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3.

Die Gäste, die den weißen Speisesaal des Hotels de Boer zum Nachtessen betraten, sahen an diesem Abend ein Bild, das sie bewog, die träge Gelassenheit aufzugeben, welche sich der Europäer im Tropenklima den äußeren Dingen gegenüber angewöhnt. Ja, sie vergaßen, was schicklich ist, und ein jeder, ob Herr oder Dame, hielt auf Augenblicke die Schritte an, wenn er an dem kleinen Tisch vorbei kam, auf dem unter dem gelben Seidenschirm die elektrische Lampe eine Orchidee in einem Kristallglas beleuchtete.

An dem Tischchen saß eine nicht mehr junge, auch nicht schöne, eher häßliche kleine Dame, um deren Kopf sich ein Ballen von schwarzen Haaren kraus bauschte. Auf ihnen funkelte eine Agraffe in Form eines Kolibri aus mehrfarbigen grellen Steinen. Die wie Windmühlenräder großen Flügel der Ventilatoren, welche mit sachtem Orgelgetön unter der Decke kreisten, hielten das Gewirr der Haare in einem ständigen Zittern, und das sah aus, als befände sich auch der Kolibri in Bewegung.

Die Frau, zu tief ausgeschnitten, hielt das Gesicht in einer unnatürlichen, übertriebenen und steifen Liebenswürdigkeit gegen einen alten Herrn geneigt, der im tête-à-tête ihr gegenüber saß, und strahlte ihn mit ihren übergroßen und wie auf Blechemail gemalten dunkeln Augen an.

Der Partner war eine Ruine von einem alten Herrn, nicht nur daß er wirklich alt aussah … seine Züge hatten den untrüglichen Schein mangelhafter Pflege, trugen, wie eine Patina, die Spuren jahrelanger Vernachlässigung oder des Hungerns und den Schimmel unsauberer Laster. Sein Schädel war völlig haarlos bis auf einen schmalen, Streifen im Nacken erhalten gebliebener grauer Büschel. Sie klebten zusammen. In dem von den Ventilatoren verursachten Luftzug richteten sich die Strähnen in einer fortwährenden Unruhe in die Höhe, als möchten sie die arme faltige Haut des Nackens verlassen. Der Alte war in einen weißen Smoking gekleidet, der zu kurze Ärmel hatte. Eine riesenhafte grellrote Blume war an dem Aufschlag befestigt, der auffällig breit, aus moirierter Atlasseide und wie das ganze Kleidungsstück in einer Mode geschnitten war, an die sich niemand der Gäste mehr erinnerte.

Vor allem aber war nicht zu verkennen, daß diesem Smoking nicht jene untadelige Sauberkeit zu eigen war, welche die chinesischen Wäscher im Osten den weißen Abendanzügen der Europäer zu geben sich befleißigen. Weil der Smoking vorn nicht schloß, war die Hemdenbrust weit sichtbar. Sie ihrerseits zeigte sich wohl sauber, aber am Rand ein bißchen gefranst.

War die Liebenswürdigkeit der Dame so unnatürlich, wie ihre Aufmachung übertrieben, so zeigte das Benehmen des alten Herrn im Gegensatz zu der zweifelhaften Verfassung seiner Kleidung eine restlose Übereinstimmung zwischen Anstrengung und Wirkung. Der Beobachter mußte über das Unverständliche der Mängel an der Kleidung hinweg feststellen: Da sitzt ein Kavalier bester Schule, der die Unterhaltung mit einer leichten Gehaltenheit und sicheren Selbstverständlichkeit führte. Man hätte sein Benehmen anmutig nennen können, wäre nicht mahnend die äußere Erscheinung in den Weg getreten.

So boten sich an diesem Abend unter den Ventilatoren des Speisesaals im Hotel de Boer Fräulein Frilling und ihr Gast, Herr Skoemaker, dem Staunen und der Belustigung der übrigen Gäste dar.

Beck-Duvernois führte es als Grundsatz, nie mit seinen Angestellten zusammen zu essen. Überhaupt, wo es sich bewerkstelligen ließ, mied er, einen Zusammenhang mit ihnen zu zeigen. Für diesen Abend war er in den Holländischen Hof zum Nachtessen gegangen.

Tiffriche kam also allein in den Speisesaal, als das Paar schon zu essen begonnen hatte. Er ging nahe an dem Tisch vorüber, um mit dem Schein einer geradezu ergebenen Ehrfurcht sich vor den beiden zu verbeugen. Dann nahm er an einem Tischchen Platz, von dem aus er der Frilling auf den Rücken, Skoemaker aber ins Gesicht sah.

Tiffriche betrieb eine blöde Unsitte, welche die Leute teils erschrak, manche mit ihrer grotesken Laune erfrischte, den meisten aber nur unappetitlich war. Ein Teil seiner bewegten Laufbahn hatte sich in den Urwäldern Ekuadors abgespielt, in welchen er dem Beruf eines Orchideensuchers und Schmetterlingfängers jahrelang nachgegangen war. Die mangelhafte und einseitige Ernährung aus dieser Zeit hatte dem heute fünfunddreißigjährigen Mann eine starke Paradentose eingebracht. Durch sie hatte er sämtliche Zähne des Oberkiefers eingebüßt, und an einer Gaumenplatte trug er die sechzehn Zähne eines neuen Gebisses. Mit einer Bewegung der Zunge konnte er dieses vom Gaumen lösen und nach vorn schieben. Es trat dann aus der Oberlippe als eine Reihe abwärts gerichteter, unnatürlich riesenhafter Raffzähne heraus, welche tief über die Unterlippe vorragten. Das gab seinen langen, hängenden, stets etwas wehmütigen Zügen den Ausdruck eines Seehundsgesichtes.

Er machte sich gern einen Spaß daraus, in einem unvermuteten Augenblick dieses Kunststück einem Unbekannten, mit dem er an einen Tisch zu sitzen gekommen war, vorzumachen. Schaute dieser dann betreten oder erschrocken hin, ließ Tiffriche das Gebiß blitzschnell wieder hinter den Lippen verschwinden, preßte es hastig an seine Stelle zurück und sagte, als sei nichts geschehen, ein Wort verbindlich erstaunten Fragens, was an ihm so interessant oder beunruhigend sei, daß sein Anblick eine so sichtbare Wirkung hervorrufe?

Tiffriche trug der Lerche nach, daß sie ihm für die Aktion mit Skoemaker den Wind aus den Segeln genommen und die Veranlassung zu dem Faustschlag gewesen war (übrigens nicht dem ersten, den er vom Boß einkassierte), weil er sich weigerte, dieser Karussellstute, wie er sie nannte, Schlepperdienste zu leisten. Er hatte ein Recht auf Skoemaker. Er war es ja gewesen, der diesen aufgetan hatte. Deshalb hatte er sich vorgenommen, den Abend der beiden zu sabotieren. Kaum hatte er Platz an dem Tischchen genommen, als er auch schon begann, seine Absicht auszuführen.

Fräulein Frilling sah auf einmal, wie mitten in einer Rede Herrn Skoemakers Augen abwanderten, sich mit einem unverkennlichen Aufzucken an irgend etwas in ihrem Rücken festhängten und er mitten in einem Wort zu reden aufhörte. Bald aber ging ein staunendes Fragen durch seine Augen, gefolgt von einem zögernd ungläubigen Lächeln. Immer wieder suchten nun die Augen Skoemakers die Stelle in ihrem Rücken auf, wobei sich auch immer wieder das Erscheinen eines Ausdrucks zweifelnden Staunens in ein ungläubiges Lächeln löste.

Das hatte zur Folge, daß sich bei ihrem Gegenüber eine erkenntliche Zerstreuung und ein Abirren aus dem Gespräch einstellte, welches sie absichtsvoll auf ihr Thema zuzuleiten begonnen hatte. Die Frilling war nicht dumm, und es dauerte nicht lange, so ahnte sie, daß in ihrem Rücken Tiffriche mit seinem Kunststück operierte. Ich werde dir den Witz legen, mein lieber Herr Tiffriche, sagte sie für sich, und indem sie sich auch schon erhob, bat sie Herrn Skoemaker, mit ihr den Platz zu tauschen; wo sie sitze, sei sie gezwungen, in ein Gesicht zu schauen, das ihr unangenehm sei und sie mit zudringlicher Absicht belästige.

Nach dem Platzwechsel sah Skoemaker in das Gesicht eines jungen Mannes, der mit dem Inhalt seines Tellers und seines Glases und mit sonst nichts beschäftigt war, und Tiffriches Raffzähne fanden nur mehr bei Fräulein Frilling ein spöttisch mißachtendes Lächeln.

Beck-Duvernois hatte der Frilling eingehende Verhaltungsmaßregeln zu dem Tête-à-tête mitgegeben. Sie sollte durch Erscheinung und Benehmen weltdamenmäßig auf den alten Holländer wirken, ihn so behandeln, als sei ihr nicht bekannt, daß ihm reihum bei den Assistenten und in den Kasinos der Tabakgesellschaften an abseitigen Tischen das Gnadenbrot hingestellt wurde … er müsse durch ihre Gegenwart und den Charakter ihrer Unterhaltung sich in die Zeit zurückversetzt fühlen, in welcher er noch ein angesehenes Mitglied der europäischen Gesellschaft in Deli war. Das sei der Weg, über den er aus der Verschüttung herausgehoben werden könnte, in welche das so lange unwürdige Schmarotzerdasein sein menschliches Wesen habe sinken lassen. Darüber könnten seine Erinnerungen frei werden, weil er in den Glauben gerate, jene Zeiten seien wieder zurückgekommen …

Aber die Frilling war eine bessere Psychologin als Beck-Duvernois. Sie hatte ein anderes Vorgehen ersonnen. Nach einigen unverbindlichen Einleitungsworten schlug sie ihm die Beteiligung an einem Geschäft vor. Dabei rechnete sie, daß Geld einem Menschen, der seine Würde durch Trinken und Bankerott verloren hatte, etwas Wesentlicheres und Wirklicheres, etwas Unmittelbareres und Lockenderes sein müsse als jene platonische Menschenwürde.

Sie hatte sich nicht verrechnet.

Als der javanische Steward die Flasche Cordon Rouge entkorkt hatte, hob Fräulein Frilling ihre Schale:

»Auf unser Geschäft, Herr Skoemaker!«

»Meine Gnädigste, ich mache furchtbar gern ein gutes Geschäft«, entgegnete dieser. »Es ist ja mein Beruf …« Auch er nahm sein Glas zwischen zwei Finger … »und diesmal gehe ich um so lieber hinein, als es mir eine Neuheit bedeutet, eine schöne Frau als Partnerin zu haben. Aber die Zeiten ändern sich! Ich bin Ihrer Liebenswürdigkeit ein Geständnis schuldig: Im Augenblick verfüge ich nicht über beträchtliches Kapital.«

»Das Kapital, das Sie einzulegen haben, besteht nicht in Geld«, sagte Fräulein Frilling. »Ich kenne Ostasien nicht so gut wie Sie. Aber ich weiß, daß es in allen überseeischen Ländern im Geschäft etwas gibt, das unentbehrlicher ist als Geld. Das ist die Kenntnis der Verhältnisse. Ihre Erfahrung ist mir eine Summe mit manchen Nullen wert.«

Bei dieser Antwort dachte sie an einen Scherz, den Beck-Duvernois zu machen pflegte. Empfand dieser, ein Gesprächspartner führe die Unterhaltung dahin, daß es auf einen Pump herauskommen würde, nahm er ihm den Wind aus den Segeln, indem er, noch bevor der andere sich klar zu erkennen gab, erklärte:

»Sie sind mir vier Nullen wert!«

Verriet dann der andere beglückt, er habe nur an drei gedacht, so antwortete Beck-Duvernois lachend:

»Das ist gleich. Ich habe ja nicht gesagt, daß eine Ziffer vor den Nullen steht!«

»Sie mögen recht haben. Ich warte gespannt auf Ihre Vorschläge«, sagte Skoemaker.

Seine zermürbten Züge zogen sich in einer Spannung zusammen, in welcher der ganze Mann um ein Jahrzehnt jünger wurde. Zugleich mit diesen äußeren Vorgängen vollzog sich eine innere Erschütterung. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Erlebte er ein Märchen? War es eine Fee, die ihn eingeladen hatte? Er schluckte an einem Wort und brachte es nicht heraus. Er goß den Rest seines Glases in einem Zug darüber. War es möglich, daß der böse Traum, in welchen sein Leben zu zerrinnen drohte, zu Ende ging?

Fräulein Frilling zögerte nun doch einen Augenblick, den Plan zu Ende zu führen. Sie hielt sich vor, es sei nicht unbedenklich, die Kenntnis jener Ländereien am Lau Biang und damit auch die Absichten um dies Gebiet einem Manne preiszugeben, der jetzt wohl unter ihrem Einfluß die sichtbare Wandlung durchmachte, wieder ein Mensch zu sein, der aber vielleicht noch heute nacht weiß Gott was für düsteren Kumpanen alles verraten und Beck-Duvernois die ganze Angelegenheit verderben könnte.

Aber sie sah, mit kalter Seele auf der Wacht, welche Wirkung ihr Vorschlag auf ihn hervorgebracht hatte. Der Emailglanz ihrer Augen hielt sich in den seinigen, in denen sie den Ausdruck von Ergebenheit und Beglückung gewahrte.

Da entschloß sie sich rasch.

»Können Sie mich«, fragte sie, »mit dem Besitzer des Landkomplexes zusammenbringen, der am Lau Biang liegt und dem Sultan von Kuala gehört hat?«

Als sie die Frage gestellt hatte, war ihr, als sitze sie auf einer Mine. Dennoch ließ sie, um ihre Übererregung zu verbergen, die Augen nun von dem Gesicht des alten Mannes fort zu dem nahen Ventilator hinauf schweifen. Mit einemmal spürte sie auch die entsetzliche Hitze.

Aber mit einem spitzen Stoß ins Herz hörte sie dann die Stimme des Alten, fast wie in einem Jodeln sich überschlagend:

»Voyder! Oh, du alter lieber Freund Peter Voyder!«

In der Kraft der Stimmung, welche von dem Vorschlag der Tischgenossin ausging, war auf einmal in dem Verfall seines Hirns eine klare Lichtung erschienen. Er sah Jahrzehnte zurück durch sie hindurch.

»Ja, das war Peter Voyder!« sagte er mit lauter Fröhlichkeit.

»Wer ist Peter Voyder?«

Und nun überstürzte sich die Stimme des Alten. Es schien, sie habe um die Wette mit etwas zu laufen, mit dem sie zu gleicher Zeit am Ziel sein mußte.

… Peter Voyder war der Hauptadministrator der Senembah-Gesellschaft. Er war überhaupt der Gründer des ganzen Tabakgebiets in Deli. Er war ein Deutscher. Er hat sich nach seiner Heimat zurückgezogen. Nach Deutschland, an den Bodensee, nach Lindau! Von da war er gekommen …

Jetzt hatte Fräulein Frilling noch eine schwere Frage, die sie plagte. Der Alte aber wollte nicht aufhören, seine Mitteilungen gingen allmählich in ein Babbeln aus, in welchem er allerlei unwesentliche Einzelheiten durcheinander plapperte. Fräulein Frillings Stimme unterbrach ihn streng:

»Weshalb ist dieser Peter Voyder nicht mehr hier? Weshalb kümmert er sich nicht um seinen Besitz?«

Aber es war keine richtige Antwort mehr zu bekommen.

Fräulein Frilling gewahrte, wie Skoemaker erregt nach den Resten von Trinkbarem griff, das in einigen nur halb geleerten und nicht abgeräumten Gläsern auf dem Tisch umher stand. Als er die seinigen ausgetrunken hatte, machte er sich auch an die Gläser, die ihr gehörten. Dann begann er mit Augen, die klein geworden und in ein trübes gieriges Flackern geraten waren, Ausschau auf die benachbarten Tische zu halten. Die Gesichtszüge verfielen wie verbranntes Papier, das eine Weile noch verkohlt die Form hält, bis es unter einem zugreifenden Finger in Asche zerrinnt.

Die Frilling beobachtete beklommen diese unvermittelte Wandlung.

Skoemaker versuchte, von dem von Gästen verlassenen Nebentisch ein halb geleertes Glas herzulangen. Sein Arm war nicht lang genug. Da erhob er sich, um es zu holen. Er torkelte, hielt sich an der Tischkante fest und dabei glitt das Tischtuch von der Platte. Gläser zerschellten mit einem furchtbaren Gepolter am Boden.

Fräulein Frilling erhob sich rasch und verließ hastig ohne Abschied den weißen Speisesaal.

 

Beck-Duvernois und seine Genossen gingen nun sofort den Spuren jenes Peter Voyder nach, dessen Namen Skoemaker der Frilling genannt hatte.

»Auf diesen Mann hätten wir schon längst selber kommen können«, sagte die Frilling bereits am ersten Abend, als man zusammentrug, was man über Voyder erfahren hatte.

Den Weg dieses Mannes durch Sumatra zu verfolgen, war nicht schwer. Wo Tabak gepflanzt und gehandelt wurde, tauchte auch sein Name auf. Er hatte sich durch die Jahrzehnte als der eines ungekrönten Königs von Deli erhalten.

Peter Voyder war etwa 1870 als junger Mensch von Lindau nach Sumatra gekommen. Wohl gab es dort schon Tabakpflanzer, doch arbeiteten sie mit wenig Erfolg. Tabakland muß nach jeder Ernte sieben Jahre brachliegen, und eine Tabakpflanzung verlangt also von vornherein Kapitalien, welche diesem Umstand Rechnung tragen. In Deli waren nur kleine deutsche und holländische Bauernpflanzer, die unfähig waren, ihren Betrieben den Anschluß an den Weltmarkt zu geben.

Voyder erkannte, daß nur starkes Kapital und großer Besitz in einer Hand einen sicheren und ruhigen Markt schaffen und die Gesundung der Verhältnisse herbeiführen konnten. Er machte sich ans Werk, und in einigen Jahren hatte seine Tatkraft durchgesetzt, was sein Scharfsinn erkannt hatte. Aus einer Anzahl kleiner hinsterbender Pflanzungen hatte sich die blühende Senembah Maschappji entwickelt, und Peter Voyders Name beherrschte die Sundainseln als der des Wirtschaftspioniers, dem die Landschaft Deli ihren großen Aufschwung verdankte.

Wie Beck-Duvernois und seine Leute feststellten, war Voyders Aufenthalt in Deli durch eine Reihe von Anekdoten noch in lebendiger Erinnerung. Diese Anekdoten verrieten, daß er ein schwer zu behandelnder Herr war, eigenwillig und voll übermäßigen Selbstbewußtseins. Dann war, mitten in der Blüte des Alters, sein einziger Sohn gestorben, den er zu seinem Nachfolger erzogen hatte. Kurz darauf hatte Peter Voyder Sumatra verlassen und mit einer schroffen Gründlichkeit alle Beziehungen gelöst.

Um diese Vorgänge war damals von der Kolonialverwaltung eine Zone des Schweigens befohlen worden. Heute konnte darüber gesprochen werden. Zwanzig Jahre hatten den Eindruck verwischt, den das Bekanntwerden der Ursache zu der gewaltsamen Plötzlichkeit, mit welcher Voyder alles fortwarf, seinerzeit hervorgebracht hätte: Voyders Sohn und dessen Frau, die einige Monate zuvor eine Tochter geboren hatte, waren auf einer Reise ins Innere an der Pest gestorben, und die Welt durfte nicht erfahren, daß in einer von Holland verwalteten Kolonie noch die Pest herrschte.

Voyder warf aber dieser Verwaltung vor, sie habe die Epidemie verschwiegen, statt sie zu bekämpfen, sie sei unfähig und unwürdig, eine große Kolonie zu führen. Nach einer Auseinandersetzung mit dem Residenten, die so laute Formen annahm, daß die Vorübergehenden vor dem Verwaltungsgebäude in Medan stehenblieben, hatte Voyder den Staub Sumatras von seinen Schuhen geschüttelt. Kein Versprechen und kein Zureden hatten ihn bewegen können, von seinem Entschluß abzugehen.

Das waren die Dinge, die am dritten Abend nach dem Skandal im Speisesaal des Hotel de Boer Beck-Duvernois über Peter Voyder wußte. Es war nicht wenig, wenn auch der Zusammenhang Voyders mit den Ländereien am Lau Biang dadurch nicht geklärt wurde.

»Lerche, was raten Sie?« forderte Beck-Duvernois Fräulein Frilling auf, die auch in den verfahrensten Situationen häufig noch einen Ausweg fand.

»Es gibt nur eins!« war die Antwort. »Wir haben festgestellt, daß das Land am Lau Biang allem Anschein nach dem Voyder gehört. Nun ist die Frage, kümmert er sich nicht um seinen Besitz, weil er ihn vergessen hat, oder weil, wie wir ja wissen, er von Sumatra überhaupt nichts mehr wissen will? Herr von Duvernois, nicht wahr, Sie geben zu, daß von der Antwort auf diese Frage Ihre Aussichten abhängen?«

Beck-Duvernois nickte.

»Nun, so fahren Sie doch dorthin, wo allein Sie die Antwort holen können – nach Lindau! Zu Herrn Voyder!«

Beck-Duvernois, ärgerlich, daß er nicht selber auf diesen einfachen und zwingenden Schluß gekommen war, knurrte hin:

»Ei des Kolumbus!«

Trotz der sichtbaren Wirkung, die Fräulein Frillings Vorschlag auf ihn hatte, gab er einen Entschluß noch nicht bekannt. Auf dem Boden einer Zigarettenschachtel hatte er, sobald er allein war, einen Überschlag seiner Finanzen gemacht. Aus den Gründungsgeschäften waren Gelder eingegangen, die zur Reise reichten. Dennoch hatte er das Gefühl, es fehle ein Glied in der Kette, und er konnte sich nicht entschließen. Tags darauf sagte ihm die Lerche:

»Ich möchte Ihnen eine Beobachtung mitteilen, die ich an jenem Herrn Philipps gemacht habe, von dem Sie erzählten, er sei als Abgesandter des Sultans bei Ihnen gewesen. Er ist ein Trinker und wahrscheinlich mehr. Vielleicht raucht er Opium. Ich sah ihn die drei letzten Nächte in das übelberüchtigte Chinesenhaus von Nam Sang gehen.«

»Ja, Lerche«, fragte Beck-Duvernois erheitert, »stehen Sie da vielleicht Schmiere?«

»Ich habe Gründe, Herr von Duvernois, die mich bewogen, die drei letzten Nächte diese Gegend aufzusuchen.«

»Ich bin nie in dem Haus gewesen!« erklärte Beck-Duvernois, unsicher, was sie meinte.

Die Lerche überhörte es:

»Aber Herr Philipps ging hinein, und wer als Stammgast solche Häuser besucht, an den ist heranzukommen, weil er Geld zur Befriedigung seiner Laster braucht. Er wird seinen Sultan für Sie verkaufen, wenn Sie ihn geschickt angehen.«

»Sie haben Einfälle, Lerche!« rief Beck-Duvernois.

»Das ist kein Einfall, sondern das Schlußglied einer Kette von Überlegungen.«

»Ich werde mich in diese Kette mit einreihen«, antwortete Beck nur.

Nach dem Nachtessen suchte er den Klub auf, zu dem er Zugang gefunden. Gleich stieß er auf Philipps, und dieser stürzte sich in seine Arme, als seien sie alte Freunde, die sich lang hatten entbehren müssen.

Die Lerche hat recht, sagte sich Beck-Duvernois, er ist angetrunken.

Er lud ihn zu einer Flasche Burgunder ein. Als sie ausgetrunken hatten und Beck um eine zweite winkte, sagte Philipps:

»Es ist stur hier! Gehen wir zu Nam Sang!«

Das anrüchige, auf chinesische Art gebaute Haus lag am Rand Medans, und sie nahmen einen »Sado«, einen jener überdachten, mit Vorhängen versehenen und von kleinen Javanerpferden gezogenen Mietwagen, deren Name aus Dos-à-dos (Rücken an Rücken) verstümmelt war. Der Fahrgast saß mit dem Rücken gegen Kutsche und Fahrt.

Nam Sang war eine Spiel- und Opiumhöhle und zugleich auch ein elegantes Freudenhaus. Der erste Raum, den die beiden betraten, war der Spielsaal. Um einen großen Tisch hockten Chinesen und Europäer und spielten »Fantang«. Der Bankhalter, ein Angestellter Nam Sangs, sonderte aus einem Haufen der viereckig durchlochten chinesischen Messingmünzen zwei Hände voll heraus und deckte sie mit einer Glocke zu. Die Spieler setzten auf Ziffern, welche in chinesischen und arabischen Zeichen in große Messingplatten eingraviert waren. Eins, zwei, drei und vier. Die Glocke wurde abgehoben und mit einem Scharrer sonderte der Bankhalter zu vier und vier die Geldmünzen von dem Haufen. Die zum Schluß übrigbleibende Zahl gewann, und wer auf sie gesetzt hatte, bekam seinen Einsatz viermal zurück.

Beck-Duvernois geriet gleich in eine Glückssträhne. Er setzte willkürlich. Immer traf er die richtige Ziffer. Er hatte ein so ausdauerndes Glück, daß bald die chinesischen Mitspieler abwarteten, bis er seinen Einsatz untergebracht hatte. Dann schoben sie ihre Banknoten neben die seinige auf die Messingplatte.

Beck hatte ein Taschentuch unter den Kragen gesteckt. In dem fensterlosen Raum staute sich eine Hitze, die feucht und schwer war wie ein Sumpf. Er mußte sich überwinden sie auszuhalten und fühlte die Ruhe und Klarheit seines Willens bedroht.

Er war ja auch nicht hergekommen, um hundert oder tausend Gulden in einem sturen Glücksspiel zu gewinnen. Sein Fantang hatte eine andere Bewegung. Sein Fantang ging um die Millionen, die am Lau Biang warteten und die endlich einmal ihn zu einem reichen Mann machen würden.

Er sah neben sich, wie Philipps mit kleinen Einsätzen spielte, und erkannte, daß auch diesem nicht um das Gewinnen zu tun war. Aber Beck durfte nichts von sich verraten. Philipps sollte keinen Verdacht schöpfen, daß Beck seinetwegen den Klub aufgesucht und den Vorschlag zu Nam Sang zu gehen angenommen hatte. Denn welcher Ort wäre für seine Absichten günstiger gewesen?

»Haben Sie bald genug gewonnen?« fragte plötzlich Philipps.

»Ach ja, längst!« machte Beck.

Hundert chinesische Augen, die bisher seiner Hand gefolgt waren, wenn sie das Geld zu einer der Ziffern führte, folgten nun dem Davongehenden, und ein Ausdruck der Enttäuschung in den flachen Augen begleitete ihn.

Lärmend lachte Philipps:

»Und nun –? Weiber oder Opium?«

»Weshalb entweder oder?« scherzte Beck-Duvernois. »Wir sind beide kräftige Männer! Aber ich will Ihnen etwas gestehen: Eine eisgekühlte Flasche wäre mir wichtiger. Mir ist, als säße ich bis an den Hals in einem heißen Brei!«

Sie durchschritten einen flurähnlichen Raum, an dessen einer Seite sich zahllose Kabinen aneinander reihten. In den Türöffnungen hingen Vorhänge aus Glasperlen. Man sah durch sie ins Innere. Auf breiten Lagern waren alte, vornehm in Seide gekleidete chinesische Herren zu erblicken. Sie formten das Opiumkügelchen, das sie an einer Pinzette hielten, an einer offenen Flamme … oder legten schon die Pfeife aus der Hand … während andere regungslos hingestreckt waren und mit geschlossenen Augen dem Rausch sich hingaben.

Beck und Philipps landeten dann im Hof des Hauses. Er war mit blau-weiß gestreiften Segeltuchplachen überdeckt. Große chinesische Laternen aus geölter Seide, auf die in roter Farbe die Zeichen gemalt waren, die langes Leben oder Glück bedeuteten, ließen ein sahnefarbenes Licht auf eine Schar kleiner Chinesenmädchen fallen. Diese saßen oder standen in der Mitte des Raums, in bunte Seide gekleidet. Die Schar sah aus wie eine Vereinigung von Schmetterlingen. Auch wenn dieses Haus nichts anderes als ein Freudenhaus war, so herrschte in ihm doch die Strenge des »Li«, der chinesischen Etikette, und es war verpönt, daß ungerufen eines der Mädchen von eintretenden Gästen Kenntnis nahm.

Philipps rief einen der chinesischen Kellner. Der stürzte vor ihm her zu dem ersten der Zimmerchen, wie sie rund um den Hof aneinander gereiht waren. Durch runde Türöffnungen betrat man sie. Ein anderer Diener brachte eine Flasche französischen Champagner, und nachdem Philipps noch einmal stumm befehlend die Hand erhoben hatte, stand eine Flasche Gin auf dem Tisch. Während er eingoß, sagte er:

»Überlegt?«

Ebenso kurz antwortete Beck-Duvernois:

»Ja! Einverstanden!«

»In Ordnung!«

Dann schwiegen sie und tranken. Nun sagte Philipps:

»Der Sultan ist ein Gauner! In Geldsachen genau und knapp. Er zahlt mich schlechter als einen Pferdeknecht!«

»Ich verstehe«, wandte Beck rasch ein. »Es ist selbstverständlich, daß, kommt das Geschäft zustande …«

Philipps ließ ihn nicht ausreden. »Hunderttausend Gulden!« warf er dazwischen.

»Für Sie! Gut!«

»Das Wort eines Gentleman!«

»Meinetwegen!«

Beck machte seine hochmütigen kalten Augen über Philipps hinweg, wenn jetzt auch sein Inneres glühender war als die Luft des Raumes.

»Dann wird Ihnen ein Tip notwendig sein, Herr von Duvernois!« sagte Philipps.

Er trank, schien dann aber vergessen zu haben, was er versprochen hatte.

»Den Tip!« mahnte Beck.

Nun neigte sich Philipps zu ihm. Flüsternd sagte er:

»Der Vater des Sultans hat das Land an Voyder verkauft.«

Als er gleich wieder schwieg, meinte Beck nebensächlich und spöttisch:

»Es scheint mir, als habe ich das bereits gewußt.«

»Jawohl, aber was Sie nicht wissen, ist die Geschichte mit dem doppelt ausgefertigten Akt über diesen Kauf, von dem der Sultan eine Abschrift hat …«

»Und Voyder die andere!« lachte Beck-Duvernois. Wenn er die Angelegenheit bagatellisierte, würde der Holländer keinen Verdacht schöpfen, sagte sich Beck, denn er dachte nicht daran, sein Wort zu halten und den Sultan oder seinen Beauftragten zu beteiligen, wenn ihm das Geschäft glatt lief.

»Das meinen Sie! Und sehen Sie …« es war ein Triumph in Philipps Stimme, »da liegt der Hase im Pfeffer. Denn das ist es eben, was man nicht weiß. Voyder ist verrückt. Vielleicht hat er das Schriftstück noch? Vielleicht hat er es zerstört? Preisfrage!«

Nun wurde Beck-Duvernois unsicher. Drängend fragte er:

»Und?«

»Hat Voyder es zerstört, dann würde das Land dem Sultan gehören, wenn dieser den Zwillingsbruder des Kaufaktes, den er in seinem Kassenschrank hat, verbrennt … Sie haben mir hunderttausend Gulden zugesagt!« unterbrach sich Philipps plötzlich.

»Das tat ich«, entgegnete Beck-Duvernois, »und wenn ich Sie richtig verstehe, so würde, auf der anderen Seite, Ihr Sultan überhaupt ausscheiden … vorausgesetzt, daß sich der Voydersche Akt einstellt?«

»Zum Beispiel in Ihrem oder meinem Besitz erschiene!« warf Philipps rasch ein, und nochmals sagte er: Hunderttausend Gulden! Wort eines Gentleman?«

Es ist merkwürdig, überlegte sich Beck-Duvernois, welchen Glauben in das Wort Gentleman dieser Mann hat, der sich so wenig als ein Gentleman benimmt, daß er schon bei unserer zweiten Zusammenkunft bereit ist, seinen Auftraggeber zu verkaufen.

Da hinein hörte er Philipps sagen:

»Wenn Sie einen Weg zu Voyder fänden! Das wäre Ihre Chance!«

Die Lerche hat recht gehabt, stellte Beck-Duvernois bei sich fest. Ich muß nach Lindau reisen. Lindau ist ein kleines Städtchen. In acht Tagen kenne ich mich dort bis in die letzte Ladenkasse aus. Ich werde den Weg zu diesem Herrn Voyder finden … fliege, o Traum!


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