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Am 15. Juli lief das Motorschiff Ermland der Hamburg-Amerika Linie in den Hafen ein. Genua schichtete sich über der Küste wie ein Amphitheater auf, das die Wirklichkeit einer von Menschenhand gebauten Stadt überstieg. Und als Veronika Voyder, die an der Reling des anlegenden Schiffes stand, die Augen von dem in der südlichen Sonne strahlenden Bild auf den nahen Kai senkte, gewahrte sie als erstes, inmitten einer großen Schar von Menschen und sie überragend, die hohe Gestalt des Herrn Beck.
Bei dem unerwarteten Anblick war ihr, als schmölze mitten in ihrem Herzen unter einem warmen Strahl ein Fäustchen voll Schnee. Herr Beck hatte ihr in Berlin soviel Artigkeiten und Hilfe erwiesen, ihr, die männliche Nähe nicht gewohnt war und sich allein darauf vorbereitete, für eine lange Reihe von Jahren Europa zu verlassen.
Veronika Voyder hatte sich am Orientalischen Seminar in der Hauptsache der chinesischen Sprache gewidmet und sollte bei der neu eingerichteten Wirtschaftsstelle des deutschen Konsulats in Hankau am Jangtsekiang eintreten. Der Fremde war mit den Nachrichten aus Lindau mitten in die Vorbereitungen zur Abreise hineingekommen. Er, der sich so gut in Übersee auskannte, hatte sie beraten, ihr Gänge abgenommen und dazwischen immer wieder die Gelegenheit zu einem menschlichen Wort über den Großvater wahrgenommen.
Seitdem sie denken konnte, lebte dieser Großvater in ihrem Bewußtsein als ein schreckender Schemen. Dieser Druck wich bei der Nachricht des tragischen Untergangs einem Mitgefühl, einem Erbarmen, das lockerte, doch nicht mehr schmerzte, und sie konnte, von einer tiefen Last befreit, erst jetzt völlig sich dem Gedanken ihres neuen Lebens in Übersee hingeben.
Sie wußte deshalb dem Fremden, der durch seine teilnehmende, kameradschaftliche Art dies mitzubewirken geholfen hatte, einen zärtlichen Dank.
In Berlin hatte er sie im Lehrter Bahnhof in den Zug nach Hamburg gesetzt, wo sie sich einschiffen wollte, und nun kam er an Bord. Veronika eilte ihm entgegen, und er sagte einfach:
»Ich habe mir Vorwürfe gemacht, daß ich Sie, unerfahrenes Kind, so allein in die Welt reisen ließ. Ich fahre mit!«
Er sagte das mit dem Ton eines Mannes, dem es keine größere Sensation bedeutet, fünf Wochen auf einem Schiff nach Schanghai zu fahren als etwa mit ihr an Land zu gehen und im Hotel Miramare zu Mittag zu essen.
Da Veronika um Portugal gefahren war, hatte Beck das Schiff leicht in Genua erreichen können.
*
Junge deutsche Geologen, die im Auftrag der »Braunkohlenindustrie« tätig waren, hatten in Mozambique Braunkohlenlager entdeckt. Es war eine Angelegenheit, die vorsichtig wie ein rohes Ei behandelt werden mußte. Die wirtschaftlichen Faktoren dieser ostafrikanischen Kolonie waren vom englischen Kapital abhängig, und es mußte verhindert werden, daß die Konkurrenz in der City von den Lagern erfuhr, bevor das Geschäft unter Dach war.
Deshalb hatte die Gesellschaft den Diplomingenieur Narzissus Keill mit den notwendigen Vollmachten versehen nach Beira geschickt. Der Vertrauensmann an Ort und Stelle war Jürgens, der Vertreter der Deutschen Afrika-Linien. Jürgens hatte die Papiere mit den Aufzeichnungen der Geologen in Verwahrung genommen, als diese aus der Gegend des Njassasees, wo sie das Vorkommen entdeckt hatten, zurückgekehrt waren. In den Papieren war alles [Wissenswerte] über die Fundstelle, waren Landkarten und Landvermessungen, Messungen der Dichte und Berechnungen der Ausbeutemöglichkeiten niedergelegt.
Jürgens nahm aus einem Eisenschrank eine der großen, gegen Feuchtigkeit und Insekten schützenden Blechkapseln, wie sie in den Tropen zum Aufbewahren von Dokumenten benutzt wurden. Keill schaute die Papiere rasch durch und sichtete sie. Als er fertig war, sagte er:
»Das ist gutes, aber auch wichtiges Material, auf das manche Leute eifersüchtig wären, wenn sie Wind davon bekämen. Es ist vielleicht unvorsichtig, es so zusammen aufzubewahren. Bei mir Unbekanntem sucht man weniger so etwas als bei Ihnen. Ich nehme die Aufzeichnungen über die Fundstellen an mich. Die anderen Papiere, getrennt von diesen, sind harmlos. Die Berechnungen sind nur in die Luft gebaut, wenn der Uneingeweihte nicht weiß, wo die Schätze zu holen sind, aus denen man solche Summen herauszaubern kann.«
Jürgens lud dann Keill in sein Haus zum Abendessen ein. Keill ließ sich eine zweite Blechkapsel geben, versorgte die Zeichnungen darin und schob sie in seine Mappe, die er mitnahm.
Jürgens' Bungalow lag vor der Stadt. Sie bestiegen einen der kleinen Wagen, die in Beira die Elektrische abgaben. Wohl wurden sie auch, wie die leichten und flinken chinesischen Beförderungsmittel »Rikscha« genannt. Aber es waren breite Sitze auf vier niederen Eisenrädern und wurden von einem der kräftigen Mozambiqueneger, die zu dem besten Menschenmaterial Afrikas zählen, über Schienen geschoben.
Zwei Schienenstränge liefen in der sandigen Straße zwischen dem Dschungel, der nach einem Regen in leidenschaftlichem Grün glänzte, zur Stadt hinaus.
Unterwegs verursachte die Begegnung mit einer entgegenkommenden Rikscha, deren Kuli dem ihrigen etwas mitzuteilen hatte, einen kleinen Aufenthalt. In der anderen Rikscha sahen sie einen Europäer. Es war ein großer, auffallend schöner Mann von südlichem Typus in einem übereleganten Anzug in bastfarbener Rohseide. Stolz wie auf einem Thron saß er in dem zerschundenen Stuhl, und während es sonst üblich ist, daß in ähnlicher Lage Weiße, auch wenn sie sich nicht kennen, einen Gruß austauschen, schaute dieser so hochmütig über seine Umgebung hinweg, daß es aussah, als trage er den Kopf in den Wolken.
Dieser Anblick entlockte Keill den spöttisch gemeinten Ausruf:
»Donnerwetter, was für ein schöner Mann! Er sieht aus wie ein Gouverneur in Kastans Panoptikum!«
Keill blieb bis nach ein Uhr in dem Bungalow. Die Rikscha hatte auf ihn gewartet, und als sie zurückfuhren, hängte der Neger eine brennende Petrollaterne an die Seite. Es war eine wolkenbehangene, sehr finstere Nacht. Das Poltern der Räder auf den Schienen erklang durch die Finsternis wie eine Stimme, welche grollend mit dem Wagen mitzulaufen schien. Die nackten Sohlen des Negers blieben hinter Keill unhörbar. Vor seinen Augen erhellte der Lichtschein der Laterne spärlich und in schaukelnder Bewegung das Schienenpaar auf nicht weiter als doppelte Mannslänge. An einem einsamen Haus, abseits der Straße, erscholl das ärgerliche Gebelfer eines Schakals, der durch Licht und Lärm in seiner Suche nach Nahrung gestört, in den Dschungel flüchtete.
Die düstere Luft schien von einer überhitzten Feuchtigkeit zu schwelen. Erst hatte Keill Kragen und Hemd geöffnet. Nun zog er auch die Leinenjacke aus. Im Begriff, sie neben sich auf den Sitz zu packen, wo er auch seine Aktenmappe untergebracht hatte, hörte er plötzlich, wie ein Lärm die Nacht zerriß. Keill hat auch später nicht mehr zu sagen gewußt: War es ein Schuß oder nur die aufschreiende Stimme des den Wagen im Galopp schiebenden Negers. Die an der Seite an der Griffstange schaukelnde Laterne flog einen Augenblick später in Trümmer. Schwärzeste Finsternis strömte, wie in einem Dammbruch, über Keill, der rasch die Mappe hochriß, an sich festklemmte und aus dem fahrenden Wagen heraus mit einem Sprung ins Dunkle setzte. Er stürzte hin, kroch sofort hastig auf allen Vieren davon und prallte an einen Baum, hinter dem er Deckung nahm.
Tief auf die Erde gekuscht, wartete er einige Sekunden, in denen er seinen Revolver entsicherte und in höchster Anspannung aller Sinne die Umgebung zu kontrollieren trachtete. Zu erkennen war nichts. In der Nähe war Lärm, doch blieb sich Keill unentschieden, ob er von dem weiterlaufenden Wagen, von Menschenschritten oder von einem Tier käme.
War es der Versuch eines Überfalls, dachte sich Keill, und bin ich ihm durch den guten Einfall des raschen Sprungs aus dem Wagen entgangen, so soll man sehen, daß ich in der Lage bin, mich zu wehren. Er schoß zweimal die Waffe ab, mit Rücksicht auf den Wagenschieber in die Luft. Dann preßte er sich eng an den Stamm an und wartete, den Browning schußbereit gegen die Straße ausgestreckt.
Lange geschah nichts. Dann aber war ihm, als höre er eine vorsichtig suchende Stimme. Bald erkannte er auch, daß jemand: »Senhor!« rief, und »Bana!« in der Negersprache … »Bana!« und wieder in der portugiesischen Form: »Senhor!« … immer wieder, mehr geflüstert und gewispert als gerufen, bis es ganz in seiner Nähe erklang. Da antwortete er leise: »Rikscha?« … »Ja, Bana, Rikscha-Boy!«
Es war der Wagenschieber, der ihn suchte.
»Hat Bana weißen Mann Stein werfen sehen?« flüsterte der Neger aufgeregt. »Laterne kaputt! Weißer Füße in die Hand, fort!«
»Na, dann ist es ja gut!« sagte Keill laut mit Galgenhumor. »Ob Weiß oder Schwarz, wenn er nur fort ist!«
Aber er bestieg die Rikscha nicht mehr, sondern ging hinter ihr mit dem Neger zu Fuß weiter und nach allen Seiten aufpassend, bis sie das Hotel erreicht hatten.
Als er seine Jacke vom Sitz nehmen wollte, war sie nicht mehr zu finden. Er hatte in einer Brieftasche etwas Geld gehabt.
»Behalte du das Geld«, sagte er halblaut an die Adresse des unbekannten Diebes. »Ich behalte die Pläne!«
Am nächsten Morgen kam Jürgens überraschend früh ins Hotel.
»Es ist nachts ins Kontorhaus eingebrochen worden. Die Berechnungen der Kohlenlager sind fort!« rief er Keill an, der die Treppe herunter auf ihn zu kam.
»Dann können die Herren Diebe ja nachprüfen, ob in ihnen keine Additionsfehler gemacht wurden! Aber hören Sie, es ist fast wie in einem Film: Auch ich bin überfallen worden, als ich von Ihnen heimfuhr, habe aber, wie Sie sehen, sonst nichts abbekommen und besitze die Pläne der Kohlenlager auch noch.«
Er überdachte die Lage, während er Jürgens zu seinem Büro begleitete.
Jürgens fragte:
»Glauben Sie, daß Einbruch und Überfall zusammenhängen?«
»Das scheint mir nicht unwahrscheinlich«, antwortete Keill. »Geschah der Überfall, nachdem man festgestellt hatte, daß der Einbruch das Gesuchte nicht eingebracht hatte, so hat der Täter uns überwacht, hat uns weggehen sehen und vermutet, daß die richtigen Papiere in der Mappe mit fort genommen waren, und hat es dann halt bei mir versucht!«
»Wie können wir das feststellen?« fragte der andere.
»Vermutlich gar nicht. Da es auch vergeblich und zudem nicht ungefährlich ist, hier die Polizei zu beanspruchen, sind wir zu großer Vorsicht gezwungen. Es ist nötig, daß ich meine Spur verwische. Ich muß die Kohlengegend über einen Umweg aufsuchen und zwar sobald als möglich. Besorgen Sie mir zwei Pferde und einen zuverlässigen Schwarzen!«
»Wollen Sie gleich aufbrechen?« war die Antwort.
»Ach«, antwortete Keill, »ich möchte vorher mich lieber noch ein wenig umsehen. Vielleicht?! Es wäre doch interessant, wenigstens auf eine Spur der Leute zu stoßen, die sich so tatkräftig für uns interessieren.«
Als sich abends die Herren wiedertrafen, fragte Jürgens:
»Nun?«
Keill fragte zurück:
»Haben Sie gar keinen Verdacht?«
»Sie sagen das, als ob Sie einen hätten!«
»Vom Schroff der Union Castle Linie hörte ich den Namen eines Reisenden, der mit dem Dampfer in der Frühe abgereist ist.«
»Ja, mein Gott«, machte Jürgens, »mit dem Dampfer haben heute auch noch andere Reisende Beira verlassen.«
»Unter den anderen Namen, die ich dann im Büro einsah, kam keiner in Betracht. Nur dieser Herr Duvernois, der im letzten Augenblick an Bord seine Passage löste, ist nicht einzuordnen.«
»Was finden Sie an dem Namen Duvernois so besonders auffällig?« fragte Jürgens.
»Er ist so schön! So schön, daß ich ihn mit einem Herrn in Verbindung bringen muß, der sich gestern über die Lage Ihres Bungalows unterrichtet hat und der …«
Jürgens fragte ein wenig betroffen dazwischen:
»Meines Bungalows!? Woher wissen Sie, daß jemand dies tat?«
»Wissen ist zuviel gesagt. Es ist lediglich eine Vermutung, daß nur ein Mann, der so schön ist, wie der, welchem wir gestern begegneten, Jan Paulus Duvernois heißen kann, – und der kam aus der Richtung Ihres Hauses! Er hatte auch kein Gewehr bei sich, daß man hätte annehmen können, er sei im Dschungel Schlangen schießen gewesen, und da draußen gibt es nur Dschungel und Ihr Bungalow.«
»Der Gouverneur aus dem Panoptikum!« rief Jürgens, mehr erheitert als überzeugt.
»Natürlich weiß ich: In einem so aparten Anzug aus teefarbener Schantungseide knackt man nicht selber Eisenschränke und zerschmeißt die Petrolfunzeln armer Rikschaneger. Höchstens gibt man es in Auftrag.«
Seit diesen Ereignissen waren fünf Monate vergangen. Keill war zu den Kohlenfundstellen ins Innere gereist und hatte ohne weitere Zwischenfälle sein Geschäft in Ordnung gebracht.
Am 15. Juli schiffte er sich in Beira wieder ein. Er hatte Kablogramme seiner Auftraggeber erhalten, die ihn nach Hankau am Jangtsekiang dirigierten. In der Provinz Hunan waren Braunkohlen entdeckt worden, und die großen Eisenwerke in Hanjang interessierten sich für sie.
Von Beira aus hatte er auf dem Motorschiff »Ermland« gebucht. Die »Ermland« war ein langsames Schiff, weil es eigentlich ein Frachter war und nur eine kleine Anzahl Reisende mitnahm. Es brauchte fünf Wochen bis Schanghai. Aber gerade deshalb hatte Keill es gewählt. Es tat not, daß er sich von den fünf Monaten Ostafrika erholte, und in dem gemütlichen Schiff sah er die Gelegenheit und den Zwang zu einer Kur der Ruhe. Er konnte nicht ahnen, daß er auf der »Ermland« jenem undurchsichtigen Herrn Duvernois wiederbegegnen sollte.
Nach Aden ist es ungefähr dieselbe Entfernung von Genua wie von Beira, und von Süden fuhr Narzissus Keill und von Norden fuhren Veronika Voyder und Beck-Duvernois auf der fünftausend Meilen messenden Linie diesem Mittelpunkt zu. Er sollte auch der Ausgangspunkt des Schicksals dieser drei Menschen werden.
Beck-Duvernois war an Bord der »Ermland« inmitten der deutschen Umgebung des Schiffes vorsichtig ein einfacher Herr Beck. Wenn er jetzt seine Pläne und seine Lage überdachte, schüttelte er den Kopf. Wie war es möglich gewesen, daß er, und daß aber auch die sonst so genau sehende Lerche nicht empfunden hatten, in was für einem knochenlosen Gebäude sein Unternehmen gegen das Gebiet am Lau Biang beheimatet gewesen war. Das Übermaß des Begehrens nach der fetten Gelegenheit mußte ihren Verstand so umnebelt haben, daß sich ihnen entzogen hatte, wie alles auf Luft gebaut war.
Er hatte nun fünf Wochen Zeit, an einem unerfahrenen Mädchen alle Künste zu üben, in welchen eine bewegte Vergangenheit »in Konkurrenz mit einem begünstigten Aussehen« – wie er sich ausdrückte – ihn zum Meister gemacht hatte. Nach diesen Wochen wollte er in Schanghai als der Verlobte der Erbin von Bord gehen, und dann konnte es nur noch ein Kinderspiel sein, sich von ihr eine Vollmacht zu sichern. Mit dieser bewaffnet, wartete er ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag ab, um das Erbe auf Sumatra einzusäckeln.
Den Auftrag des Notars, Veronika Voyder über das Testament und dessen Bedingung zu unterrichten, hatte er verschwiegen. Denn gerade diese Kenntnis baute er als die unbekannte Größe in seine Pläne ein. Er konnte heute noch nicht wissen, was für eine körperliche Zahl er einmal ihrem »X« unterlegen würde.
So erschien ihm die ganze Angelegenheit nur mehr als eine reine mathematische Aufgabe, deren glatte Lösung einzig und allein von der Folgerichtigkeit in der Ausführung seiner Berechnungen abhing.
Die »Ermland« verließ Genua am selben Abend. Beck-Duvernois glaubte keine Gefahr zu laufen, auf ihr einer unerwünschten Begegnung ausgesetzt zu sein. Die Kreise, in welchen sich sein Leben abspielte, benutzten diese Klasse von Schiffen nicht.
Er konnte sich mit voller Ruhe zwischen den Passagieren bewegen und sich ihnen als der große Mann von Welt, als der schöne Beherrscher seiner Umgebung vorspielen.
Nur erregte es ihm jetzt Bedenken, daß er sich manchmal dabei antraf, wie er über dem Bild Veronika Voyders dazu neigte, seine Pläne etwas zu vergessen. Wenn er mit ihr auf dem Deck dahin wanderte oder an ihrer Seite im Streckstuhl saß und sie anschaute, vergaß er sich in ihrem Anblick.
Veronika Voyder war klein und von einer geradezu hauchhaften Anmut in der Erscheinung wie in den Bewegungen. Ihren Kopf umkullerte unablässig ein Gewurrel von Locken, deren Braun von Mahagoniglanz durchflimmert war. Ihr Gesicht zeigte sich immer nur in Bruchstücken unter ihnen. Das gab einen Ton, der schelmisch tat, doch auch eigenwillig sein konnte. Und dann sah man plötzlich, wie in einer Lichtung der Locken, die großen honigfarbenen Augen. Diese Augen schauten einen so glühend ernst an, als sei das Herz, das ihr Wesen speiste, in einen verliebt.
Aber sie waren noch völlig unberührt vom Leben, und ihr strahlender Glanz kam unmittelbar aus der Tiefe der Seele.
Das hatte eine so naturhafte Kraft, daß sich selbst der verlebte Beck in einem Teil seines Gefühlslebens, den er ausgeschaltet wissen wollte, gefährdet spürte. Er schalt sich sentimental und hysterisch.
Und doch gab er sich immer wieder dieser Schwäche hin. Schließlich beruhigte er die Vorwürfe des Verstandes, indem er sich sagte: So heimse ich an ihr ein Doppeltes ein! Einmal wird sie reich sein – schön ist sie jetzt schon!
Bald fiel es Veronika auf, daß Beck gern, sobald andere dabei waren, das Gesicht voller Hochmut über seine Umgebung hinaushob und lange in einer Stellung hielt, als habe es keinen Zusammenhang mit dieser irdischen Welt und als sei es eine besondere Gnade, wenn es sich einmal zu ihr zurücklocken ließ.
Wohl empfand sie es als peinlich, aber es reizte auch ihren Spott, und einmal verwies sie es ihm neckend und mit lachendem Auge, wozu sie aus ihrer guten Kameradschaft das Recht ableitete:
»Sie werden müde werden, das Gesicht immer so steil und die Augen so hoch über den Menschen zu halten!«
Aus der Herzlichkeit des so vertraut scherzenden Tons rann eine Schwäche durch Becks Blut. Er sträubte sich gegen sie und erwiderte mit einer abweisenden Kälte, er verstehe nicht, was sie meine.
Zur Antwort gab sie den Blicken, mit welchen sie auf seinem Gesicht verweilte, nur einen sinnenden Ausdruck, sagte nichts, lächelte aber auch nicht mehr.
Beck-Duvernois glaubte zu erkennen, daß sie durch den Ton sichtbar getroffen sei. »Ich bin auf dem richtigen Weg«, meinte er voller Genugtuung bei sich.
Ja, aus der kleinen Begebenheit kam Veronika wohl eine Enttäuschung. Doch sie war anderer Art als Beck meinte.
Wie schwierig ist es, sann sie, mit Menschen zu verkehren! Sie richten Mauern zwischen sich auf.
Die Regung, welche ihre Bemerkung veranlaßt hatte, war ihr einfach und voll guten Sinnes erschienen. Die Abweisung, die sie zur Antwort bekam, versetzte sie in Unsicherheit und Unbehagen.
Eine Stunde später brachte ein Motorboot die beiden an Land, und Beck zeigte ihr Port Said. Er brachte sie durch den Hexenkessel der Eingeborenenstraßen, zeigte ihr die Märkte, geleitete sie durch das große Kaufhaus von Simon Arzt, in welchem man Zigaretten, Fahrräder, Konserven und Schokolade, Revolver und Golfschläger, Chianti und Whisky, Kraftwagen, Perlen aus dem Indischen Ozean kaufen konnte. Sie folgte Becks Anweisungen, indem sie ihre Ausrüstung in dieser Riesenkarawanserei vervollständigte. Sie bekam weiche, weiße Schuhe, einen mausgrauen Tropenhut, schmiegsame Hemdenblusen aus chinesischer Bastseide und Shorts aus italienischer Schappseide.
Gemeinsam mit Beck trat sie über diese Schwelle in den Orient ein und erlebte das schillernd Neue, die erregende Wandlung im Gang des öffentlichen Lebens, und es wurde ein Theater für sie, das ihre Einbildungskraft nicht befremdete, sondern ihre Vorstellungswelt über alle Maßen bereicherte.
Sie verdankte es Beck. Er war doch der großmütige und großartige Kamerad, der ihr in Berlin den Übergang aus dem alten in das neue Leben so leicht und gründlich gemacht hatte.
Diese beiden Erlebnisse, fast aneinander geklebt: Seine kalte Pose und der lebendige Sinn seiner Begleitung durch das Neue der Welt, bildeten dann die beiden Pole, zwischen denen seine Wesensart die ihrige in Spannung hielt.
*
Die »Ermland« war um eine Stunde verspätet in Aden vor Anker gegangen, und Keill hatte diese Stunde auf einer Barkasse verbracht, die auf die Ankunft wartete. Das halbe Dutzend von Menschen, das mit ihm auf dem Fahrzeug war, hielt sich krampfhaft von irgendeinem der Aufbauten aus Eisen fern. Wäre man mit diesen Wänden in Berührung gekommen, hätte es einem die Kleider bis auf die Haut und die Haut bis aufs Fleisch durchgebrannt. Denn von der Sonne dieses heißesten Golfs der Erde saßen siebzig Grad Celsius im Eisen, wenn nicht mehr. Aber auch durch das Schutzdach stach die Sonne mit einer besessenen Heimtücke durch.
Als Keill das Fallreep hinan an Bord kletterte, mußte er oben stehenbleiben und sich an der Reling festhalten. Er sah nichts mehr, weil der Schweiß ihm in die Augen lief. Er nahm sein großes Taschentuch, trocknete sich Augen, Stirn und Haare und stieß dann mit dem ersten noch etwas verwischten Blick nahe vor sich an ein Mädchen. Es stand sozusagen im Schatten einer mächtigen Mannesgestalt und kehrte ihm den Rücken.
»Püppchen! Püppchen!« sagte er mit einem Ausdruck, der für besonders anmutige weibliche Erscheinungen in seiner Luxemburger Heimat üblich war.
Dieser zierliche Körper, in den pergamentfarbenen Seidenshorts nur halb verhüllt, zeigte sich so gesund wie ein frisch begossener Blumenstock. Die sanften Stränge der Rücken- und Beinmuskeln hoben und senkten sich bei einer Bewegung, zart wie ein schönes Atmen der angebräunten Seide der Haut.
Aber dann kehrte sie über die Schultern ihm das Gesicht zu, und er sah auffallend eindringliche Augen in dem Widerschein, mit welchem die Lichtflut vom Wasserspiegel unter das Deck heraufprallte. Und diese Augen waren ernster und, ja gewiß: älter als die jugendliche Zierlichkeit des Mädchenkörpers. Das gab der Erscheinung mit einmal eine Wandlung aus dem Körperlichen ins Seelische.
Verführt bis in die Tiefen seines Bluts, tat der von Natur aus etwas schwerfällige Mann sich den Zwang an und verneigte sich. Es war kaum merkbar, auch ein wenig ungeschickt. Aber die Augen des Mädchens warfen einen prüfenden Blick hin.
Als Keill sich wieder emporrichtete, stießen seine Augen an die Mannsgestalt, in deren Schatten das Mädchen stand. Sie folgten ihr aufwärts, bis sie an ein Gesicht mit überregelmäßigen Zügen gelangten. Dessen Haltung schien der Umwelt die hochmütige Erklärung abzugeben, daß ihr Besitzer weit über ihr in den Wolken zu thronen liebte …
»Geister! Geister!« stammelte Keill fassungslos bei sich.
Er sah den Mann vor sich, der vor fünf Monaten in Beira an ihm und Jürgens in der Rikscha vorbeigefahren worden war, und den er mit dem Einbruch und dem Überfallsversuch in Zusammenhang gebracht hatte: den »Gouverneur«!
Als Keill sich von der schockähnlichen Wirkung dieses Wiedersehens erholt hatte, fragte er sich als erstes: Erkennt er mich? Er versuchte es von dem Gesicht abzulesen. Aber dieses verharrte in seiner wolkenhaften Höhe.
Eine jähzornige Wallung durchlief ihn. Ich werde dich stellen, warte! und er richtete seinen Blick nun absichtsvoll auf das Gesicht, als wollte er die Augen zwingen, ihm Rede zu stehen. Doch es war, als schaute er gegen Marmor.
Keill wandte sich zum Eingang ins Schiff. Er kniff die Augen zu, während der Wirbel einer unerklärlichen Erregung ihn aufwühlte.
Ich werde ihn hassen! sagte er halblaut, als er durch die Tür trat.
Dann nahm ihn der Steward in Empfang und brachte ihn in seine Kabine.
Wer ist der imposante Herr neben der Dame draußen? fragte Keill ihn.
»Herr Beck!« antwortete der Steward kurz.
Keill wusch sich, zog einen frischen Leinenanzug an und fühlte sich erfrischt. Das Schiff fuhr auch wieder. Die Luft war angenehmer geworden … Herr Beck? sann Keill nach. Also kein Herr du Vernois! Nun ja! Und damit legte er den Fremden zunächst beiseite. Es war ja überhaupt vielleicht Unsinn, jenen Namen du Vernois mit dem schönen »Gouverneur« und diesen mit den Anschlägen in Zusammenhang zu bringen.
Beim Abendessen sah er den »Gouverneur« wieder. Dieses fand in dem mäßig großen Raum statt, in welchem mit dem Kapitän, den beiden ersten Offizieren, dem Chefingenieur und dem Schiffsarzt das Dutzend Gäste an zwei größeren Tischen aßen. Keill bekam einen Platz dem jungen Mädchen gegenüber, und neben diesem saß Herr Beck.
Der »Gouverneur« erschien wie umgewandelt. Wohl war das überregelmäßige Gesicht noch mit seiner ganzen »pseudomännlichen Schönheit« – die Bezeichnung fand Keill, als er es jetzt im Licht genauer sah – unverändert an seiner Stelle auf dem breitschulterigen hohen Körper. Doch thronte es durchaus nicht mehr in den Wolken. Es gab sich mit einer sehr irdischen Anteilnahme der Umwelt hin und verschwendete geradezu Liebenswürdigkeiten an sie. Gegen Keill hatte Herr Beck sich, bevor er Platz nahm, aufs Höflichste verneigt.
Keill kaute viel an seinem Schnurrbart. Der hatte eine Farbe von reifem Weizenstroh und war wie zerzaust von vielen Unwettern der Erdteile, die sein Besitzer durchzogen. Dieser Schnurrbart unter einer Nase, die steil, groß und nicht weniger herausfordernd als die sengende Farbe der Barthaare aus dem festen Gesicht brach, gab diesem einen verwegenen Abglanz von Abenteuern. Keill ließ nicht locker, das Gesicht seines Gegenübers zu durchprüfen, und fühlte die gleiche Abneigung, die sich schon bei jener flüchtigen Begegnung in Beira gemeldet und beim Wiedersehen an Deck versteift hatte.
Und weil es offensichtlich zutage trat, daß das junge Mädchen in bereits festgelegten Beziehungen zu ihrem Nachbarn stand, mochten es auch die jenes üblichen und oberflächlichen Bordflirts sein, fühlte er sich enttäuscht und vergrämt.
Jetzt bedauerte er den Impuls, welcher ihn beim ersten Anblick zu der übereilten Huldigung getrieben hatte. Denn er war bereits eifersüchtig auf den schönen Mann und sah beflissen über die junge Dame hinweg, während er heimlich bei sich einen rächerischen Kehrreim zu trällern begann: »Ja, das sind die Bordgänschen … überall dieselben Bordgänschen …« Er war in seinem Beruf über alle Meere gereist und hatte reichlich Gelegenheit gehabt, die Weiblichkeit von dieser Seite her zu erleben. Mit seinem Trällern meinte er jene vor keinem Himmelsstrich haltmachende Kategorie von jungen Mädchen, die auf Reisen bei der Auswahl ihrer Bordflirts wahllos nur dem äußeren Anschein folgten.
Als das Essen vorbei war, erhob er sich etwas schroff. Und nach einer kurzen Verneigung über die Allgemeinheit der am Tisch Sitzenden hinweg verließ er den Eßraum und stürzte sich draußen auf Deck in einen jener Dauerspazierläufe, auf denen jahrein und -aus auf den Schiffen aller Nationen und unter allen Himmelsstrichen Millionen von Kilometern auf die Pidgepine-Dielen der Decks gelegt werden – in einem Wettlauf zwischen Langeweile und seelischer Gefangenschaft im engen Raum der Dampfer.
Zunächst einsam, bekam er nach und nach Gesellschaft. Die einen liefen allein, andere zu zweit, und die einen machten den Gang in dieser, die anderen in der entgegengesetzten Richtung. Traf man sich, rief man sich irgendeine Bemerkung zu, von der es gleichgültig war, ob sie gemacht oder unterlassen wurde.
Bald begannen einzelne den Dauerlauf aufzugeben, streckten sich in den Liegestühlen aus oder lehnten sich über die Reling und starrten in das Rauschen hinab, in welchem sich das Meer an den Schiffswänden wie zu kochendem Marmor zerrieb. Die aus dem Schiff fallenden Lichter reisten hastig über das finstere erregte Wasser mit. Aber dies erhellte sich auch immer wieder geheimnisvoll von selber, wenn in seinen Stürzen die Milliardenheere der Glühtierchen in ein funkelndes Phosphoreszieren gerieten.
Der Monsun war aufgekommen und blies schroffe Kühle in die Decks, umwirbelte Keill, der selber auch schon lange an der Reling stand. Über das Wasser geneigt, schaute er in die Tiefe hinab und horchte dabei in sich hinein. Denn das ineinanderprallende Verbrausen der Geräusche, inmitten derer das Schiff die Nacht des Meeres durchfuhr, entließ, wie eine geisterhafte Flut, ununterbrochene Vorgänge. Sie waren weder erkenntlich noch erklärlich. Aber gerade ihre Körperlosigkeit, aus der Tiefe der Nacht geboren, befruchtete unersättlich die Vorstellung des Mannes, der sich mit immer stärker gelockertem Gemüt ihnen hingab. Alle Regungen erfuhren eine gesteigerte Innerlichkeit, eine bis zum Überschwang gehende Schwungkraft, in welcher sich der Umtrieb seines Innern entschwerte und reinigte.
Wie glückhaft war es, ein Mensch zu sein und fühlen und leiden und sich an sich selber wie an die Welt verlieren zu können! … Wie kleinlich, wie sehr seiner unwürdig war es gewesen, daß er vorhin bei Tisch ein holdseliges Geschöpf hatte überblicken wollen, weil es am Bord einen Mann gab, der so oberflächlich schön war wie der »Gouverneur«.
Hatte er denn nicht, als er aufs Schiff gekommen, in ihre Augen geschaut? In den Augen erkannt, daß dieser Kavalier tausend Seemeilen weit außerhalb der Seele dieses Menschenwesens stehen mußte, auch wenn körperlich die Entfernung nur von einem Schritt zwischen ihnen lag? Keill kam aus jener Luxemburger Landschaft, in welcher Eifel und Ardennen ineinander schmelzen. Hier, inmitten der verworfenen und zerzackten Schieferfelsen, welche junge Bäche trotzig durchbrachen und die Hänge, in denen sich Erde festhielt, mit strengen Lohbüschen und lohenden Ginsterhalden überzogen, war das Land herbe und hart. Aber die Weite leitete die Seele in ein übersinnliches Verströmen von Horizonten.
Diese eindringliche Landschaft hatte in ihrer Gegensätzlichkeit ihre Menschen erzogen: Im ersten Anhieb der Regungen waren sie von einer mimosenhaften Empfindlichkeit. Unter der Schwere des Blutes irrten die Menschen am Zusammenstoß mit einer nahen Wirklichkeit so leicht ab. Aber gleich der Weite der Heimaterde wartete die Bereitschaft einer Wesensart, die wie ein Abbild der Horizonte war, in welchen sich alle Grenzen aufhoben.
So erlöste das Ereignis der wind- und meerrauschenden Nacht mit ihren lockernden Kräften Keills Inneres. Nun kehrte er dem Meer und der Finsternis den Rücken, und, an derselben Stelle der Reling stehenbleibend, wandte er das Gesicht dem Deck zu, auf welchem die Mitreisenden weiter liefen oder sich in den Stühlen ausstreckten.
Er suchte zwischen ihnen das Mädchen, und es bedeutete ihm eine heimliche Bestätigung, als er sah, daß sie sich von dem schönen Mann getrennt hatte und mit einer Dame langsam auf der Seite des Decks auf und ab ging, auf der sich auch Keill befand.
Sein Herz aber fiel ein Hämmern an, als plötzlich die beiden Damen sich unmittelbar neben ihm aufstellten, ein Weilchen noch in das dunkle Meer schauten, dann bald, wie er selber, dem Deck das Gesicht zuwandten.
Jetzt belastete die Nähe des Mädchens ihm hemmend Phantasie und Entschlußkraft. Er sah, wie der Wind ihre rot durchschimmerten Locken vor dem Licht in den Fenstern des Speiseraums in einem strengen Spiel schüttelte. Er spielte mit der süßen Verlockung, zu glauben, sie habe etwas von dem erfühlt, was in ihm vorging und mit Absicht den Platz ausgewählt.
Doch er lehnte dieses betörende Gefühl ab. Es hätte ihn in eine Nähe zu ihr gebracht, für welche er in der Schwere seines Wesens nicht reif war. Aber in der Erregung, in welche ihn diese Vorstellungen verstrickten, fand er Form und Wort nicht, sich ihr zu nähern.
Da kam ihm die Mitreisende über einen Umweg zu Hilfe. Sie entschuldigte sich, es werde ihr zu kühl, sie gehe lieber hinein und nannte dabei den Namen der Zurückbleibenden, indem sie sagte:
»Bis nachher …« und deutlich zu verstehen: »Fräulein Voyder.«
Keill war als junger Mann auf einer ersten Reise in Sumatra gewesen und war auch später von seinem Beruf öfter hingeführt worden. Der Name Voyder war ihm aus dem Deli-Bezirk vertraut.
Wie mit einem Ruck bemächtigte er sich dieses Wissens und fragte:
»Reisen gnädiges Fräulein nach Sumatra?«
Wie komisch, schalt er sich zugleich, weshalb in der dritten Person, ich, Mann von Vierzig, sie um die Hälfte an Jahren jünger!
Aber es war gesagt, und zur Antwort bekam er nur einen fragenden Blick.
»Ich hörte«, sagte er, gerade einen Namen, der auf Sumatra sehr bekannt ist. Ich dachte, vielleicht …«
Diese Worte hatten eine unerwartete Wirkung, er sah es gleich, noch bevor er gesagt hatte, was er hatte sagen wollen, und beendete unsicher und betreten stammelnd:
»Vielleicht … Peter Voyder?!«
Es war, als fröstelte sie. Untätig verharrte sie einen Augenblick, sagte dann fast schroff und doch auch mit einem Ton der Hilflosigkeit:
»Nein!«
Und damit wandte sie sich von ihm ab und ging.
Er sah sie den Abend über nicht wieder und plagte sich vergeblich, darüber nachzusinnen, was an seinen Worten eine so unerwartete und gewaltsame Wirkung hatte hervorbringen können.
*
Als heute der gedrungene, den Schweiß aus den Augen wischende Mann sich so unvermutet vor ihr verneigte, hatte Veronika Voyder eine Regung in seine Augen einhuschen sehen, an welcher sie sich unmittelbar beteiligt fühlen mußte, Sie hatte die Vorstellung, da sei aus der Fremde der Welt herauf ein Unbekannter zu ihr hingetreten und habe, wie in einem Zugriff nach ihrer Seele selber, sie an sich gerissen. Nur mit Mühe hatte sie ihr Erschrecken verbergen können.
Veronika Voyder war einsam und streng aufgewachsen, wenig mit Menschen zusammengekommen, und was sie an Lebens- und Menschenkenntnis besaß, hatte sie mehr der Frische ihrer Instinkte und der Kraft ihrer Seele zu verdanken und nicht der Erfahrung. So hatte die Begegnung für sie ein Erlebnis bedeutet, das sie in ihr Gemüt einzuordnen hatte. Aus dem Erschrecken hatte sie ein Wirbel von Erregung gepackt und war wohl abgeebbt, hatte sich aber noch nicht verlaufen, als sie beim Abendessen den Fremden wiedersah.
Ihr Herz hatte einen kleinen Schlag getan, als er auf den Stuhl zutrat, der ihr gegenüber stand. Dann hatte sie Anstoß daran genommen, daß er wie durch sie hindurchschaute, als sei sie Luft, und nun waren die Beziehungen, die mit einer unvermuteten seelischen Wendung begonnen, in einen Zwiespalt geraten, dessen Sinn sie nachhing.
Ihre Unerfahrenheit hatte ihr Empfindungsleben völlig unabgenutzt gelassen. Trotz ergriff sie. Es war ihr Recht, zu verlangen, daß der Fremde zu der Gegensätzlichkeit seines Benehmens Stellung nehme.
Ja, und diese Forderung ihres Gemüts begann sie damit zu erfüllen, daß sie aus dem Spaziergang mit der Mitreisenden heraus sich zur Reling an die Stelle neben ihn gestellt hatte, in der weitläufigen Erwartung, es ergebe sich eine Gelegenheit, welche ihm eine Erklärung abnötige.
Mit jedem anderen der Mitreisenden, der ihr den Namen ihres Großvaters zugetragen, wäre sie ohne Verlegenheit, Beunruhigung oder Verwirrung, die Beziehungen zu Peter Voyder ableugnend, in ein anderes Gespräch eingetreten.
Nun aber war es wiederum dieser Mann, der den Namen vor sie brachte … den Namen, der sie wie ein gespenstischer Schatten immer verfolgt hatte. Denn der Name Voyder war ja ein Teil ihrer selbst, ein Teil, der verfehmt und verdammt in ihr verborgen lag.
Es war nun, als hätte der Fremde mit dem Aussprechen des Namens ein zweites Mal nach ihrer Seele gegriffen, und damit erlangten die Beziehungen zu ihm eine fast beängstigende Körperlichkeit. Der Fremde war in eine Nähe zu ihr getreten, die Verwirrung und Drohung brachte.
Veronika hatte die Herrschaft über sich verloren und war vor ihm und sich selber davongelaufen. Sie saß in ihrer Kabine und grübelte.
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Auch auf Beck hatte das Erscheinen Keills seine Wirkung ausgeübt. Schon beim ersten Blick auf den neuen Mitreisenden, der in Aden vom Fallreep aufs Deck trat und einige Augenblicke stehenblieb, hatte Beck die unerklärliche Vorstellung vom Nahen einer Bedrohung, ohne daß er einen Grund dafür hätte finden können. Er suchte auf dem Gepäck den Namen. Er war ihm unbekannt.
Aber als ihm dann während des Nachtessens gewiß wurde, daß sich dieser Ingenieur Keill auch für ihn zu interessieren schien, festigte sich in Beck die Vorstellung, als habe er diesen Mann früher schon einmal gesehen. Doch zerquälte er vergeblich sein Gedächtnis.
Er fragte sich: Weiß er um mich selber besser Bescheid? Oder verraten die prüfenden Blicke, daß er über mich in derselben Unruhe ist, wie ich über ihn?
Nach Tisch zog sich Beck in seine Kabine zurück, deren Fenster aufs Deck führte. Er ließ sie dunkel. Ungesehen konnte er den andern auf dem hellen Deck beobachten und wurde, hinter dem Ochsenauge seiner Kabine verborgen, Zeuge des Auftrittes zwischen Veronika und dem Ingenieur. Auch hörte Beck aus dem Mund des neuen Mitreisenden den Namen Peter Voyder.
Was hat das zu bedeuten? Er fragte es halblaut in die Dunkelheit seiner Kabine hinein, und so sehr war er betroffen von der Plötzlichkeit und der heftigen Form jenes Vorgangs, daß er sich mit zitternden Fußgelenken auf sein Bett setzen mußte.
Sein Anschlag gegen die Erbin Peter Voyders war in dem Augenblick gefährdet, in dem ein Dritter Gelegenheit fände, sich zwischen sie zu schieben, überlegte er sich. Und nun war ein Mann an Bord gekommen, der jedenfalls den Großvater des Mädchens und die Verhältnisse kannte.
Beck preßte, auf dem Bett sitzend, die Schläfen zwischen seine Fäuste und versuchte die Lage zu durchdenken, er kam immer wieder nur zu der Erkenntnis und auch zu dem Entschluß, daß es Zeit sei, sich Veronika zu sichern.
Als Mann von Erfahrung kannte er die Macht der Gelegenheit. Sein erstes Ziel müßte sein, die Möglichkeit einer solchen zu bannen. Das war zu erreichen, wenn das Vertrauen des Mädchens zu ihm stärker war als alles, was von außen kommen konnte …
Nur die Liebe hatte diese Kraft!
Wohl hatte er bisher von Veronika Zeichen einer starken, ja manchmal zärtlichen Anhänglichkeit erlebt. Aber er war sich klar darüber, daß darin nicht unbedingt auch schon Liebe enthalten sein müsse. Er, der sonst nur mit so ganz anderen Menschen verkehrte, war bei Veronika auf ein Wesen gestoßen, dessen natürliche Reinheit, dessen starke Naivität ihn immer von neuem unsicher machte …
Deshalb hatte er bisher keinen anderen Entschluß fassen können, als sich selber und ihr Zeit zu lassen und nur mit langsamer Vorsicht den Boden zu bereiten, bevor er seine Teufelssaat aussäte.
Aber jetzt war Gefahr!
Er wischte mit der Hand durch die Luft. Ach was! raunte er sich zu, ich habe geriebenere Frauen verführt.
Entschlossen ging er über die Decks, fand sie aber nicht. Sie mußte also in ihrer Kammer sein. Es war nicht Sitte, und es war auch nicht unbedenklich, an Bord eines so kleinen Schiffes einer Dame in ihrer Kabine einen Besuch abzustatten. Aber die des jungen Mädchens lag ein Deck tiefer, ging aus einem schmalen Flur aufs Meer und war also weniger einzusehen als die oberen Kammern.
Beck federte die Treppe in das Unterdeck hinab und wandte sich, als er niemanden sah, spornstreichs auf die Tür zu. Er klopfte, drückte auch schon im selben Augenblick die Klinke nieder und trat ein.
Veronika saß in dem kleinen Sessel, der Tür abgewandt, und erhob sich rasch, als sie hörte, wie das Schloß niedergedrückt wurde. Der leise Lärm ging wie ein Riß durch ihr Inneres.
Mein Gott, war es möglich! rief sie sich entsetzt zu. Kam er jetzt auch noch hierher zu ihr?
Aber dann sah sie, daß es nicht der Fremde, sondern Beck war. Er war schon eingetreten, schloß leise und umständlich hinter sich die Tür und kam auf sie zu. Er trat rasch dicht an sie heran, und bevor sie es abwehren konnte oder etwas zu fragen vermochte, nahm er ihre beiden Hände in die seinen und schaute ihr in die Augen.
»Mein Kind«, sagte er, »wir sind gute Kameraden, ja Freunde geworden. Ich habe es übernommen, Sie in die Fremde zu geleiten, und wenn das, was ich Ihnen jetzt gestehen muß, auch vielleicht nicht üblich ist, ja sonst unerlaubt sein mag, so halten Sie es der Sorge zugut, die ich für Sie habe. Denn ich kenne mich in der Welt aus und ich muß Sie warnen. Diese Sorge hat mich veranlaßt, Sie heute abend zu beobachten, ohne daß Sie mich sehen konnten, und da ward ich Zeuge des Vorgangs mit dem Herrn, der heute morgen in Aden am Bord kam und schon gleich mit dem ersten Schritt aufs Schiff sich sehr sonderbar und fast aufdringlich gegen Sie benahm. Können Sie mir sagen, was dieser Mann von Ihnen wollte? Es ist keine Neugier, nur Interesse an Ihnen!«
Veronika kräuselten sich die Schläfen unter dem Andrang eines Gefühls des Unwillens und der Abwehr. In der Stille der Kammer war Veronika schwankend geworden, ob sie dem Ingenieur gegenüber richtig gehandelt hatte, und war nahe daran, sich töricht überheblich und ungeschickt zu schelten. Aber eine Einmischung vermochte sie nicht zu dulden. Niemand hatte das Recht, an diesen Vorgang zu rühren. Sie hatte sich allein zurechtzufinden.
Sie entzog Beck ihre Hände. Ihre Lippen preßten sich aufeinander, als müßte sie auch ein äußerliches Zeichen der inneren Ablehnung geben.
Beck erkannte sofort, was vorging. Eine Sekunde lang war er verlegen und unsicher, von dem Widerstand, den er nicht in dieser Form erwartet hatte, wie angeschlagen. Er machte zunächst sein Wolkengesicht, erkannte aber gleich, daß es ihm nichts half. Da überflorten sich seine Augen mit dem Schein schmerzhafter Trauer. Er wollte es weich und gefühlvoll versuchen, warf jedoch gleich wieder um.
Er war der schöne starke Mann, siegesgewohnt, Bändiger der Frauen. In einer Mischung von kaltem Zusammenrechnen seiner Erfolge bei Frauen mit dem Anwachsen einer Glut, die sein Inneres auszubrennen drohte, wollte er auf Veronika eindringen, sich nicht ja und nicht nein sagen lassen, sich ihrer bemächtigen und ihr bedeuten:
»So nimmt man die Mädchen wie dich! Basta!«
Aber mitten im Anlauf brach es ihm zusammen. Denn als er zufassen wollte, machte er eine Entdeckung. Wie ein Stoß vor die Brust fuhr sie gegen ihn:
Er liebte sie!
Das Gefühl einer staunenden Ohnmacht vor dieser Entdeckung erzwang einen winzigen jammernden Laut aus ihm. Er riß Veronikas Hand hoch und drückte seinen Mund auf den kleinen Handrücken, stürzte auf die Tür, und ohne ein weiteres Wort zu sagen, hastig, wie davongehetzt, verließ er die Kabine.
Das Blut schoß der Zurückbleibenden ins Gesicht und über den Hals, sie fühlte es bis in die Achseln ihre Schultern überbaden. Unfähig sich dem Vorgang zu stellen und hilflos starrte sie den Handrücken an, der seine Lippen und seine weichen Schnurrbarthaare gespürt hatte. Der Duft eines leisen aber eindringlichen Wohlgeruchs, den der parfümierte Bart darauf zurückgelassen hatte, stieg von ihm auf.
Da überkam Veronika ein Gefühl, das gleichermaßen stark an Widerstand wie an Entsetzen war. Sie eilte zum Waschtisch, ließ Wasser über die Hand laufen, seifte sie lange zornig und gründlich, hielt sie an die Nase, der Geruch schien nicht zu weichen, und als sie minutenlang den Handrücken mit einer harten Bürste bearbeitet hatte, blieb immer noch unverwischbar die Empfindung des Aufdrucks der weichen Schnurrbarthaare.
Erst als sie einen Handschuh anzog, fühlte sie sich gerettet.