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7.

Da kam der Abend, der ihm die Gewißheit brachte. Das Schiff sollte am nächsten Tag Singapur anlaufen, und der Kapitän gab seinen Gästen das übliche Fest. Die Decks wurden mit Lampions und Girlanden geschmückt. Es wurde ein Nachtessen aufgetischt, das mit allerlei Leckerbissen reichhaltig ausgestattet war. Man trank Wein, Sekt und Liköre und bereitete die Stimmung auf den folgenden Tanz vor. Die allgemeine Fröhlichkeit ging auch an Keill nicht vorüber. Man blieb länger bei Tisch sitzen, nachdem ein Spiel des allgemeinen Sichneckens entstanden war, und als man Beck zur Zielscheibe nahm, hatte Keill plötzlich einen Einfall.

Wie von selber ergab sich jetzt die Gelegenheit, auf sein Zusammentreffen mit Beck in Beira zu kommen. Keill sagte als seinen Beitrag in den Attacken auf Beck:

»Als ich Herrn Beck vor einem halben Jahr in Beira begegnete, entfuhr mir unwillkürlich der Ausdruck: Welch ein schöner Mann! Er sieht aus wie ein Gouverneur!«

Alle schauten nun mit lachender Bestätigung auf Beck. Auch Veronika machte mit. Da Keill ihr nie etwas von einer solchen Begegnung erzählt hatte, nahm sie an, die Bemerkung sei nur die Einleitung zu dem wirklichen Scherz. Auf diesen begann sie nun neugierig zu warten, Beck mit ihren honigfarbenen Augen lustig anfunkelnd.

Vor Beck aber wurde durch diese Worte der Schleier zerrissen, den sein Gedächtnis zwischen dem Ingenieur und sich aufgespannt hatte. Jetzt auf einmal war die Erinnerung da:

Dieser Mann hatte neben Jürgens in der Rikscha gesessen, als er, Beck, am Abend vor dem Anschlag gegen die Pläne der Kohlenfunde von dessen Bungalow zurückkehrte … Er war der Mann, den Tiffriche in der Nacht hatte überfallen sollen, um in den Besitz der Mappe zu kommen, in welcher sie die Pläne vermuteten, nachdem sie bei den aus dem Kontor geraubten Papieren nicht gefunden worden waren.

Im ersten Augenblick drohten Beck die Schläfen zu zerknallen. Seine Ohren wurden von höllenhaften Geräuschen überstürzt, wie sie eine gewaltsame Katastrophe begleiten … Wußte dieser Keill, wer er war? Spielte er Katz und Maus mit ihm? Gab er, der von Beira kam, sich wohl als Ingenieur aus, verbarg damit aber nur, daß er in Wirklichkeit ein Abgesandter der Polizei war, die ihm, Beck, auf die Spur gekommen?

Rasch, während er zugleich in der Übererregung seines Innern Ordnung zu schaffen suchte, berechnete er, nur Leugnen könne aufschieben und nur Aufschieben helfen! Er richtete mit erzwungenem Erstaunen den Kopf hoch und zwischen Liebenswürdigkeit und Anmaßung ganz von oben herab schauend, sagte er mit einer leichten Verbeugung und in einem maskenhaften Lächeln zu Keill und der Gesellschaft, die zu dessen Bemerkung Beifall gespendet hatte:

»In Beira? – Schade! Es wäre sehr schmeichelhaft! Aber in Beira bin ich nie gewesen. Leider war es ein anderer, mein lieber Ingenieur!«

Keill trommelte es in den Adern vor Erschrecken und Triumph zugleich. Jetzt nicht sich verraten! Nur nicht sich verraten! Der andere saß in der Schlinge … Keill brachte es auch wirklich fertig, ein Gesicht zu machen, das Enttäuschung und Unsicherheit anzeigte, und zu der Gesellschaft gewandt, platzte er heraus:

»Aber es hätte Herr Beck sein können!«

Lachend und lärmend stimmten wieder alle zu, und der Vorgang schien erledigt.

Doch hatte Keill jetzt Bescheid. Sein Menschengedächtnis war unfehlbar. Es war dieser Beck und niemand anders, den er in Beira gesehen hatte. Wenn er aber ableugnet, jemals in Beira gewesen zu sein, so hat er Gründe, und diese Gründe konnten nur darin bestehen, daß von Beira aus etwas gegen ihn vorlag, das man nicht wissen durfte. Jetzt war Keill überzeugt, daß Beck doch jener Du Vernois war, und daß Du Vernois der Drahtzieher des Anschlags gegen die Pläne und gegen ihn selber gewesen …

Morgen war man in Singapur. Singapur war eine Millionenstadt, vollgestopft mit Fremden, zusammengesetzt aus Hunderttausenden von Chinesen und einer Million Inder und Malaien. Versehen mit tausend Schlupfwinkeln, in denen einer, der sich auskannte, einen Menschen verschwinden lassen, einen Menschen durch Jahre gefangen halten konnte. Ein großer Teil der Stadt stand im Wasser auf Pfählen. Wer kannte sich in ihr aus! In der Bannmeile schon begannen Urwald und Dschungel …

An Bord konnte Veronika nichts geschehen. Aber war es vielleicht nicht möglich, daß dieser internationale Verbrecher den Anschlag auf sie gerade für Singapur vorbereitet hatte? Daß seine Helfershelfer dort bereits auf die Ankunft des Schiffes und des Opfers warteten? War das Verbrechen in Beira auch mißglückt, so zeigte es in seiner Anlage und in der frechen Wiederholung Gewöhnung, Unbedenklichkeit und Routine.

Ja, war es nicht notwendig, daß Keill heute noch Veronika aufklärte?.

Aber er unterließ es aus einem Gefühl der Zärtlichkeit für sie. Er wollte sie so lange nicht in Unruhe setzen, als er mit seinen Augen und seinen Armen da war, um sie zu schützen und zu bewahren.

Die Gesellschaft begab sich auf die festlich geschmückten Decks. Ein Grammophon, von einem Steward bedient, stellte die Tanzmusik. Keill belauerte Beck. Aber er konnte nur feststellen, daß er sich zurückhaltend wie gegen die anderen Damen, so auch gegen Veronika benahm.

Bei der ersten Damenwahl kam Veronika zu Keill. Aber bei der zweiten schnappte eine andere Dame ihn ihr weg. Im Tanzen sah er, daß Beck zu Veronika ging, die auf ihrem Stuhl sitzengeblieben war. Er sah ihn auf sie einsprechen. Er mußte sich Gewalt antun, seine Tänzerin nicht stehenzulassen.

Beck sagte zu Veronika:

»Morgen werden Sie eine der interessantesten Städte der Welt erleben. Am Hafen ist es ein europäisch-asiatisches London, in den Volksvierteln tiefstes Asien, schwarz, braun und gelb, und es sitzt auf seiner Insel, wie eine Braut, die vom Meer zusammen mit Urwald und Dschungel gefangen gehalten wird. Ich werde glücklich sein, sie Ihnen zu zeigen.«

»Fein! Fein!« Veronika klatschte in die Hände. »Wir müssen mit Herrn Keill ein Programm machen, wenn der Tanz aus ist!«

Beck schien den Namen Keill überhört zu haben.

»Ich werde Sie«, fuhr er fort, »in das Hotel de l'Europe führen, und da das Schiff in Colombo nicht solange hielt, daß wir hätten bis ins Gall Face Hotel gehen können, werden Sie bei dieser Gelegenheit auch das erste große Tropenhotel kennen lernen. Wir werden dort gemeinsam das Tiffin nehmen. Da können Sie sich ein Mittagessen aus zwanzig oder fünfundzwanzig Gängen zusammenstellen.«

»Und Herr Keill?« mahnte jetzt Veronika, ängstlich werdend.

»Er auch«, sagte Beck nur unendlich gleichgültig und ein wenig hochmütig.

Befremdet schaute Veronika ihn an. Sie überlegte sich, ob sie ihm nicht sagen sollte: »Nicht: Er auch! Nein, er gerade!« Aber eine plötzliche Verlegenheit machte sie erröten, und scheu schloß sie den Mund, scheu und leise gequält.

Dann kam Keill. Sie fühlte sich wie aus einer unbehaglichen Lage erlöst und rief ihm zu, noch bevor er bei ihnen angekommen war:

»Morgen werden wir zusammen Singapur sehen!«

Keill nickte nur. Er war ein wenig erschrocken. Also hatte er ihr von Singapur gesprochen. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Er biß die Zähne zusammen und knirschte bei sich: »Nein, du wirst dich irren!«

»Ich habe Veronika geschildert, welch eine bunte Stadt Singapur ist«, bemerkte Beck.

Veronika?! zuckte es in Keill. Verunreinigte diese Vertrautheit das Mädchen nicht? Dann sagte er laut und betont:

»Fräulein Voyder wird es ja sehen!«

An diesem Abend ergab sich keine Gelegenheit mehr, mit Veronika allein zu sein. Keill konnte seine Absicht, sie zu warnen, nicht ausführen.

Schon um halb sieben am nächsten Morgen, die Dämmerung war gerade in Tag übergegangen, raste Keill über das Deck. Zwei Matrosen spritzten es ab. Er ging quer durch die Wasserstrahlen und kümmerte sich nicht darum. Der eine der beiden Schiffsangestellten tippte hinter ihm her mit dem Zeigefinger auf die Stirn.

Keill wartete auf Veronika. Sie kam und kam nicht. Die Reisenden waren alle schon im Frühstückszimmer. Nur ihr Platz blieb leer. Man fuhr dem Land zu. Viele Inseln breiteten sich rundum im Meer aus. Ein Lotse führte die »Ermland«. Dann lehnten alle Reisenden über die Reling und sahen der Einfahrt in den Hafen zu. Veronika war immer noch nicht erschienen. Sollte er nicht an ihre Tür klopfen gehen? fragte sich Keill hundertmal … und dann war sie auf einmal da, mitten zwischen den andern.

»Ach, ich hab geschlafen, wie auf der ganzen Reise nicht!« rief sie Keill zu. »Ich bin wirklich nicht aufgewacht!«

Nun ging alles sehr rasch. Das Schiff lag am Kai. Es lief Singapur nur an, um seine Öltanks zu füllen. Die Reisenden hatten vier Stunden Zeit, in die Stadt zu gehen, mehr nicht. Die Anordnungen waren plötzlich geändert worden, und der Erste Offizier hatte es erst mitgeteilt, als man schon auf dem Sprung war, das Schiff zu verlassen. Es entstand eine wilde Hatz. Vom Kai her kamen Leute aufs Schiff, die deutsches Bier trinken wollten, man verknäuelte sich, drehte wieder auseinander …

Veronika stand auf dem Deck zwischen Keill und Beck. Sie wollte zum Laufsteg, aber Keill hielt sie am Ärmel.

Beck, der den Vorgang nicht bemerkte und vorgetreten war, wurde durch Dazwischenkommende von den beiden getrennt und zum Laufsteg hingeschoben. Er ließ sich von einer der Gruppen von Menschen mit auf den Kai hinüberziehen.

Keill drängte am Deck Veronika aus dem Kreis der an Bord Gekommenen hinaus.

»Sie gehen nicht an Land, bis Sie etwas von mir gehört haben!« raunte er ihr zu.

Er machte sich Vorwürfe über den schroffen Ton. Aber es war ihm nicht möglich, Haltung zu bewahren. Eine verzehrende Unruhe durchwirbelte ihn, ein kaum zähmbarer Brand, gewaltsam ihr seinen Willen aufzuerlegen.

»Was haben Sie? Herr Beck wartet!« sagte Veronika befremdet und drängte von ihm.

Er preßte seine Hand um ihren Oberarm. Erregt fauchte er sie an:

»Spüren Sie denn nicht, daß dieser Mann ein Schurke ist, daß Sie Gefahr laufen, solang Sie sich nicht völlig von ihm lossagen?!«

Erst war es Veronika, als treibe Keill einen dummen Scherz mit ihr, und sie prustete heraus:

»Ein Schurke? Wer? Herr Beck?«

»Ihr Herr Beck, ja!« Fast schrie Keill. »Wenn Sie einem solchen Individuum den Titel Herr geben!«

»Sagen Sie«, stammelte Veronika nun unsicher und befreite ihren Arm aus Keills Hand, »sagen Sie, was wollen Sie?«

»Sie haben es gehört!« zischte Keill zurück.

Da fühlte Veronika sich tief getroffen. Sie meinte, sie müsse für Beck Partei nehmen, indem sie grundsätzlich abwies, überhaupt etwas über ihn sagen zu lassen. Ein Gefühl, das sie für Treue hielt, zwang sie, gegen ihr eigenes Herz aufzutreten. Sie erwiderte mit Flammen in den Augen:

»Schweigen Sie über Herrn Beck!«

»Ich habe die Erfahrung eines längeren Lebens als Sie, um ihn zu erkennen!« versuchte Keill es weiter.

Aber Veronika entgegnete zornig:

»Ich habe nur die meines Herzens!«

Das war ein ungeschicktes Wort, es ist wahr. Aber wahr ist auch, daß es in dem Zusammenhang dieses Auftrittes, mit dem Keill sozusagen vom Himmel herab sie überfiel, etwas anderes bedeutete, als was sein von der Überreizung wundes Gemüt heraushörte.

Keill war auf einmal in Trotz wie versteinert. Ohne Wort, ohne Blick, ohne Zeichen schnellte er um und ging hastig davon. Er verschwand ins Innere des Schiffes hinein.

Bald begann er zu laufen, als stürmte er vor einer Gefahr davon, und prustete dazu in einem Verzweiflungsanfall so voll Ohnmacht, daß ihm schien, es wolle ihm die Schlagadern aufreißen. Aber auch Veronika befand sich in Aufwallung. Was für ein unsinniger Auftritt! Der Verstand versagte ihr. Nun trotzte auch sie. Nein, nein, das war etwas Unmögliches. Ihr Herz und ihr Hirn sträubten sich gegen eine solche Behandlungsweise, gegen eine solche sinnlose Gewalttuerei, gegen diese Raserei ohne Grund und Verstand.

Sie schritt in Zorn und Hast zum Kai hinüber. Unten wartete Beck. Er nahm sie mit einem lachenden Gesicht in Empfang und zog sie mit sich, in den Strom der der Stadt zustrebenden Menschen hinein. Er fragte nicht nach Keill. Er tat, als sei nie etwas anderes abgemacht worden, als daß Veronika mit ihm allein sich Singapur anschauen ging.

Vor dem Hafen nahm er eine Carridge, einen der leichten mit zwei kleinen Pferden bespannten Mietwagen, und sie fuhren in die Stadt hinein, über die Esplanade, durch Straßen, in denen das Leben mit all seiner Fremde brandete. Chinesische Rikschas überholten mit federndem Lauf die zweirädrigen Karren, die das Paar behöckerter marzipanfarbener Zebukühe zog. In Luxusautos fuhren chinesische Millionäre vorbei, in malvenblauen oder jettschwarzen Seidenhosen und cremefarbenen Seidenjacken, goldene Brillen auf der Nase, auf dem Kopf einen europäischen breitkrempigen Hut. Sie fuhren vorbei an Tausenden von chinesischen Hausierern, welche an wippender Tragstange hängende Körbe mit Früchten trugen oder aus Tuch geklebte Samtschuhe oder Zuckerkringel und Reisfladen. Mit fleischlosen braunen Waden überliefen die Inder in ihren weißen Gewändern schwarzbärtig, glutäugig das Tempo der Straße und waren mit der Seele hundert Meilen vom Leben der Stadt entfernt.

Die Carridge drang in die Chinesenstadt. Die Gassen wurden zu eng für sie. Veronika wurde in eine Rikscha gesetzt und, vor Beck, der in einer anderen saß, zwischen den offenen Läden mit farbigen Lackschüsseln, gedörrten Fischen, Teigwaren, Seidenbündeln vorbeigezogen. Gegen die Sonne waren die schmalen Schächte der Gassen mit Matten überspannt. Beck rief ab und zu eine Erklärung in Veronikas Rücken. Sie hörte sie nicht. Sie sah nichts von dem Karussell dieses Lebens, von den Farben und von den tausend Waren und hörte nichts von seinem schreienden Singsang. Meist hielt sie die Augen geschlossen, und mit stechendem Herzen fragte sie sich, in welches Rätsel sie geraten sei und wann und wie es gelöst werde?

Denn der Zustand, in den sie ohne ihren Willen fast kopfüber gestürzt worden war, war kein Zustand, der Dauer haben konnte. Das war völlig unmöglich. Das war so unmöglich, wie daß sie es hätte fertigbringen können, nun auf einmal nicht mehr in Singapur, sondern an Bord der »Ermland« zu sein und zärtlich neckend neben Herrn Keill zu sitzen, so unglückselig danach ihre Wünsche gingen.

Aber was am Ende lag … wenn es vorüber wäre … wenn der Mann, der ihr das Leid zugefügt, wieder neben ihr wäre … das war ihr jetzt nur wie ein Brodem in einer randlosen Nacht. Ja, wird es überhaupt wieder gut werden können?

Die Rikscha hielt mit einem Ruck. Fast wäre Veronika kopfüber herausgestürzt, und die kleine federnde Carridge stand wieder da. Becks Stimme kam zu ihr, wie aus einem undurchsichtigen Teig:

»Und jetzt zum botanischen Garten! Da sind auf einem kleinen Raum die ganzen Tropen!«

Veronika sah nichts von den reichen Bungalows der Napier Road und nichts von den Mangobäumen, den Riesenpalmen, dem turmhohen Bambus, den Orchideen, nichts von den grellen Vögeln und den Affen, welche schrill die Bäume belebten. Und sah später, als sie zu dem Pfahlbauquartier fuhren, in dem die einheimischen Parias in Haufen hausten, auch nichts. Nichts wurde ihr geschenkt, das Essen im Hotel de l'Europe auch nicht, und dann belud Beck sie an einem Blumenstand auf der Esplanade mit einem Strauß weißer Frangipanen und roter Hibisken, hinter denen ihr Kopf verschwand. Der Geruch, voll von der übertriebenen Kraft eines fremden ätzenden Wohlgeruchs machte sie krank, und sie kam sich wie an einem Schandpfahl ausgestellt vor, daß sie in diesem Zustand ihrer Seele so auffällig mit Blumen beladen an Bord zurückgeführt wurde.

Ja, es geschah noch etwas. Es wurde ihr nicht genau erkenntlich, denn in ihren Augen stiegen grelle Nebelringe durcheinander und schoben sich zwischen sie und jemanden, der auf sie zukam …

*

Als Keill vor vier Stunden auf dem Deck der »Ermland« von Veronika davongelaufen war und der Verzweiflungsanfall ihn bis zur Ohnmacht schüttelte, ließ er sich keine Zeit zur Selbstbesinnung. Er stieß sich kopflos immer tiefer in seinen Zustand. Es kam ihm vor, als preßten seine eigenen Fäuste seinen Mund unters Wasser, um ihn zu ertränken, der Not, Elend und Leidenschaft herausschreien wollte. Nie war jemand so verraten worden wie er, und er hatte die Empfindung, die Reise auf der »Ermland« sei keine Reise, sondern ein Alptraum, aus dem es ein Erwachen nicht mehr gäbe.

Der Jähzorn verlief, der Trotz blieb. Er zwang sich den Glauben ab, alles, was er nun täte, geschähe auf die allerfolgerichtigste Art. Mit einer pedantischen Ruhe und Genauigkeit traf er alle Maßnahmen, die Weiterreise auf diesem Schiff aufzugeben, aus dem ein feindlicher Dämon ihn vertrieb. Diesem Dämonen dürfte er nicht erliegen.

Ordentlich und geduldig packte er seine Sachen in die Koffer und besprach sich mit dem Obersteward. Die Agentur war an Bord, so wurde er des Abschiednehmens vom Kapitän enthoben. Er gab Anweisungen, sein Gepäck bereit zu halten, und ging in die Agentur der China Merchants Co., um sich nach einer Fahrgelegenheit nach Schanghai zu erkundigen.

Es war ihm wie eine Bestätigung, als er hörte, in zwei Stunden fahre die »Kwei Li« mit direktem Kurs nach Schanghai aus. »Kwei Li« heißt »Rascher Gewinn«: vortrefflicher Name, seinem Unternehmen angepaßt.

Er belegte und gab wegen seines Gepäcks Bescheid. Dann setzte er sich in eine Bar, die er kannte, und trank Whisky. Er bemühte sich nicht zu denken. Da war ein goldener Punkt in seinem Innern. Brächte er es fertig, diesen nicht genau ins Auge zu fassen, so würde es ihm auch gelingen, an dem Denkenmüssen vorbeizukommen. Lange glückte es. Er erhob sich schließlich. Die breiten Flügel der Ventilatoren störten ihn mit ihrer stummen Unermüdlichkeit. Sie kreisten über ihm wie dumme Tiere.

Auf der Esplanade, zu der er sich mit einer Rikscha hinfahren ließ, waren zuviel Menschen. Wenn er in den botanischen Garten gehen würde? Aber das war zu weit. Ach so, ja, – die »Kwei Li«! Er mußte doch aufs Schiff. Die Abfahrtsstunde war vermutlich nah. Er machte sozusagen nur einen Hopser von wenigen Tagen und war in Schanghai, während das andere Schiff, die »Ermland«, noch erst nach Japan hinüberpendelte und durch einige Häfen zuckelte. Wenn es dann endlich nach Schanghai käme, stünde er am »Bund«« da und streckte der »Ermland« die Zunge heraus. Das ist kindisch, sagte er sich. Aber alles war ja kindisch. Er ging zur »Ermland« zurück. Was er dort tun wollte, wußte er nicht. Auch nicht, wie er sich benehmen sollte. Es war etwas Unheilvolles geschehen. Er hatte etwas angerichtet, was nie wieder gutzumachen wäre. Aber dennoch beschloß er, noch einmal bis zur »Ermland« zu gehen. Von ihr bis zur »Kwei Li« waren es nur die wenigen hundert Schritte vom ersten Kai auf den zweiten.

Als Keill die »Ermland« sah, lächelte er, aber es war ein Lächeln, das nur aus Pein bestand. Halblaut sagte er vor sich hin:

»Verlorenes Paradies!«

Da war es, als ob aus dem unterdrückten Ton dieses Wortes eine Erscheinung geweckt worden sei. Sie kam auf ihn zu. Es waren Beck und Veronika. Beck, groß, elegant in Manilabraun, vertraulich zu ihr geneigt und auf sie einplaudernd, über die sich ein greller Blumenhügel türmte. Wenn diese Blumen nicht gewesen wären, so wäre, wer weiß … vielleicht … alles wieder gut geworden. Aber diese Blumen waren die Bestätigung des Dämons. Wie in einem grellen Kissen wurden sie von dem Teufelsatem des andern drin verglüht. Jede Regung der Weichheit und Nachgiebigkeit verfiel.

Und dennoch konnte Keill es nicht lassen, stehenzubleiben. Er stand nicht länger als zwei, drei Pulsschläge vor dem Paar. Veronika sah mit Augen, in denen alles zu vergeistern schien, daß jemand stehen blieb. Sie hörte, daß eine Stimme, die kurz und fremd war, ohne Anteilnahme sagte:

»Ich muß mich verabschieden. Ich fand Telegramme hier vor.«

Wieder eine Verbeugung, und dann, ach und dann war es Veronika, als ob der schönste Teil ihres Lebens verspielt sei. Während des kurzen Stücks Weg, das sie noch vom Schiff und ihrer Kabine trennte, war sie nur von einem Wunsch besessen: Wenn der Mann neben ihr nur nichts sagte! Nur nicht den einen Namen, den Namen des Jemand nannte, der Telegramme vorgefunden hatte!

Nein, Beck dachte nicht daran, den Namen Keills auszusprechen. Er hatte sein Wolkengesicht gemacht, als er den Kopf nur um eine Ahnung neigte und hatte sich, während sie weitergingen, gleich Veronika zugewandt. Er hatte mit ihr eine Unterhaltung begonnen, der das Mädchen nicht zuhörte.

Beck nahm ihr die Last der Blumen ab, damit sie bequemer den Landesteg aufs Schiff hinaufkäme. Als sie oben waren, blieb er, der hinter Veronika hinaufgeschritten war, stehen. Er wandte sich nur einen Augenblick zum Land zurück in die Richtung, in welcher die Begegnung mit dem Ingenieur erfolgt war, und sein Gesicht nahm einen Ausdruck von Triumph und Gier an, den der Teufel selber gemischt haben mußte.

Wie er mit dem Blumenhügel in den Armen sich wieder zu Veronika wenden wollte, um ihr die Blumen zurückzugeben, war sie nicht mehr da. Ohne sich umzublicken war sie ins Innere des Schiffs und in ihre Kabine gestürzt. Sie warf sich in Kleidern, Schuhen und Hut ins Bett und riß die Decke und die Kissen über den Kopf, um sich vor der Welt zu begraben, welche ihr die Sonne weggenommen hatte.

*

Beck hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Er hatte sie zwischen verquältem Planen und wundmachenden Vorwürfen verbracht. Ihm war rasch klar geworden, wie völlig kopflos er sich benommen hatte, als er ableugnete, in Beira gewesen zu sein. Tausende von Menschen kamen jedes Jahr wie in viele andere Häfen, so auch nach Beira, ohne dort etwas zu suchen, was sie in Konflikt mit der Polizei brächte! Weshalb war er nicht überhaupt auf Keills Bemerkung als auf einen Scherz eingegangen? Es hätte so nahe gelegen! Es wäre so völlig natürlich erschienen und hätte offen gelassen, ob er der Mann von Beira war oder nicht!

Die Geistesgegenwart, welche ihm in dem kritischen Augenblick fehlte, wird er schwer büßen müssen. Sie wird auf unabsehbare Zeit seiner Zukunft Ruhe und Beständigkeit wegnehmen. Sie wird tief und störend in alle seine Pläne und Handlungen eingreifen. Bei allem, was er vornehmen, bei jedem Schritt, den er tun wird, muß er jetzt in Rechnung stellen, daß es einen Mann gibt, der aufstehen kann, um gegen ihn zu zeugen.

Denn dieser Mann, mochte er nun Ingenieur oder Polizeiagent sein, hegte einen Verdacht gegen ihn. Dieser Verdacht, vor die geeignete Stelle getragen – und was für unwahrscheinliche Gelegenheiten stellte das Leben zu solchen Zwecken her! – würde ein Interesse für ihn, Beck, entfesseln, das gefährliche Dinge ans Licht bringen konnte.

Ja, überall muß Beck jetzt argwöhnisch aufpassen. In jedem Hafen kann einer der verkappten Männer zu ihm treten und mit einem verfluchten Gleichgültigtun den Kragenrand umschlagen oder in die Westentasche greifen und die entsetzliche Marke zeigen, die Meister über Freiheit und Leben der Menschen werden kann. Denn einmal in das Räderwerk der Polizei geschoben, ganz gleich in welchem Land, in welchem Erdteil, wird es wohl nicht ausbleiben, daß in seine Vergangenheit hineingeleuchtet wird, daß man deren düstere Stellen ins Licht stellt und daß man summiert, was bisher nur in Einzelheiten zusammenhanglos herumflatterte und ihn deshalb bisher unangetastet gelassen hatte.

Wohl hatte sich Beck hundertmal gesagt: Das Sicherste ist, du verschwindest morgen! … Er hätte es leicht gehabt anzugeben, er sei nach Sumatra zu seinen Geschäften zurückgerufen worden. Käme er dem Mann aus den Augen, so käme er ihm gewiß auch aus dem Sinn … Und es lag ja noch ein anderer Explosionsstoff zwischen diesem und ihm – Veronika Voyder. Aber gerade das war es! Gerade über sie brachte er es nicht zu einem so durchschneidenden Entschluß. Denn nun davongehen, wäre gleichbedeutend mit dem Aufgeben des Mädchens, und damit hätte sich auch die Fata Morgana am Lau Biang wieder in Luft aufgelöst.

Nein, er wird nicht verschwinden! Beck trommelte mit den Fäusten an seinen Kopf. Er nicht! Nein … Und zwischen den trotzig hämmernden Fäusten erschien zum erstenmal, noch erst nur als eine Regung, der Gedanke:

Aber der andere!

Der Nacht folgte der Vormittag in Singapur, der in dem überraschenden Abschied Keills gipfelte. Die Stunden allein mit dem Mädchen in der Stadt waren von der Unsicherheit überschattet, daß Keill sich nicht hatte blicken lassen. Wohl brachte er dessen Fernbleiben in Zusammenhang mit der gedrückten Stimmung, in welcher er Veronika sah. Aber als dann der Ingenieur bei ihnen stehenblieb und sich auf eine so unerwartete Weise verabschiedete, fuhr eine geradezu berauschende Genugtuung durch Becks Adern.

Es dauerte jedoch nicht lang, bis sie sich in eine tiefe Beunruhigung auflöste. Was war zwischen den beiden vorgegangen? Die Heftigkeit und Gründlichkeit, mit welcher zwei Menschen von gestern auf heute sich geradezu auseinander spalteten, war bedrohlich, denn sie deutete auch die Stärke der Beziehungen an, und Veronika reiste nach Hankau, wohin auch Keill wollte. Sie werden sich wiedersehen. Es werden Wochen über die Ursache zu dem Konflikt hinweggeflossen sein, der sich heute so heftig äußerte. Die Gemüter werden sich beruhigt, die Trennung wird die Schärfe genommen haben … Der Ingenieur wird, wer kann es wissen, zu andern von Beira sprechen, von ihrer Begegnung, von Becks Leugnen – und der Zufall, immer lauernd, immer im Hinterhalt bereit, der verdammte Teufel Zufall wird sich darüber stürzen …

Es gibt keine andere Hilfe und Rettung für Beck, es gibt keinen anderen Weg zu seinem Ziel – als [den radikalen] Zugriff: Der Ingenieur wird entfernt werden! Es wird in Hankau geschehen. Überall, wo viel Wasser ist, ist viel Gelegenheit, sich unauffällig von Menschen zu befreien. Beck kannte Hankau von einem Opiumgeschäft her, das er einmal mit chinesischen Schmugglern gedeichselt hatte. Sein Diener Pu stammte aus dem Wasserquartier, das am Einfluß des Hankau und Hanjang in den Jangtsekiang trennenden Han Tausende von Schiffen zu einer geschlossenen Stadt zusammenscharte: Große und kleine, mit Lumpen und Säcken verhängte schmutzige Sampans und luxuriöse Hausboot-Choatzen, riesenhafte Dschunken, in welchen ganze Eisenbahnzüge Raum fänden, wo Menschen verschwinden konnten, wie Mäuse, die man auf einem Getreideboden mit dem Absatz zertritt, und pfeilartig hastige Seelenverkäufer zu finden waren, die eine lautlose Flucht ermöglichen … und Pu war der rechte Mann.

Seit diesem Entschluß konnte Beck neben Veronika sitzen, den einen Teil seines Wesens mit den Plänen von Haß und Mord wie mit einem schwarzen kochenden Schlamm angefüllt und mit dem anderen Teil voll zehrender Entzündung an das Mädchen verloren.

*

Die »Ermland« fuhr von Singapur nach Hongkong, verließ dort die chinesische Küste und nahm mehrere japanische Häfen mit, bevor sie Schanghai anlief. Keill war mit der »Kwei Li« auf unmittelbarer Route dorthin gefahren und hatte den Jangtsedampfer nach Hankau genommen. Je weiter er von dem verhängnisvollen Morgen in Singapur sich entfernte, um so unverständlicher wurden ihm die Vorgänge, die ihn von Veronika fortgetrieben hatten, ja, allmählich schienen sie etwas Geisterhaftes anzunehmen, das außerhalb seines Willens und über diesen hinweg in den Ereignissen tätig gewesen wäre.

In Hankau eilte er ins Hotel, kümmerte sich nicht um den Auftrag, der ihn hergebracht hatte, schloß sich in sein Zimmer ein und verlor sich in unentschlossenes und verquältes Grübeln. In der Einsamkeit stäupten ihn die Selbstvorwürfe umso stärker. Was hatte er getan? Nichts anderes als daß er Veronika dem andern in die Hände gespielt hatte. Er hatte sie unbeschützt und wehrlos ausgeliefert, nur weil er sich nicht hatte beherrschen können.

Sie fuhr jetzt mit dem Strauchdieb auf dem Meer herum. Er führte sie in fremde Hafenstädte, in denen das Verbrechen gedieh. War sie noch auf der »Ermland«? War sie nicht fortgelockt worden, verschleppt? Traumhaft gespensternde Verzerrungen zeigten sie klein und preisgegeben in einer Atmosphäre von Verbrechen und Grauen. Aus dieser wuchs riesengroß die Gestalt des Verbrechers, der sich zermalmend über sie hermachte …

Keill stürzte zur Agentur der Hamburg-Amerika-Linie, um sich nach der »Ermland« zu erkundigen.

»Hierher bekommen wir keine Nachricht über sie. Bei unserer Agentur in Schanghai können Sie erfahren, was Sie wissen wollen!« wurde ihm geantwortet.

Mit der ersten Gelegenheit fuhr er nach Schanghai zurück. Dort hörte er, die »Ermland« vollführe planmäßig ihre Reise, habe gestern Yokohama verlassen, um zu weiteren japanischen Häfen in See zu gehen. Ob Nachrichten über Reisende eingegangen seien?

– Nein! – Ob es möglich sei, welche einzuholen? – Nur mit Kablogramm über die Anlegehäfen. Das Schiff habe keine Marconistation. Die Agentur sei aber gern bereit, ein Telegramm von ihm zu übernehmen und weiterzuleiten.

»Von mir?!« fragte er erschrocken.

»Anders geht es nicht gut«, wurde geantwortet.

Keill verließ das Kontor, unentschlossen, von Tag zu Tag und Stunde zu Stunde unsicherer, aufgewühlter, sich verzehrender. Jeden Tag mehrmals stand er am Fenster der Agentur. Eine große Seekarte war in ihr aufgeschlagen, und mit kleinen Fähnchen waren die Bewegungen der Schiffe, täglich wechselnd, abgesteckt.

Er schaute nur nach der »Ermland«. Aber eine Scham, die etwas von Aberglauben annahm, hinderte ihn, nochmals bei einem Angestellten in der Agentur nachzufragen.

Auf der Karte im Fenster kam die »Ermland« täglich näher. Bald sah Keill es als ein Gottesurteil an, wenn das Schiff eingelaufen sei, am Kai festgemacht habe, und er sähe dann Veronika über die Landebrücke herauskommen. Diese Regungen kamen so sehr aus dem Allerheimlichsten seines Wesens, daß er die beiden letzten Tage selbst nicht mehr nach dem Standort der »Ermland« auf der Karte zu schauen wagte. Denn es war wie ein Vorgang, der unter dem Andrang übersinnlicher Beziehungen in seinem Innern stattfand. Man durfte nicht daran rühren.

In solchen Stimmungen gesellten sich den Vorgängen seines Innern regelmäßig Vorstellungen der Heimat an.

Er sah die Großmutter in der Küche des Ardenner Hofs unter dem Rauchfang am Kochherd sitzen und in einem großen Kupferkessel Zwetschenmus rühren. Sie erzählte Sagen von den hochnäsigen Ritterfräuleins, die vom Teufel gefreit wurden, und von Goldschätzen, die in den Schieferfelsen glühten und dem zufielen, der in der glücklichen Nachtstunde auf sie stieß.

Um die Sprache der alten Frau lagerte in einer übersatten Süße der Duft des verkochenden Muses, und hoch von oben, aus dem Schornstein, rann ein blauer Schimmer des Tageslichts in den Rauchfang. Dieser weitete sich wie ein in die Decke eingelassenes Dach über der Großmutter und dem Herd aus. Das Licht gloste silbrig um die feisten dunkeln Bäuche der Schinken, die über dem Kopf der Großmutter in stattlicher Zahl in der dunklen Geborgenheit hingen und nachtrockneten …

Und zugleich erschien ihm in Augen und Seele das Bild der Heimat, und das Verebben der Horizonte ließ in einer Aberzahl von Höhenlinien das Heimatland in einer fast metaphysischen Zartheit in der Ferne verwehen. Es hatte etwas Mütterliches …

Am 23. August, am frühen Nachmittag stand Keill am »Bund«, der breiten Kai- und Hafenstraße Schanghais, und sah den Huangpo hinab, den herauf die »Ermland« vom Meer kommen mußte. Der Huangpo war nur ein kurzes Stück zu überblicken. Er verschwand einen Kilometer weiter hinter den Bauwerken der Werften von Putung am andern Ufer.

Es konnte eine Stunde dauern, bis die »Ermland« da war, vielleicht, zwei, vielleicht drei Stunden. Zeit war heute kein Begriff mehr. Keill stand unmittelbar am Kai, denn der »Bund« war auch die Anlegestelle der Seedampfer. In seinem Rücken trudelte der Verkehr der Kraftwagen, der Rikschas, der Lastfuhrwerke, die Menschen und Waren zu den Schiffen brachten und Menschen und Waren von ihnen holten.

Vielleicht würde gerade hier, wo er jetzt seinen Fuß hinsetzte, der Landesteg der »Ermland« gelegt werden, und auch Veronikas Füße würden über diese Stelle treten. Er würde sich verbergen müssen. Sie dürfte ihn nicht sehen. Er war dessen nicht wert … und ein süßer Schmerz durchzog sein Herz.

Eine lange Reihe auf Fahrgäste wartender Rikschas reichte bis an die Stelle heran, an der er stand. Die ersten Kulis glaubten aus seinem Benehmen die Absicht zu erkennen, er wünsche zu fahren, und drei, vier schossen mit ihren leichten zweirädrigen Wägelchen vor und senkten, mit einladenden Ausrufen, die Deichsel vor ihm, damit er bequem einsteigen könnte.

»Geht! Geht!« sagte er aufgestört und entfernte sich rasch, als sei er ertappt worden.

Er lief einem Europäer in die Quere.

»Hallo, Keill!« rief dieser, »wir erwarten dich seit acht Tagen in Hankau. Wo steckst du?« Es war sein Landsmann Beißel, Ingenieur in den Hanjangwerken. Keills Gesicht lief mit Blut an. Nein, gerade einen Bekannten konnte er am wenigsten gebrauchen. Er konnte jetzt überhaupt nichts anderes gebrauchen, als ungestört warten zu dürfen, warten und bangen. Ungeduldig und mit einem feindseligen Blick sah er Beißel an und knurrte unfreundlich auf englisch:

»Versteh nicht!«

Der andere schaute ihn betreten an, entschuldigte sich schließlich und setzte seinen Weg fort. Er drehte sich um und meinte für sich, zweimal auf Erden derselbe Mensch, das gebe es doch nicht, wendete sich noch einmal in die Richtung, in welcher Keill der Stadt zu davonhastete, und stieß ungläubig einen Fluch aus. Schließlich wußte er nicht, ob das, was er gesehen, ein Naturwunder oder ein verrückt gewordener Keill sei. Er blieb unentschlossen, ob er es hinnehmen sollte oder nicht, ging dann zur deutschen Bank hinüber mit der Absicht, wenn er dort sein Geschäft erledigt habe, zurückzukommen, um sich der Sache näher anzunehmen.

Keill hatte sich in seiner Erregung und seinem Schrecken quer über den Bund in die französische Konzession hinübergerettet, war durch einige Nebenstraßen geeilt, bevor er es wagte, sich umzudrehen und zu erspähen, ob Beißel ihm nicht gefolgt sei. Er sah nur unbeteiligt Dahinhastende. Aber eine Schiffssirene rief, und in einer plötzlichen Angst, zu spät zu kommen, stürmte er zwischen der Kirche zum heiligen Josef und der alten Chinesenstadt hindurch wieder auf den Bund.

Er war jedoch im ganzen keine fünf Minuten weggewesen, seitdem er den Fluß aus den Augen hatte, und von der »Ermland« war noch nichts zu sehen.

An einem Kandelaber fand er eine Stelle, die seinen Rücken deckte, und von der aus er zwischen zwei Dampfern durch den Huangpo hinab bis in den großen Bogen sah, wo der Strom hinter die Landzunge ging und sich am anderen Ufer die Hellingen von Putung wie ein Kastell dunkel in das endlos flache Küstenland stellten. Nun meisterte er sich, indem er sich in einer Art von Selbstsuggestion auferlegte, sich nicht zu rühren, nicht zu denken, nicht zu klagen, nicht zu bangen. Er meinte, er brächte dies sicherer zustande, wenn er von einem fernen Punkt in der Wassermitte, über den die »Ermland« fahren wird, sein Auge starr festhalten ließe.

*

Um halb vier lag die »Ermland« fest, war sie mit dem Kai durch einen Landesteg verbunden, und die Reisenden durften von Bord gehen.

Veronika hatte von Bord aus die große Stadt erscheinen sehen, nicht wie die anderen Gäste über die Reling vorgeneigt, sondern in einem scheuen Bangen einen Schritt zurück gerückt. Diese Stadt würde sie zwingen, wieder zur Wirklichkeit zurückzukehren, welche sie seit Singapur von sich gehalten hatte. Die Tage seit der Stunde, in welcher Keill sie verlassen hatte, trieben wie Nebel durch ihre Vorstellungswelt.

Und jetzt lag das Schiff fest. Die Landungsformalitäten waren erledigt. Unentschlossen und ohne Willen stand Veronika zwischen sich verabschiedenden Menschen. Sie fühlte eine Hand an ihrer Schulter, und ein fremder Willen begann, sie sachte dem Ausgang zuzuleiten. Es war Beck. Sie folgte ohne den Versuch eines Widerstandes.

Keill verharrte an dem breiten Sockel des Kandelabers. Er hatte den Strohhut tief ins Gesicht gezogen, zerbiß den sengend roten Schnurrbart, und während seine Augen den Zugang zu dem Landesteg starr in seinem Blick festgebannt hielten, begann sein Herz laut zu klopfen.

Dann sah er Veronika vor Beck den Steg betreten und zwischen anderen Menschen dem Kai zugehen, der jetzt um die Landestelle der »Ermland« von einer Flut von Europäern in weißen Anzügen und chinesischen Kulis mit nackten Beinen und in blauen kurzen Kattunhosen bedeckt war. Wie kleine erregt wandelnde Dächer bewegten sich die spitzen Basthüte der Chinesen in der Menge. Keill war gezwungen, die Augen zu schließen, weil der Aufruhr seines Herzens seine Glieder mit erfaßte und in seinem Übermaß ihn schwindeln machte. Er wußte, jetzt trennten ihn nur wenige Augenblicke von seinem Schicksal.

Als ihm erkenntlich wurde, daß er sich diesem zu stellen hatte, gewann er wieder Fassung und öffnete die Augen. Das erste, was er sah, war die hohe Gestalt Becks, die seine Umgebung überragte. Gleich senkte Keill die Augen, und nun gewahrte er Veronika. Sie ging vor jenem her, in einer Menge von Menschen, die sich auf den Bund zu bewegten. Sie ging mit geneigtem Kopf in einer mechanischen Gleichgültigkeit in der Richtung, welche die Menschen vor ihr angaben. Sie sah blaß aus. Verhärmt waren die süßen Züge ihres Gesichtes, um das, unter einem Tropenhut, traurig die dunkeln Locken fielen. Es drückte ihm das Herz ab.

Behielte sie die Richtung bei, so rechnete er sich aus, kam sie derart nahe an ihn heran, daß sie ihn fast streifen müßte. Ab und zu traten rascher Gehende vor ihr Bild und entzogen sie eine Sekunde lang seinem Blick. Doch immer wieder erschien sie klein und zag, wie fröstelnd, und die Augen gesenkt. Dann war sie plötzlich nahe, und an ihm regte sich nichts. Er stand da wie eine aus Holz an den Kandelaber angeschnitzte Figur. Seine Augen aber brannten. Eine jähe Angst durchraste seine Pulse, lähmte ihm die Glieder …

Veronika war jetzt so nah, daß sie hören würde, wenn er ihren Namen flüsterte. Er sah, wie es in ihrem immer noch gesenkten Gesicht, von dem er keinen Blick ließ, arbeitete. Es schien unter unsichtbaren Wallungen des Innern zu beben und durchzog sich mit einmal mit einer wächsernen Blutleere. Und dann richtete sie das Gesicht hoch und schaute mit einem langen stillen Blick ihm unmittelbar in die Augen.

Aber er hatte, in einer ersten Empfindung, den Eindruck, sie sehe ihn nicht. Sie blieb stehen und breitete, wie in einer unbewußten Regung die Arme ein wenig auseinander, in einer Wendung des Körpers zu ihm hin. Da war ihm, als stünde sie da, wie eine Säule aus Purpur und Gold, strahlend von der Leidenschaft und Schönheit der Liebe.

Er stieß einen Schrei aus, in welchem soviel Jubel wie Schmerz klang, gleich war er bei ihr, riß sie an sich hoch. Ein glückseliges Lächeln flog in Veronikas Augen. Sie warf die Arme um seinen Hals und barg ihr Gesicht an dem seinen.

Die Kulis liefen teilnahmslos um sie herum. Die Europäer, die den Auftritt sahen, hielten eine Sekunde lang den Schritt an, lachten, tauschten Bemerkungen aus, und gingen weiter. In Becks Gesicht fiel jäh ein Schatten, als er den Vorgang sah. Er knirschte, wies die Versuchung ab, mit einem rohen Zugriff die beiden auseinander zu reißen, dann entschloß er sich rasch, davonzugehen und zu tun, als kennte er sie nicht.

Er hatte in der Menge, abseits, Tiffriche gesehen.

Als die erste Sturmflut der Gefühle vorüber war, schlüpfte Veronika mit ihrem Arm in den Keills und gluckserte bald vor Glückseligkeit, schluchzte bald in einer Wonne, die wie ein lauer Wind ihr Herz davonhob.

So gingen die beiden weiter, ziellos geradeaus. Um Beck kümmerte sich keiner von ihnen.

Da stoppte plötzlich eine Rikscha neben ihnen, und jemand trat in ihren Weg, sah lachend Keill an, wechselte mit den lachenden Augen zu Veronika über und sagte, indem er mit zwei Fingern den Strohhut etwas hochschob und zugleich Keill anschaute:

»Keill, alter Witzbold! Du warst es also doch! Ich hab ja gleich gesagt, zweimal gibt es doch nicht denselben Mann unter dem Himmelsbogen! Hättest es ja nur zu sagen brauchen: Ich erwarte jemanden! Nun also: Glückwunsch! Glückwunsch! Will nicht stören! Wiedersehen in Hankau!«

Beißel schwang sich auf den Sitz der Rikscha zurück, aus der er gesprungen war, rief dem Kuli zu: »Zo! Zo!« winkte noch einmal, und Keill hatte überhaupt keine Zeit gefunden, etwas zu sagen.

Schon war die Rikscha außer Hörweite, als er stotternd endlich antwortete:

»Kamill, ja, ja, ja …!«


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