sie nie allein, sondern stets in deren Gesellschaft. Sie beteiligte sich an den geselligen Unternehmungen, besuchte den Country Club und spielte Tennis. Als sie einmal mit ihr als Partnerin in einer Tennispartie begriffen war, bei welcher sie gegen die Sonne spielte, hörte sie, wie neben ihr die Freundin sagte:
»Was nicht gar! Legen Sie die Hand über die Augen und Sie werden eine neue Erscheinung in der Sonne sehen. Und was für eine!«
Veronika schlug am Ball vorbei. Es entstand eine Spielpause und sie wandte sich an die Konsulin, da sie deren Worte nicht verstanden hatte.
»Wenn Sie sich unauffällig umdrehen«, wiederholte diese, »so werden Sie die gestern noch für unwahrscheinlich gehaltene Tatsache feststellen, daß sich die fünfzig Besucher des Country Clubs um ein fremdes repräsentables Exemplar vermehrt haben!«
Um ihrer Bewegung den Schein der Absichtslosigkeit zu geben, ließ Veronika ihren Tennisschläger in der Hand kreisen. Plötzlich, als habe ein Geist ihr ihn aus der Hand geschlagen, flog er davon. Sie sah, abgesondert von den in einzelnen Gruppen verteilten Zuschauern, Herrn Beck auf dem Rasen stehen. Er gewahrte sie nicht. Er stand da, seine Umgebung überragend, und machte sein Wolkengesicht.
Veronika lächelte. Eine warme Welle spülte an ihr Herz. Aber die wohlige Empfindung, in welcher etwas Vertrautes sich ihr mit einer freundschaftlichen Versicherung hatte nähern wollen, erlosch im Augenblick darauf in einem tiefen Erinnerungsschmerz.
Nun schien Beck sie zu erkennen. Er winkte und holte sein Gesicht aus der Höhe hernieder. Es überzog sich mit dem Schimmer einer so liebenswürdigen Beglückung, daß die Konsulin einen mißtrauischen Blick auf Fräulein Voyder warf. Sollte sich ein Ersatz für den Ingenieur gemeldet haben? fragte sie sich.
Beck kam hergeeilt. Er habe Geschäfte in Peking gehabt und sei gestern mit dem Zug gekommen. Er scherzte, er habe dort Verpflichtungen übernommen und habe die Gelegenheit der Rückreise nach Sumatra nützen wollen, um sich zu überzeugen, daß es Veronika in Hankau an nichts fehlte. Er gebrauchte die vertraute Form: Veronika. Er wohne im Hotel Terminus am Bahnhof.
Auch später, als sie allein waren, erwähnte er mit keinem Wort die Vergangenheit. Veronika wußte ihm Dank dafür. Sie fühlte, es sei Rücksichtnahme, daß er sowohl über die abgerissene Trennung in Schanghai wie über Narzissus von sich aus kein Wort sagte, und die kameradschaftlichen Gefühle, welche Keills Dazwischenkommen unterbrochen hatte, wärmten sich wieder auf.
Sie trafen sich jetzt täglich im Country Club, wurden auch bei den Pferderennen, die in Hankau von der europäischen Kolonie fleißig geübt wurden, beisammen gesehen. Manchmal aß Veronika mit ihm in seinem Hotel zur Nacht. Aber Beck ging nicht mehr fort aus Hankau. Was für Geschäfte ihn hier hielten, wurde nie besprochen. Es war augenscheinlich, daß er keine Bekannten hier hatte, außer denen, zu welchen Veronika die Vorstellung vermittelte. Er blieb im Hotel wohnen.
Mit Veronika war er von Anfang an in einen anderen Verkehrston eingetreten als früher. Damals benutzte er jede Gelegenheit, um zu betonen, er sei der »väterliche Freund«, wenn er dies auch gern mit scherzhaften Wendungen vorbrachte. Jetzt war er der jugendlich frische Kamerad, der zu Übertreibungen neigte, sich wie ein großer dummer Junge zu benehmen wußte, wenn er einmal bemerkte, daß Veronika sich aufgeschlossener gab als es ihre Gewohnheit geworden war.
Bald ging er dazu über, öfter das Gespräch auf die Zusammenhänge zwischen Lindau und Sumatra und auf den Großvater Peter Voyder zu legen. Er versuchte, die Unterhaltung auf intimere Verhältnisse und Vorgänge hinzuführen, die sich mit Peter Voyders Leben, seiner Tätigkeit und seinem Wesen befaßten.
Das war Veronika einesteils unbehaglich, und dennoch übte es eine Wirkung auf sie aus, der sie sich nicht ohne Widerstand hingab. Beck tat ein wenig, als gehöre er zur Familie. Doch nie war festzustellen, daß er aus dieser vertraulichen Berührung, mit welcher er sich aus der Reihe aller ihrer anderen Bekannten herausstellte, andere Folgerungen zog als die der selbstlosen Darbietung einer aufrichtigen Freundschaft.
Doch kam bald die Gelegenheit, die eine Änderung einzuleiten begann. Er hatte Veronika eingeladen, in einer Barkasse eine Fahrt den Strom hinaufzumachen. Er wollte ihr den Schu tschang zeigen, den Schlangenberg mit dem europäischen Backsteingebäude, das ein früherer Gouverneur zum Empfang von Gästen hatte bauen lasse. Es lag an einer Tempelanlage, die in den Turm des gelben Kranichs ausging. Von ihm aus hatte man einen Blick über die drei Städte, und diesen Blick machte Beck zum Ziel des Ausflugs. Er hatte dafür Sorge getragen, daß in dem breiten Boot bequeme Korbsessel aufgestellt wurden, und in sie hingestreckt fuhren sie über das Wasser. Beck brachte wieder das Gespräch auf den Großvater und sagte dann:
»Ich versuche oft, das Rätsel Ihres Großvaters seines Menschlichen zu entkleiden und es mit dem nüchternen Spürsinn eines Mannes anzugehen, der wie ich Geschäfte in aller Welt macht. Glauben Sie, ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß es mit seiner Verarmung nicht stimmen kann! Irgendwo muß eine Vermögensmasse sich verborgen halten, die er abgetrennt hatte und die, da Sie seine Erbin sind, Ihnen gehören würde.«
Veronika machte eine abwehrende Bewegung.
»Verübeln Sie mir nicht, Veronika«, wies aber Beck diese Bewegung zurück, »daß ich Ihre Schamhaftigkeit in dieser Sache nicht achte, nicht achten darf. Sie müssen schon deshalb versuchen, zu dem Ihrigen zu kommen, damit nicht unrechte Hände sich daran bereichern!«
Er schaute mit einem versonnenen Blick über die weite Wasserfläche, als sähe er dort das geheimnisvoll verborgene Erbe.
»Schauen Sie, wie breit der Strom hier wird!« unterbrach er sich und machte eine weitläufige Armbewegung über das Wasser. Und dann fragte er, indem er seine Blicke aus der Ferne zurücksammelte und sie auf ihren Augen liegen ließ:
»Hat Ihr Großvater denn kein Testament hinterlassen?«
»Ich weiß nicht!« wehrte Veronika ab. »Es ist auch gleich.«
»Nein, wie gesagt, das ist es nicht«, widersprach Beck lebhaft. Wie alt sind Sie eigentlich Veronika? Eine Frage, die man eigentlich Damen nicht stellen darf. Aber so jungen Kindern muß man die Gelegenheit geben, mit ihrer Jugend zu prahlen!« lachte er.
»In Kürze werde ich fünfundzwanzig«, erwiderte Veronika.
»So eine alte Schachtel!?« scherzte Beck. »Schon ein Viertel Jahrhundert auf dem Buckel. Dann muß ich doch dazu übergehen, der Gnädigsten nach der Sitte den Handkuß zu gewähren.«
Damit nahm er auch schon von der Lehne des Sessels ihre Hand und drückte seinen Schnurrbart darauf, durch dessen Haare wie durch ein erschreckendes Moos hindurch Veronika die Wärme seiner Lippen spürte. Ihr schien, die Bewegung daure über Gebühr lang und habe auch einen unverständlichen Nachdruck, und sie erinnerte sich an den Auftritt in der Kabine auf der »Ermland«, als sie die Berührung seines Mundes vergeblich von dem Handrücken hatte abseifen wollen.
Auch jetzt entzog sie ihm die Hand. Auch jetzt hatte sie den Drang, sie von der Berührung zu reinigen. Aber er hätte es gesehen. Verstohlen rieb sie den Handrücken an der Kante des Sitzkissens. Zugleich aber zog die Erinnerung an die Begebenheit auf der »Ermland« die andere aus derselben Zeit an Narzissus mit sich, wenn sie vorbeiging und, um ihn zu necken, die Figaro-Arie summte:
»… ein Adonis, ein kleiner Narziss'«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Um es zu verbergen, wandte sie den Kopf beiseite. Aber Beck hatte es bemerkt. Er faßte wieder nach ihrer Hand.
»Veronika«, sagte er mit einer weich beflorten Stimme, »ich habe erfahren, was Sie erdulden mußten. Sie erlauben mir, nicht weiter an dieser Aussprache vorbeizugehen. Daß Sie nicht vergessen haben, weiß ich. Aber ich weiß auch, oder sagen wir, ich fühle, welche Rolle Sie Ihrem Stolz zugewiesen haben!«
Oft üben unbeachtliche Umstände eine unvermutete Wirkung aus. Sie müssen nur sozusagen den vorbereiteten, den wartenden Nerv treffen. Worte wie diese waren von Veronika unbewußt erwartet worden, seitdem sie über die Katastrophe ihres Gemüts wieder zu Sinnen gekommen war. In einer mild und vertrauensvoll ausbrechenden Bewegtheit sagte sie leise:
»Es war sehr schwer.«
»Auch für mich!« hörte sie Becks Stimme neben sich. Ihre Hand zuckte aus der seinigen. Aber er fuhr dessen ungeachtet in demselben Ton fort: »Einmal muß ja auch das gesagt sein: Ich bin durch die halbe Welt gereist, um zu vergessen.«
»Bitte, nicht!« flehte Veronika.
Da schwieg Beck. Stumm verlief die Fahrt. Sie erstiegen den Schlangenhügel und gingen durch die Tempel. In den finstern Räumen verrenkten in unverständlichen Zornestänzen die fremden Götter die Glieder und glotzten aus blinden Augen zu Veronika her. Schreckhaft äugte sie auf und hatte ein Gefühl, sie müsse bei Beck Schutz suchen. Denn in diesen Gestalten und diesen blinden Auggewölben sei das Sinnbild des Schicksals gelagert und drohe.
Als sie oben am Turm des gelben Kranichs standen, sah sie, wie unten, gleichsam zu ihren Füßen, die gedreiteilte Millionenstadt ihre Häusermassen um die Wasserläufe drängte. Das Land verwich nach Osten und Süden ins Unendliche der Ebene. Durch ihre grenzenlose Welt zog die Wasserbahn des ungeheuerlichen Stroms. Er löste sich in der Ferne in ein Wehen auf, behielt nur noch die Ahnung eines körperlichen Gebildes, bis er inmitten der Raumlosigkeit zu einem Geist wurde … zu dem Geist, der in seiner entirdischten Welt ihr gegenstandslos gewordenes Leben zu erwarten schien.
Jetzt war ihr in ihrem dunkeln Wirrwarr, als sei dies die Erfüllung des Drohens der blinden Götteraugen. In noch verstärktem Maß hatte sie die Sehnsucht nach Anlehnung und Schutz. Ein Gefühl der Dankbarkeit gegen ihren Begleiter stieg in ihr an.
Beck spürte die Wirkung dieser inneren Begebenheiten in Veronika, aber er erkannte ihre Quelle nicht und mißverstand ihr Wesen. Er begann sich als einen Meister des Lebens zu fühlen. Er bewunderte an sich, wie er es fertig brachte, die Entzündung für Veronika, die oft fieberartige Kurven annahm, seinem großen Plan zu unterordnen. Andererseits aber ließ er, parallel, eine zweite Handlung laufen: In vorsichtigen und klugen Dosierungen wollte er Veronika nach und nach mit seinen Gefühlen um sie und mit seinen Wünschen vertraut machen. Er war sich gewiß, schon jetzt erreicht zu haben, daß sich ihre Phantasie mit seinen Bewerbungen beschäftigte, und die Phantasie ist die von Gott selber eingesetzte Kuppelmutter zwischen Mann und Weib.
Klar erkannte er, daß er die zwei Dinge: Das Erbe auf Sumatra und Veronika zu trennen hatte, und da die Ankündigung, ihr 25. Geburtstag sei nah, wie ein Warnschuß gewirkt, stürzte er sich nun mit Eifer zunächst auf die Erledigung der Angelegenheit in Sumatra.
Um sein Ziel zu erreichen, versuchte er immer wieder ihr beizubringen, in einer Welt, die alte Gottheiten gestürzt hatte, um sich rein den irdischen Gütern hinzugeben, sei es nicht erlaubt, außer der Reihe zu tanzen. Den irdischen Gütern eine Vorstellung zuzubilligen, ihnen eine andere Weltanschauung zu unterordnen, sei nichts Unwürdiges, wie es ihr jugendliches Gemüt vielleicht glaube. Denn es sei der natürliche Lauf der Entwicklung der Menschheit, welcher sich den von ihren großen Geistern erreichten Fortschritten fügte. Sich der neuen Romantik zu ergeben, verlange allerdings einen stärkeren Einsatz der Vorstellungskraft wie der Persönlichkeit, als an der alten der Postkutschen haften zu bleiben.
Veronika verstand ihn nicht ganz, weil sie ihm gegenüber völlig arglos war und bei solchen Diskussionen an ein geistiges Interesse und nicht an vorbereitende Berechnungen dachte. Aber die Erörterung dieser materiellen Dinge war ihr unbehaglich, weil sie vom Hörensagen den großen Reichtum kannte, der in der Familie gewesen war; sie in ihrem eigenen Leben aber hatte stets nur mit bescheidenen Mitteln zu rechnen gehabt. Und weil nie jemand ihr gesagt, wo der frühere Reichtum hingekommen, blieb dieser als ein unerledigter Begriff in ihr lagern. Es galt ihr als gefährlich, daran zu rühren … sie würde den Familiengeist aufrühren.
Auch längst schon hatte sie diesen Konflikt aus dem Weg geräumt, indem sie die Scheu vor dem Unerledigten in Gleichgültigkeit gegen Geld und Geldeswert gewandelt hatte. So bearbeitete Beck noch weiter den Boden, obgleich dieser schon lange zur Aufnahme seiner Saat bereitet war. Wenn er schon das erste Mal, da er ihr diese Dinge in seinem Sinn vortrug, versucht hätte, sie um die Vollmacht zu bitten, welche das Ziel der Bemühungen war, so hätte er alle späteren Anstrengungen und Zeitverluste sparen können, Veronika hätte sofort ja gesagt.
Allerdings war Beck ein eitler Mann. Erfolge durften ihm nicht von selbst in den Schoß fallen. Er mußte sie mit seiner Klugheit, seiner List, seiner Diplomatie, seiner Redekunst oder einem anderen seiner Talente erringen, – jener Talente, welche das Aktivkonto eines jeden Hochstaplers bilden.
»Ich sehe schon, Veronika«, – so ging er eines Tags zum Sturm über – »ich muß Ihnen diese Dinge aus der Hand nehmen und mich einmal selber darum kümmern.«
»Oh, ja!« sagte Veronika erleichtert.
Und er fuhr mit dem Schein einer lächelnden Bevormundung fort:
»Sie erteilen mir Vollmacht, für Sie Geschäfte auszuführen, und wir werden sehen, was los ist!«
Am Abend hatte er die Vollmacht. Er ging mit ihr und Veronika zum englischen Konsul und ließ durch ihn ihre Unterschrift beglaubigen. Sie aßen dann zusammen zu Nacht. Er spürte das Papier an seiner Brust und machte gegen Veronika bezaubernde Augen. Denn nun, wo nach der Hauptseite hin nichts mehr zu wagen war, konnte er jenes behutsame Abwarten und ständige Ausloten, jene Angst, der Stein fliege zu weit und zertrümmere das Fenster, beiseite lassen.
Nachher, in der Nacht allein in seinem Zimmer, legte er das Papier vor sich und strich mit zärtlicher Hand darüber. Er las es Wort für Wort durch. Die Zärtlichkeit wuchs zu einer feierlichen Erhebung. Er las es zweimal, dreimal, und es drang immer stärker in sein Bewußtsein, daß es ihn zu einem Fürsten mache.
Wie war Beck gewachsen! Vor anderthalb Jahren, als er in dem deutschen Kleinbürgerstädtchen den großen Plan gebar, da hatte er dieses Papier besitzen wollen, um die Ländereien am Lau Biang heimlich zu verkaufen. Jetzt wird es die Waffe sein gegen den Sultan, gegen Philipps, gegen die Welt, und er wird mit ihm das Königreich schaffen, in welchem er Veronika auf den Thron setzen wird.
In dieser Stunde vergaß er, daß er ein Halunke war und durch ein Halunkenmanöver das Schriftstück ergaunert hatte.
Von diesem Tag an begann er, die Reise nach Europa vorzubereiten. Der Zeitpunkt lag günstig, weil Veronikas fünfundzwanzigster Geburtstag in ihren Jahresurlaub fiel. Denn sie mußte mit. Beck empfand es als unmöglich, in diesem kritischen Zeitpunkt sie der Gefährlichkeit von Zufällen und Gelegenheiten auszusetzen.
Er sah sich, ihre seidige Hand in seinen Arm geschoben, in die kleine Notariatskanzlei neben der alten Kirche eintreten … feierlicher Empfang durch den Notar, den er einst hatte niederschlagen wollen … Glückwünsche … der große feuersichere Schrank, damals Gegenstand der Versuchung, öffnete sich willig und feierlich, und das Testament Peter Voyders rauschte heraus mit dem Kaufakt von Lau Biang.
*
Während Beck in Hankau das Verschwinden Keills ausnutzte, um sein Garn zu spinnen, irrte dieser auf den japanischen Inseln umher, geriet in die Südsee und verließ eines Tages einen der Phosphatdampfer in Nauru. Gerade weil er Veronika nicht aus sich auszulöschen vermochte, waren unter der verbrennenden Glut wenn auch sehr mittelbare, so doch geradezu nötigende Beziehungen zu dem Mann entstanden, an den sie ihr Wort verpflichtet hatte.
Seine Auffassung über die Tatsache der verheimlichten Verlobung hatte Kreuzungen und Wandlungen durchgemacht. Er war sich unsicher geworden, ob ein so starres Verharren in der abweisenden Ablehnung angebracht wäre. Er war dazu übergegangen, sich zu fragen, ob es nicht Erklärungen gäbe, welche eine Entschuldigung und vielleicht gar einen Freispruch bedeuten konnten. Schon oft hatte er sich selber Vorwürfe gemacht, allzu gründlich jener Neigung seines Charakters erlegen zu sein, die mit jähzornigem Trotz Dinge erledigte, an welche er anstieß. Er hätte schreiben müssen. Es wäre gleich gewesen, was und wie: Wut oder Hohn, Beschimpfen oder Flennen! Nur nicht dieses Versteinen in Trotz! … und dazu hätte er ja als Warnbeispiel Singapur gehabt.
Er blieb mehrere Tage auf Nauru. Unter der geringen Anzahl von Weißen hatte er bald Umschau gehalten. Ein Mann wie jener, der nachts im Zug von Hankau nach Peking in sein Abteil gekommen, war auf Nauru nicht zu finden. Vielleicht war er früher einmal da gewesen, vor den Japanern, vor 1918. Aber damals war Veronika noch so jung, daß er in ihrem Leben unmöglich eine Rolle gespielt haben konnte.
Immerhin hatte diese Suche einen anderen Erfolg bei ihm. Zum erstenmal seit Hankau hatte er sich mit einer konkreten Tatsache beschäftigt und sich nicht nur so hinleben lassen. Darüber erkannte er, daß er wieder an die Arbeit mußte, um sich aus dem Sumpf, in welchen ihn das Erlebnis gestoßen, herauszuziehen. Er kabelte seiner Gesellschaft, besondere Umstände hätten ihn gezwungen, Hankau zu verlassen, bevor er seinen Auftrag hätte ausführen können. Er stehe aber wieder zur Verfügung und erwarte sofort nach Hongkong neue Orders.
Als er acht Tage später in Hongkong ankam, fand er ein Kablogramm seiner Gesellschaft, das ihn nach Sumatra schickte. Es handle sich um die Untersuchung von Braunkohlenlagern in Deli. Der Geschäftsführer des Sultans von Kuala, Herr Philipps, erwarte ihn und werde ihn über das Nähere unterrichten.
Philipps holte ihn in Belawan ab und brachte ihn in die Residenz des Sultans in Medan, wo für ihn in einem Gästehaus Quartier gemacht worden war. Am nächsten Morgen hatte Keill eine Audienz beim Sultan. Auch Philipps war zugegen. Es verlief förmlich, mit ein wenig exotischer Aufmachung. Keill kannte solche Empfänge, bei welchen die farbigen Prinzen sich in dem Stolz sonnten, sich etwas mit europäischer Tünche angemalt zu zeigen, und eine Darbietung ihres orientalischen Glanzes zu geben. Für alles andere wurde er an Herrn Philipps gewiesen.
Philipps wollte erst mitfeiern, bevor sie sich in die Einsamkeit begäben. Aber Keill bestand darauf, gleich an die Arbeit zu kommen.
»Seine Hoheit hat aber gemeint«, sperrte sich Philipps, »der Herr Ingenieur sollte zuerst die angenehmen Seiten unseres Medan kennen lernen!«
Keill roch Whiskyatem. Er erwiderte etwas schroff:
»Hier kommt es nicht auf die angenehmen Seiten an, sondern auf die Braunkohlenlager, und bei diesen nicht auf seine Hoheit, sondern auf mich. Denn sonst hätte seine Hoheit ja selber die Funde auf ihre Abbaufähigkeit untersuchen können.«
»Wir werden in Zelten leben müssen«, wagte Philipps sich noch einmal vor.
»Das wird in fünf Tagen nicht angenehmer und nicht unangenehmer sein, als gleich damit zu beginnen. Sie besorgen ein halbes Dutzend rüstige Leute. Wenn es kühler wird am Nachmittag, fahren wir los. Kraftwagen stehen einem Fürsten doch in Auswahl zur Verfügung?«
Da gab Philipps nach.
Es hatte noch eine Unterredung zwischen vier Augen mit dem Sultan stattgefunden. Der Sultan hatte Herrn Philipps dabei gefragt, wie lange Peter Voyder tot sei?
»Er hat eine Enkelin. Sie wäre seine Erbin, nicht wahr?«
»Naturgemäß!«
»Unterrichten Sie mich über europäische Testamentssitten. Ist es Gesetz, daß ein Testament beim Tod des Erblassers bekanntgemacht wird?«
»Unter gewöhnlichen Umständen jawohl!«
»Und unter ungewöhnlichen?«
»Nun halt, wenn man es nicht findet zum Beispiel. Aber Peter Voyder hat in einer deutschen Stadt gelebt, und es ist anzunehmen, daß er dort ein Testament niedergelegt hat.«
»Wenn er eins hinterlassen hat!«
»Ja, wenn er eins hinterlassen hat!«
»So müßte es also eigentlich längst schon bekannt sein, daß Peter Voyder hier noch Besitz hat.«
»Vorausgesetzt, daß der Kaufbrief bei dem Testament lag.«
»Bei den Verhandlungen mit dem deutschen Ingenieur berücksichtigen Sie, daß es einen Punkt gibt, der mit Vorsicht umgangen werden muß, wenn die Gespräche in seine Nähe kommen.«
Am Abend waren sie an Ort und Stelle. Die Zelte wurden auf einem Felsen aufgeschlagen, über den ein frischer Wind strich. Ein malaiischer Koch machte ihnen ein Essen aus europäischen Konserven. Philipps hatte eine Kiste Whisky und Gin mitgebracht. Keill war schweigsam. Das Land hatte kurze Augenblicke im Abend gelegen. Man sah in das reichgewellte Tiefland hinab, in welchem der Lau Biang in weiter Schwingung zwischen dunklen Ufern lag, und wandte man den Kopf, erblickte man die von der tiefen Sonne glühenden Pyramiden der Vulkane, welche die Gebirgskette überstiegen.
»Schönes Land!« murmelte Keill für sich und er ward sich dessen bewußt, daß in ihm Veronika geboren war. Er hatte ein plötzliches Bedürfnis, über sie zu sprechen. Philipps war ein völlig fremder Gegenstand, nicht weniger fremd als das Dach der Batakerhütte, das einen Steinwurf unterhalb ihres Lagers neben einem Bambusbusch aufragte, und Keill hätte den Namen genau so gut, wenn er allein gewesen wäre, zu dem hohen Schilfdach hinabsprechen können.
Er sagte auch nur:
»Hier hat Peter Voyder gelebt.«
Es war wohl schon dunkel geworden, aber er hörte die Wirkung dieses Namens auf den Mann neben ihm, Keill schien es, als schnellte Philipps, wie auf der Flucht vor einer Schlange, von den Steinen auf.
»Was haben Sie?« fragte Keill, als der Holländer so unvermutet in die Höhe sprang.
Erst nach einer Weile kam in abweisendem Ton die Antwort: »Ich saß auf etwas!« und mit ihr strich ein Alkoholschwaden durch die warme Luft herüber. Die erste geleerte Branntweinflasche flog in weitem Bogen hinab und zerschellte mit dem Lärm eines Schusses auf dem Felsen.
Unten hatte eine Stimme immer dieselbe Reihe von Tönen gesungen, in ihrer Fremdheit voll schwermütiger Anmut. Sie verstummte abgerissen.
Keill überlegte sich: Ich kenne diese Gattung der Tropen-Trinker. Der Alkohol ist die einzige Kraft, die ihren Lebensnerv noch zu speisen vermag. Ich will verschwinden, bevor er völlig besoffen ist … Laut sagte er: »Ich leg mich! Gute Nacht!« und kroch in das Zelt und den Schlafsack.
Keill konnte nicht wissen noch ahnen, welche Wirkung der Name Peter Voyder gerade an dieser Stelle auf den Holländer ausübte. Durch die Jahre, in denen dieser beim Sultan tätig war, waren aus seinem Amt als Nebenfrüchte nie bedeutendere Posten abgefallen als gelegentlich eine Kiste Genever oder Einladungen zu einem Essen und einer Nacht bei Sam Nang, gespendet von Leuten, die mit dem Sultan von Kuala ins Geschäft kommen wollten …
Bis jener großartige Mann kam, Beck-Duvernois, und mit seinem Wort als Gentleman die Zahl mit den fünf Nullen über den Champagnerflaschen in Sam Nangs Nachtgarten zwischen die farbigen Kugeln der Lampions aufhing. Seit anderthalb Jahren speiste deren Märchen Philipps Phantasie.
Beck-Duvernois war nicht wiedergekommen. Philipps begann sich zu ängstigen und hatte wohl einige Male versucht, sich an Tiffriche heranzumachen, dessen Beziehungen zu Beck-Duvernois er ausgekundschaftet hatte. Ja selbst die Frilling war er einmal angegangen. Aber Tiffriche spielte den stummen Stockfisch, und das Frauenzimmer hatte ihm ins Gesicht gelacht. Das lange Warten verwässerte das Märchen der hunderttausend Gulden, und wo vorher die Kraft eines vertrauensvollen Glückes den Holländer durchsonnt hatte, da stieg bald immer unaufhaltsamer der erkühlende Schatten von Ängstlichkeit und Zweifel hoch.
Als vom Sultan aus die Sache mit den Braunkohlen im Lau-Biang-Land aufgebracht wurde, nahm die Bangigkeit die Färbung eines Mißtrauens, gemischt mit jäher Angst an. Mit dieser neuen Wendung, die von einer anderen Seite her das Lau-Biang-Gebiet ins Interesse rückte, drohte Philipps die Sache überhaupt aus der Hand zu gleiten. Er war vom Sultan über seine Hintermänner im unklaren gehalten worden und wußte nicht mehr recht, an was sich halten.
In diese Verfassung hinein hatte der Ingenieur den Namen Peter Voyder ausgesprochen. Ja, jetzt war alles verraten! Man nannte es Braunkohle, aber es war ein Komplott gegen Philipps' Ansprüche. Der Deutsche war nichts als ein heimlicher Agent von Beck-Duvernois, geschickt, um dem Märchen der hunderttausend Gulden den Kopf abzuschlagen.
Keill mußte gleich eingeschlafen sein. Bald aber erwachte er an einem Knall. Philipps hatte wieder eine geleerte Flasche hinabgeworfen. Ein besonders Tüchtiger! stellte Keill fest, denn es war das dritte Mal, daß er den Schuß der unten zerschellenden Flaschen gehört hatte. Doch schlief er wieder ein. Wie lange er diesmal im Schlaf gelegen, wußte er nicht, als es vor dem Zelt von neuem knallte. Aber jetzt war es keine Flasche, jetzt feuerte der Betrunkene mit einem Revolver.
Du bist ein ganz Richtiger! sagte Keill und schrie hinaus:
»Lassen Sie doch den Unsinn!«
»Affen abwehren!« antwortete eine vor Wut belfernde Stimme.
»Affen?! – in Ihrem Kopf! Sie treffen sie leider doch nicht«, erwiderte Keill. »Legen Sie sich hin!«
Der andere schoß weiter.
»Ich hab gesagt, Sie sollen das lassen!« brüllte Keill und schwankte, ob er aus Schlafsack und Zelt heraus und ihm die Waffe wegnehmen sollte. Aber da hörte er, daß der andere in die Zeltwand griff. Die Nacht war hell. Der Kopf des Betrunkenen erschien in der Öffnung. Seine Stimme begann, in einem wüsten Wirbel, in dem kaum ein Wort deutlich wurde, zu schimpfen. Auf einmal glaubte Keill, mitten in dem Schimpfgerase das Wort: »Spion!« zu verstehen.
Das Gesicht hing jetzt über dem Schlafsack, nahe an Keills Kopf, und nochmals, inmitten eines heißen Alkoholschwadens, der Keills Gesicht überströmte, kam das Wort: »Spion!«
Keill schnellte auf. »Hinaus!« befahl er. Der andere brüllte zurück: »Spion!«
Da schlug Keill zu. Der Kopf taumelte zurück. Bald hörte der Ingenieur, daß Philipps draußen vor sich hinweinte. Das tatkräftige Auftreten hatte den Rasereianfall des Betrunkenen gebrochen. Es dauerte nicht lange, bis seine Stimmung ins Gegenteil umgeschlagen war. Mitten aus dem Weinen heraus sagte jetzt eine demütige Stimme:
»Ich hätte dem Herrn Ingenieur etwas mitzuteilen!«
»Und ich würde lieber schlafen als Ihre betrunkenen Reden anhören!«
Keill war im Schlafsack aufrecht sitzen geblieben.
»Ich bin am Verhungern«, hörte er draußen. »Der Sultan zahlt mir weniger Gehalt als seinen Pferdeknechten Lohn. Ich muß etwas dazu verdienen. Und da habe ich mir gedacht, daß ich dem Herrn Ingenieur etwas über das Land hier sagen kann, ein Geheimnis, und daß mir dann der Herr Ingenieur …«
Keill ließ ihn nicht ausreden:
»Wollen Sie Geld? Ich gebe Ihnen morgen hundert Gulden. Aber Ihr Geheimnis können Sie für sich behalten!«
Philipps hatte in der Trunkenheit völlig vergessen, daß er den Krawall veranstaltet hatte, weil er meinte, Keill sei ein Komplice von Beck-Duvernois, nur hergekommen, um ihn um seine hunderttausend Gulden zu betrügen. Er sagte flehend:
»Aber was ich mitteilen werde, ist vielleicht viele tausend Gulden wert, und ich hab einen im Wort, der zahlt hunderttausend … oder weiß der Herr Ingenieur, daß vor anderthalb Jahren einer mit mir bei Sam Nang war, der große Herr Beck-Duvernois …?«
Keill raste aus Schlafsack und Zelt.
»Wer?« schrie er den Holländer an.
Da kam dieser etwas zur Besinnung. Er wußte wohl nicht genau, was er hatte sagen wollen, aber an dem Ton der anderen Stimme glaubte er zu hören, daß er auf dem Weg gewesen, vielleicht eine Dummheit zu begehen.
»Ne, ne«, stotterte er, »da wurde kein Name genannt! Hab nichts gehört!«
Keill, überwach, hatte deutlich verstanden. Er überlegte sich einige Augenblicke, wie er zu verfahren habe. Betrunkene können sehr bockig sein, wenn sie eine Absicht merken. Deshalb tat er gleichgültig und gab sich den Anschein, zurück ins Zelt zu schlüpfen.
»Nein! Nein! Bleiben!« flehte der Betrunkene geradezu erschrocken. Er mußte sich, in dem aufgelösten Zustand seines Hirns, nahe am Ziel gefühlt haben. »… Viele tausend Gulden habe ich gesagt und mehr wert, fünf Nullen, wenn der Herr Ingenieur erst das Richtige weiß, und das kann Philipps sagen, mit einem Wort, mit einem Namen!«
»Ich begehre nichts zu wissen«, lockte ihn Keill.
Jetzt war der Betrunkene gekränkt:
»Gut! Wenn eine so bedeutende Tatsache dem Herrn Ingenieur Wurscht ist, dann kann der braune Hund … der braune Hund das Land am Lau Biang nochmals verkaufen! Dann …« er stammelte ein paarmal, stürzte darüber in einen neuen Gedankengang und versuchte, mit einer großartigen Deklamation das Wort: Solidarität! zwischen sie zu stellen … »Ne, ne«, sagte er mit Tönen der Entrüstung, »nie! Es geht um die Soladi…ti…, um die Solidalisa… in Gefahr! sag ich, Philipps, die Solidarität Weiß gegen Farbig, mein Herr, wenn Sie ein Greenhorn sind und das nicht wissen sollten. Lassen Sie sich es von mir sagen! Ich bin Philipps!«
Plötzlich bog er ab und begann ein anderes Gespräch:
»Wenn mir der Herr Ingenieur gefolgt hätte, dann lägen wir jetzt nicht hier auf einem Felsen in der Wildnis, sondern bei Sam Nang, und die Mädchen und der Schampus und ein Pfeifchen mit dem Rauch des Vergessens! …«
»Ist das Opium?« fragte Keill.
»Ganz recht, Opium!« juchzte der Holländer. »Ganz recht hat der Ingenieur: Opium bei Sam Nang! Ein so pickfeines Haus, oh, oh! Und da ließe sich beim Schampus über die Sache reden!«
Er malte tänzerische Bewegungen mit den Händen gegen den Himmel, der wie zerfließendes Platin über der Ebene glühte und in den hoch hinauf der Lärm der Milliarden von Zikaden stieg.
Aber fast mitten im Wort abbrechend, fügte der Holländer plötzlich hinzu:
»Der Opiumkneipe? Ehrenwerte Bekanntschaft«, lachte Keill.
Philipps erwiderte:
»Mich will dünken, man mache Scherze mit mir. Das würde man aber gleich aufgeben, wenn ich ein Kostpröbchen, einen Happen von dem vorsetze, was Philipps weiß.«
»Was hindert Sie daran, mir diesen Happen zu gewähren?« fragte Keill.
Da hob der Betrunkene die rechte Hand gegen den hellen Himmel und rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Pinke Pinke!« sang er in dem langgezogenen Modulieren, in welchem den ganzen Abend über die Bataker in ihren Dörfern psalmodiert hatten.
»Wollen Sie denn, daß ich gleich hier in der Nacht auf dem Felsen die Katz im Sack kaufe!?« fragte Keill.
»Katz im Sack?! Eine große Katz! Ein Sack, in den das ganze Land am Lau Biang hineinginge!«
»Also soll ich daraus schließen, daß es sich um das Gebiet handelt, das ich auf Kohlenvorkommen untersuchen soll?«
»Hm?!« tat Philipps geheimnisvoll.
»Dann will ich Ihnen etwas sagen: Schmiergelder gibt es nicht. Aber wenn ein Geschäft zustande kommt, so werde ich einen Weg finden, Sie mit einer Kommission zu beteiligen!«
»Wort eines Gentleman?« schrie der Holländer.
»Nennen Sie die Einrichtung, wie Sie wollen. Jedenfalls: mein Wort!«
Durch die Nacht irrte Philipps Hand zu der Keills, erwischte sie und preßte sie mit klammen schweißigen Fingern.
»Eines Gentleman!« sprach Philipps nochmals in tiefem Ernst und dann sagte er: »Peter Voyder!«
»Wer?« schrie Keill.
»Peter Voyder!«
»Wer?«
»Peter Voyder!«
»So, nun zur Ruh! Gute Nacht!« sagte Keill, schlüpfte mit zitternden Fußgelenken in seinen Schlafsack zurück und antwortete nicht mehr. Bald sank Philipps, wo er saß, um und wenige Minuten später schnarchte er.
Aber Keill drinnen im Zelt blieb schlaflos. Die ganze Natur draußen war angestaut von dem schrillenden Getriller, mit welchem die Zikaden die Welt wie mit einem Meer auf Eisen arbeitender Feilen anfüllten.
Lange war es Keill, als vergewaltige die Heftigkeit dieses Nachtlärms die Natur und verhindere, daß das, was er so unerwartet und unvorbereitet durch den Betrunkenen erfahren hatte, Wirklichkeit anzunehmen vermochte. Immer wieder versuchte er, in seinem Kopf zu ordnen, was er über dieses Land erfahren hatte und ihn in einen so unvermuteten unmittelbaren Zusammenhang mit ihm setzte. Am schwersten brachte er sich zu dem klaren Glauben an das Absichtsvolle der Fügung, daß die Geheimnisse des betrunkenen Holländers die Dinge und Menschen betrafen, welche in seinen Schicksalskreis eingetreten waren.
Er saß im Zelt hoch über dem Land und sann in die große grelle Nacht hinein den Dingen nach. Es wollte ihm scheinen, als wirke etwas in ihnen, das, weit auseinander gelagert, droben in den Sternen ausging und sich hienieden an dem Punkt zusammenfand, an welchen ihn doch nur der Zufall geführt hatte.
Oder war es eben kein Zufall? War es ins Gesetz der Beziehungen eingeschlossen, das ihn schon mit Veronika zusammengeführt hatte?
Dieses Land hatte ihrem Großvater gehört und gehörte jetzt vielleicht ihr. Und wenn er die betrunkenen Reden richtig deutete, plante Beck einen Anschlag dagegen. So war wohl auch der Mann, den er in Nauru nicht gefunden hatte, in Becks Dienst gestanden. Plötzlich war es Keill, als gäbe es keinen Konflikt und kein Problem mehr zwischen Veronika und ihm, und die Rolle jenes unbekannten Mannes sei in dem, was er jetzt wußte, mit aufgezehrt.
Der Holländer war am Morgen verschwunden. Keill fühlte sich zu übervoll von dem Neuen, als daß er hätte gleich zu einer Tat übergehen gönnen. Deshalb machte er sich an seine Arbeit und durchsuchte mit seinen Javanern zehn Tage lang das Gelände. Am zehnten Tag war Philipps plötzlich wieder da. Er behauptete, der Sultan habe ihn geschickt. Keill zeigte ihm die Gesteinsproben und meinte, man könne mit ihnen nach Medan zurückfahren, wo er seine Apparate und sein Werkzeug habe, mit denen er die Untersuchungen vornehmen wolle.
Er hatte gehofft, den Sultan zu sprechen, wobei er versuchen wollte, auf Peter Voyders Besitzrecht zu kommen, um aus der Wirkung auf den Sultan die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Denn manchmal fielen ihn Zweifel an, ob das Gehörte nicht nur Phantastereien eines Trinkers wären. Aber der Sultan blieb unsichtbar.
Der Gästepavillon, der Keill zugewiesen war, stand in einer Anlage, welche gegen die nahe Straße mit einer niederen Hibiskushecke abgegrenzt war. Von einem der Fenster aus sah Keill in die Straße hinein, die zwischen einer Allee von hohen Sennabäumen dahinging. Die Bäume streuten rote Blüten auf die Vorübergehenden, die alle in einem hastigen und gerafften Schritt dahineilten. Denn es waren ausnahmslos Eingeborene, die hier, außerhalb der Stadt, vorbeigingen.
Auf einmal kam ein Weißer dazwischen, schon von fern an seinem lässigeren Gang erkennbar. Er hatte seinen Tropenhut mit der Öffnung nach oben in der Hand und betrieb mit ihm das Spiel, im Dahingehen die roten Blüten zu erwischen, wenn sie aus den Baumgewölben herabsegelten. Gerade vor Keills Fenster gelang es ihm, indem er mit dem Hut einen Halbkreis beschrieb, gleich auf einmal fünf oder sechs einzufangen.
Dabei wandte er plötzlich das Gesicht einen Augenblick lang, aber ohne die Augen von seinem Spiel abzuwenden, zum Fenster her.
»Mein Gott!« sagte Keill laut und zuckte zurück.
»Was haben Sie?« fragte Philipps, der bei ihm war.
Keill faßte Philipps erregt am Arm und raunte ihm zu:
»Rasch, rasch! Schauen Sie hinaus! Kennen Sie den Mann?«
Bevor Philipps antwortete, warf er einen mißtrauischen Blick auf Keill.
»Nun?!« mahnte der.
»Woher kennen Sie ihn?« fragte Philipps lauernd.
»Aus China!«
»Er wohnt im Hotel de Boer. Es wohnt noch eine Dame mit ihm dort.«
»Seine Frau?«
»Nein; so gehören sie nicht zueinander!«
»Wie denn?«
»Sie haben denselben Boß.«
»Wer ist das?«
Keill fieberte. Weshalb brachte Philipps die Antworten so schleppend?
»Draußen am Lau Biang habe ich ein häßliches Wort zu Ihnen gesagt«, begann Philipps plötzlich. »Sie haben mir mit Recht in die Zähne geschlagen!«
»Und? Und?« drängte Keill.
»Weil ich gemeint habe, Sie seien im Auftrag eines Mannes hergekommen und wollten mich betrügen. Jetzt sehe ich, daß es nicht so ist. Sonst würden Sie den Mann kennen. Er ist der Sekretär eines Herrn Beck-Duvernois.«
»Beck und Duvernois, das sind ja zwei bekannte Namen«, rief Keill. Durch den Schrecken hindurch ging ein Frohlocken.
»Hier trug sie ein und derselbe Mann!« antwortete Philipps. »Er gab sich als Gentleman aus. Aber er war es wohl nicht, denn er lockte mir beim Trinken das heraus, was er wissen wollte, und hat dann nichts mehr von sich hören lassen.«
»Was wollte er wissen?«
Philipps sah Keill hilflos an.
»Nicht hier!« flüsterte er und schaute sich ängstlich um.
»Bei Sam Nang, heute nacht, wenn Sie wollen! Das Gehalt, das mir der braune Lotterer bezahlt, ist niedriger als der Lohn eines seiner javanischen Pferdeknechte, in einem Land, in welchem eine Flasche Schampus fünfzehn Gulden kostet!«
»Sie sind mein Gast heute abend«, antwortete Keill.
Um zwei Uhr nachts ließ er Philipps allein in dem Chinesenhaus zurück. Jetzt wußte und glaubte er alles. Er wußte, daß der du Vernois aus Beira der Beck von der »Ermland« und beide als Beck-Duvernois dieselbe Person waren. Er wußte, daß Peter Voyder das Lau-Biang-Land gekauft hatte, der Sultan damit zählte, der Kaufakt sei von Voyder zerstört worden, und daß Beck seinerseits auch einen Anschlag gegen dieses Gebiet in Gang gesetzt hatte.
Nun war dessen Aufenthalt in Lindau und seine Annäherung an Veronika Voyder geklärt – und geklärt war auch Veronikas Verlobung … Gott sei Dank! Es war jetzt keine Zeit zu Vorwürfen, zu leichtgläubig gewesen zu sein, sich gegen die Vertrauensseligkeit vergangen zu haben, welche Menschen wie er und seine Braut voneinander verlangen mußten.
Jetzt mußte gehandelt werden.
Einmal hatte er für Veronika gefürchtet, als er durch seinen Trotz sie der Gefahr von Becks Nähe ausgeliefert hatte. Inzwischen hatte er sie kennengelernt, und so sicher er sich darüber war, daß sich jetzt Beck in Hankau befand und sie »belagerte«, so sicher war er auch über die Widerstandskraft, welche Veronika gegen ihn besaß.
Aber die Menschheit mußte vor einem solchen Mann gesichert werden.
Es wird nicht einfach sein, überlegte sich Keill, gegen einen mit allen Wassern Gewaschenen, einen mit allen Teufeln Verschworenen …
In der Frühe des nächsten Tages schickte er einen Brief zum Residenten, der ihn eine Stunde später empfing. Der Resident hatte den Polizeidirektor kommen lassen. Keill legte den Fall dar und erzählte alle Einzelheiten. Der Resident erinnerte sich an Beck-Duvernois' Besuch vor anderthalb Jahren und meinte, es sei halt wieder einer der Fälle, in welchen der Schein getrogen habe. »Ein internationaler Kavalier« bezeichnete der hohe Beamte den Mann, um welchen er jetzt seine Kriminalisten bemühen mußte. Er legte seinem Polizeidirektor noch ans Herz, den Fall so verschwiegen wie möglich zu führen. Es handle sich um Rücksichtnahme und Wirkung auf die Eingeborenen-Elemente.
Dann ließ er Keill mit dem Polizeidirektor allein. Dieser versicherte Keill, ihm sei eine Last vom Herzen genommen. Er beobachte das Duo im Hotel de Boer seit einem Jahr, da offenbar etwas mit ihnen nicht in Ordnung sei, doch habe sich nie etwas gegen die beiden feststellen lassen.
»Ich werde nun«, fuhr er fort, »gleich einen Verhaftungsbefehl gegen sie ausstellen lassen und sie noch heute vormittag in Sicherheit nehmen.«
»Der Chef der Bande ist aber in China«, bemerkte Keill. »Und auf ihn kommt es an!«
»Über die chinesischen Behörden einen Kriminalfall durchzuführen, ist kaum möglich. Wir werden diesen Herrn Beck-Duvernois herlocken. Wenn seine Helfershelfer in unseren Händen sind, können sie ihn nicht warnen.«
Keill verließ mit ihm das Regierungsgebäude, das etwas von der Straße zurückgeschoben, in einer Anlage stand. Als sie nebeneinander den mit Steinplatten ausgelegten Weg zum Ausgang gingen, zog der Polizeibeamte Keill mit einem plötzlichen Griff vom Weg ab hinter einen Strauch und raunte ihm zu:
»Da kommt Tiffriche!«
Sie sahen ihn durch das Astwerk.
»Wir gehen ihm sofort nach, treten von hinten an ihn heran, Sie links, ich rechts. Will er laufen, fassen Sie zu! Das andere überlassen Sie mir!«
Keill sah, wie er noch rasch seinen Browning entsicherte und in die Jackentasche gleiten ließ. Dann beeilten sie sich, Tiffriche zu folgen. Als sie ihn eingeholt hatten und Keill der Anweisung gemäß an seine linke Seite trat, sagte der Polizeidirektor von der anderen Seite her dicht an Tiffriche mit halblauter Stimme:
»Herr Tiffriche, bitte gehen Sie weiter! Nehmen Sie Ihre Hände aus den Taschen! … Heraus!« zischte der Beamte, als der andere nicht gleich folgte.
Nun gehorchte Tiffriche. Geradeaus schauend ging er mit.
»Ich bin der Polizeidirektor. Ich habe augenblicklich keine Zeit, mich Ihnen auszuweisen, und nachher werden Sie kein Interesse mehr daran haben. Sie gehen jetzt ruhig mit, und ich nehme an, daß Sie keine Lust verspüren, sich interessant machen zu wollen und zu protestieren oder davonzurennen. Auf Ihrer anderen Seite geht auch jemand, der sich für Sie interessiert.«
Auf Tiffriches Gesicht stand bisher ein wurstiges Lächeln. Er wendete nachlässig den Kopf und sah den Mann aus der Peking-Bahn.
»Was sagen Sie nun, Tiffriche? Ein alter Bekannter, was?«
Das wurstige Lächeln ging in einen unbestimmbaren Ausdruck über. Dann brach es aus ihm hervor:
»Verdammt großartig!«
»Was finden Sie daran so großartig?« fragte der Beamte.
»Daß mich dieser Herr hier gefunden hat, wo er mich doch höchstens auf Nauru hätte suchen sollen!«
Das Polizeigebäude lag auf einem kleinen Platz mitten in der Stadt. In einer Art von Eilschritt ging es dort hin, und bald saß Tiffriche hinter Schloß und Riegel.
»Den hätten wir recht bequem eingebracht«, bemerkte der Direktor. »Mit der Kollegin wird es nicht so leicht sein. Ein rabiates Weib! Wir nennen sie den Flederwisch!«
Es wurde Kriegsrat gehalten.
»Van der Peereboom soll es machen!« sagte schließlich der Direktor.
Ein riesengroßer, außerordentlich wohlgenährter Mann in Uniform erschien. Ein Anblick wie der dieses van der Peereboom war in den Tropen sehr ungewöhnlich. Er sah aus, als sei er aus Butter geformt. Sein freundliches Mondgesicht war, als er Keill die Hand reichte, mit einem so herzlichen Lachen verhangen, daß man meinen sollte, er begrüße einen Zwillingsbruder, den er seit Jahren nicht mehr gesehen.
»Dies ist mein Wachtmeister van der Peereboom, Herr Ingenieur«, sagte der Polizeidirektor, und zu dem Beamten gewandt: »Es handelt sich um den Flederwisch im Hotel de Boer.«
»Hat der Herr Direktor endlich Material?« Jetzt war das Gesicht in dem Lachen völlig aufgeschmolzen.
»Sie muß in Sicherheit gebracht werden, ohne daß es nach außen bemerkt wird. Verstanden? Kein Alarmschuß, der einen Helfer warnen könnte. Kann ich es Ihnen überlassen? Die Dame gehört zu dem eingelieferten Tiffriche.«
»Mir bekannt!« antwortete van der Peereboom. »Herrn Direktor kann ich wohl versichern, dürfen die Angelegenheit vertrauensvoll in meine Hand legen!«
»Noch eins, so wichtig wie die reibungslose Verhaftung ist die Sicherstellung aller Papiere. Es darf keine Hand außer der unseren sie anrühren. Sie haben das Recht, dies mit der Waffe durchzusetzen.«
Van der Peereboom sagte noch:
»Früher gehörte ein dritter dazu!«
»Um ihn geht es ja! Wir müssen ein fingiertes Telegramm schicken. Er ist in Hankau. Dazu brauchen wir die Papiere, um Einblick in die Form zu bekommen, in welcher sein Hofstaat mit ihm verkehrt.«
Die Verhaftung der Frilling verlief wesentlich anders als man es sich vorgestellt hatte. Van der Peereboom war in einem eleganten Tropenzivil erschienen. In der Hand hielt er eine Reitpeitsche und wollte auf dem Höhepunkt der Handlung sie symbolisch ein wenig in der Hand wägen. Er versprach sich Eindruck davon. Er trat zum Manager in das kleine Büro, um seine Anwesenheit zu erklären. Der nötigte ihn zu einem Plauder und einem Whisky mit Soda auf einen Stuhl. Van der Peereboom konnte nicht ablehnen, denn, lachte er, eine Kräftigung vor dem Kampf mit dem Drachen sei vielleicht nicht schlecht.
»Es ist ein böser Drachen! Zwei geben mehr Kraft!« scherzte der Manager und goß einen zweiten ein. Für den dritten hatte er die weltläufige Erklärung der drei guten Dinge, und als dann der Wachtmeister, wohl gestärkt und gerötet, bei dem Fräulein ins Zimmer trat, lag dieses ohne besondere Achtung vor den Dingen, welche sie erwarteten, auf dem Bauch in einem Streckstuhl und las einen amerikanischen Roman.
»Meine verehrte junge Dame«, grüßte van der Peereboom kavaliersmäßig und schwenkte mit einer geradezu spanischen Gebärde den Manillahut vom Kopf. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, als sei eine zu Menschenzügen geformte Butterkugel ins Schmelzen übergegangen. So trat er dicht heran. Fräulein Frilling aber blieb liegen und brach in ein bald zwitscherndes, bald knallendes Lachen aus, und mittendrin gluckserte es aus ihrem Hals:
»Nein, nein, so ein glänzendes, wohl gemästetes und schon gespicktes Kolossal-Spanferkel!«
Van der Peereboom war gekränkt, doch nicht so, daß er es allen Ernstes gewesen wäre, denn im Ausdruck seines Gesichts änderte sich kaum etwas. Aber er vergaß alles Diplomatische, was er zur Ausführung seines delikaten Auftrags sich vorgenommen hatte. Mit der Reitpeitsche klatschte er ihr, die weiter auf dem Bauch liegengeblieben war, ein paarmal nicht mehr sanft, doch auch nicht roh, hintenauf.
»Komm mit!« sagte er zur gleichen Zeit, schob seine Hand, die wie eine halbe Speckseite so groß war, sacht unter ihrem Arm durch und zog sie empor, wie einen der mit Sägemehl gefüllten Bälle, welche Kinder an einer Gummischnur springen lassen. »Kommst mit, Flederwisch!« wiederholte er noch liebenswürdiger, indem er mit der freien Hand den Rockkragen über der beruflichen Blechmarke entblößte.
Die Frilling war so völlig sprachlos, daß sie ihr Lachen einzustellen vergaß, und mit glucksender, kullernder und rollender Kehle ging sie an seiner Seite willenlos zu dem Kraftwagen, den er draußen unmittelbar an der Tür hatte halten lassen.
Schon während sie zum Polizeigebäude fuhren, sammelte ein anderer Beamter den Inhalt des Aktenschranks und der Schubläden in einen Korb und brachte es dem Polizeidirektor. Man fand wenig, was der kriminalistischen Seite des Falles hätte dienen können. Aber an den Benutzungsspuren eines Telegrammcodes konnte festgestellt werden, daß die Gesellschaft mit diesem Code untereinander verkehrte.