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4.

Schon von Medan aus hatte Beck-Duvernois sich über einen Schweizer Geschäftsfreund telegraphisch versichern lassen, daß Peter Voyder noch in Lindau lebte. Als er aber, im Hotel dort angekommen, von Ungeduld erfaßt Voyders Namen im Telephonbuch suchte und nicht fand, fühlte er einen ordentlichen Stich im Herzen. Er eilte zum Portier.

»Na ja, Herr Voyder!« sagte dieser, indem er die Lippen verzog. »Nein, Herr Voyder hat natürlich kein Telephon, obgleich er in einem Schloß wohnt. Herr Voyder ist sehr menschenscheu, wenn man sich nachsichtig äußern will. Er hat lange in den Tropen gelebt, und man sagt, von dort habe er es mitgebracht.«

Dazu klopfte er zweimal mit der Spitze des Daumens an seine Stirn und lächelte, als befände er sich mit dem fremden repräsentablen Herrn in einem herzlichen Einverständnis. Beck begab sich erleichtert auf sein Zimmer zurück.

Der erste Ausgang in Lindau führte ihn zum Schloß Bleichenberg. Es lag in einem Vorort außerhalb der Insel und versteckte sich in den Bäumen eines Parks, der einen kleinen Moränenhügel überzog. Schloß Bleichenberg, Voyders Besitz, war nicht gerade ein Schloß, eher eine große Villa, die sehr üppig in der Mode des ausgehenden 19. Jahrhunderts gebaut war. Der Park war völlig vernachlässigt und verwildert. Beck sah mit einiger Sorge, wie im Haus überall vergilbte Vorhänge hinter den Fenstern zugezogen und die Fenster des Erdgeschosses mit Eisenläden verbarrikadiert waren. Auch das reich geschmiedete Eisentor unten an der Straße zeigte sich von Rost zerfressen, und schien durch ein Menschenalter nicht mehr geöffnet worden zu sein.

Wer wird mir dieses Tor öffnen? fragte sich Beck-Duvernois.

Es schien sich bei Voyder um einen sehr gründlichen Fall von Menschenscheu zu handeln, und Beck ging ein wenig verzagt zur Stadt zurück.

Aber Beck-Duvernois hatte in seinem Leben schon manche dunkle und schwere Lage gemeistert. Er dachte nicht daran, gleich die Flinte ins Korn zu werfen, auch wenn das Haus so deutlich die Zeichen eines Bewohners trug, der niemanden leicht an sich heranließ. Beck-Duvernois verbrachte den Rest des Tages und den nächsten damit, sich im Städtchen umzusehen und auf eine Gelegenheit zu passen.

Er ging bereits ein drittes Mal an dem Haus vorbei, das hinter den beiden Kirchen lag. Neben der Tür dieses Hauses war nämlich ein ovales Schild aus weißem Email in die Wand geschraubt und darauf stand: Notar. Nun ja, es kam ihm in Erinnerung, daß er bei dem Kollegen dieses Notars in Medan schon in der Sache Voyder vorgesprochen hatte.

Als er das Schild nun aber am späten Nachmittag des zweiten Tages wieder vor Augen bekam, nahm er es als einen Wink und sagte sich: Wer Voyders Hausarzt ist, weiß ich nicht, wer sein Bankier ist, auch nicht. Sonst ginge ich vielleicht zu diesen. Da aber Voyder hier Besitz hat, hat er gewiß einmal mit diesem Notar zu tun gehabt, und zudem wäre es möglich, daß er ein Testament gemacht und dabei ebenfalls den Notar beansprucht hat. Das sind, stellte er fest, Erwägungen, die im Bereich des gesunden Verstandes liegen.

Kurz entschlossen trat er in die Amtsstube ein. Der erste Raum, in dem zwei Tische darauf deuteten, daß hier die Angestellten tätig waren, zeigte sich bereits verlassen, da sechs Uhr vorbei war. Doch im Büro dahinter fand er einen jovialen älteren Herrn, der ihn mit ausgesprochener Freundlichkeit empfing und, als Beck sagte, er komme von Sumatra, ihn in liebenswürdigster Form auf einen Stuhl und in ein Gespräch komplimentierte.

Seit langem sei er in Sumatra eingesessen, erklärte Beck, der flüssig Deutsch, wenn auch mit angelsächsischem Akzent sprach. Aber die Abnutzung des Menschen in den Tropen sei so stark, daß er daran denke, sich von Sumatra und den Geschäften zurückzuziehen, obgleich er sich noch in den besten Jahren befinde. Die Geldfrage spiele keine Rolle, und er könne es sich gestatten, sein Leben zu führen, wo es ihm beliebe. Schon immer habe er einen besonderen Hang nach Deutschland gehabt. Es sei die Heimat seines Großvaters. Als er aber vor einigen Tagen zum erstenmal in seinem Leben nach Lindau gekommen sei, habe diese Stadt seinen Gefallen in einem Maße gefunden, daß er sich halb entschlossen habe, den Bodensee zu seinem Buen Retiro zu wählen. Nun wisse er wohl, auch wenn er mit deutschen Einrichtungen nicht restlos vertraut sei, daß ein Notar kein Gütermakler sei. Doch möge der Herr Notar ihm die Belästigung nicht verübeln und zugute halten, daß es ein Ausländer sei, der ihn beanspruche. Der Notar sei doch wohl die Stelle, die ihn durch einen guten Rat gewiß von vornherein vor Enttäuschungen schütze. Vielleicht erweise deshalb der Herr Notar ihm den liebenswürdigen Dienst und nenne ihm eine vertrauenswürdige Firma, welche ihn beraten könne.

Der Notar, erfreut, in seinem Büro einen Mann sitzen zu haben, der aus so weiter Welt kam, tat schon von sich aus den ersten Schritt und nahm das Thema auf, das Beck-Duvernois absichtsvoll angeschlagen hatte.

»Ja«, sagte der Notar nämlich, »wie sehr recht Sie mit Ihrer Bemerkung haben, daß Sumatra den Menschen stark abnutze, dafür haben wir ja gerade hier in Lindau das Beispiel Peter Voyders, des berühmten Tabakkönigs, den der Herr gewiß von Sumatra aus wenigstens dem Namen nach kennt.«

»Noch heute liegt der Name Peter Voyder wie ein geheimer Geist über dem Deli-Gebiet«, nahm Beck das Wort. »Aber welch interessantes Zusammentreffen, daß Peter Voyder in Lindau wohnt! Erzählen Sie mir doch. Hier in Lindau?! Drüben gingen allerlei Gerüchte über ihn.«

»Herr Voyder hat auf Sumatra einen schweren Schicksalsschlag erlebt. Von ihm konnte er sich nie recht erholen. Er lebt äußerst zurückgezogen in seinem Schloß Bleichenberg.«

Diese Worte des Notars wurden mit einer gewissen Ehrfurcht gesprochen. Zugleich war aber in ihnen auch ein Ton von Vertrautsein unverkenntlich, so daß Beck auf den Gedanken kam: In dem großen Eisenschrank dort in der Ecke liegt vielleicht Voyders Testament!

Da erfaßte ihn einen Augenblick lang ein dunkler Wirbel. Er und der Besitzer des Schlüssels zu diesem Schrank waren allein! Wenn er ihn niederschlüge, ihm den Schlüssel entrisse, den Schrank öffnete, heraus das Bündel mit dem Akt Voyder! Mit dem Testament! Mit dem Kaufvertrag über die Ländereien am Lau Biang! Und fort! fort!

Aber es dauerte nicht länger als einen Augenaufschlag. Er verwischte die Regung und führte die Unterhaltung mit Gewandtheit fort. Sie endigte damit, daß der Notar den Fremden, der sich gewiß in der unbekannten Stadt einsam fühle, mit zu seinem Stammtisch nahm. Im Aufstehen umfaßte Beck-Duvernois mit einem Blick, gemischt aus Zärtlichkeit und Begierde, den großen Eisenschrank, und sich zugleich elegant verneigend, trat er vor dem Notar aus dem Büro.

Zum Stammtisch war es nicht weit. Der Notar führte den Fremden in ein Weinstübchen. An einem Fenster saß der Besitzer an einem Gestell mit Broten, denn der Wirt war zugleich Bäcker. Ab und zu klopfte es an der Scheibe, dann schob der Wirt das halbe Fenster auf und reichte ein Brot oder Semmeln hinaus und kassierte Geld ein, das er durch einen Schlitz in eine unter der Fensterbank angebrachte Lade fallen ließ. Dabei hörte er nicht auf, auch an der Unterhaltung seiner Gäste teilzunehmen.

Es waren nur zwei Tische in der getäfelten Stube. Der eine war leer. An dem anderen saßen die Stammtischfreunde des Notars. Peter Voyder bildete den alleinigen Unterhaltungsstoff, nachdem der Notar seinen Begleiter als einen Herrn aus Sumatra eingeführt hatte, das noch heute von ihres Lindauer Landsmanns Ruf widerhalle.

Beck erfuhr aus den Gesprächen, daß seit zwei Jahrzehnten kein Lindauer den einsamen Greis im Bleichenberg mehr gesehen habe, außer einer jetzt auch alt gewordenen Frau, die einmal in der Woche eingelassen werde. Sie bringe ihm das zum Leben Notwendige.

»Ein krankhafter Geizhals also?« bemerkte Beck-Duvernois.

»Im Gegenteil«, rief von seinem Fenster her der Wirt und Bäcker in das Gespräch hinein, »die Frau kauft seit Jahren ihr Brot bei mir. Er zahlt ihr ein Ministergehalt. Jedenfalls hat sie ihre beiden Söhne studieren lassen und war vor Herrn Voyders Ankunft nichts als eine Aufwartefrau.«

Ob er denn auch auswärts keinen Verkehr habe, mit der Post oder so, wollte Beck wissen, und es wurde ihm mitgeteilt, er habe bald nach seiner Ankunft an die Postverwaltung geschrieben, er verweigere die Annahme jedweder Sendung, man solle alles zurückgehen lassen. Ein jeder der Herren wußte etwas Besonderes über den merkwürdigen Mann im Schloß Bleichenberg zu sagen. Denn die Stadt hatte sich noch immer nicht damit abgefunden, daß in ihrer Mitte ein Krösus lebte, umgeben von einem Nimbus von Welt- und Geldglanz, und ihr seinen Anblick und die Vorführung seiner Reichtümer verweigerte.

Ja, betonte einer, Voyder habe nicht einmal seine einzige Enkelin in sein Haus aufgenommen, obgleich sie die letzte direkte Verwandte und die letzte des Namens, Tochter seines verstorbenen Sohnes sei. Sie sei auswärts erzogen worden, habe in München studiert, darauf das Orientalische Seminar in Berlin besucht und vor kurzem ihren Doktor gemacht.

»Und was will ein so schönes reiches deutsches Mädchen mit einem so schweren Examen anfangen?« fragte mit liebenswürdigem Lächeln Beck-Duvernois, während er bei sich ergänzte: ein Mädchen, das hoffentlich nie erfährt, daß ihm einmal ein Millionenbesitz als Erbe zufallen könnte.

»Vielleicht hat sie es notwendig«, antwortete ein anderer der Herren. »Die Vermögensverhältnisse des alten Voyder sollen im Laufe der Jahre etwas zweifelhaft geworden sein.«

»Es wird viel gemunkelt!« sagte der Wirt über den Klang von Geldstücken hinweg, die er in die Lade fallen ließ.

»Na, Herr Bankdirektor, da wären Sie ja die Quelle!« wandte sich jetzt ein anderer an den kleinen dicken Herrn mit dem lustigen Lockenkopf, der so wenig nach einem Bankdirektor, aber viel eher nach einem Zauberkünstler aussah.

»Er läßt nicht bei mir arbeiten. Aber der Notar kennt doch gewiß sein Testament!« antwortete der Bankdirektor.

Nun schauten alle auf den Notar. Der aber lachte: »Das könnte sein. Aber ein Notar ist kein Auskunftsbüro.«

Der Kuckuck trat aus der Uhr über dem Gesims und rief achtmal. Nun erhoben sich alle die Herren, als habe der Kuckuck einen nur den Eingeweihten verständlichen Geheimbefehl herabgerufen. Mit der mehrfach wiederholten Versicherung, wie sehr man sich freuen würde, einen so interessanten Gast wiederzusehen, drückten sie Beck-Duvernois die Hand und verneigten sich mit viel Feierlichkeit vor ihm.

Der Notar begleitete Beck-Duvernois zum Hotel. Unterwegs, als sie allein waren, sagte er, er müsse eine Bemerkung, die gefallen sei, berichtigen. Er habe es nicht in Anwesenheit der anderen Herren tun können. Aber Herr Beck sei ja nun ein anderer Fall, und da er sich als halber Landsmann für Herrn Peter Voyder interessiere, sei es ihm sicher wissenswert zu erfahren, daß er, der Notar, von Herrn Peter Voyder den Auftrag habe, seine Post in Empfang zu nehmen … »In den ersten Jahren«, fuhr er dann fort, »kam auch eine Menge. Aber die Eingänge blieben plötzlich aus. Ob Peter Voyder der Post eine andere Anweisung gegeben, entzieht sich meiner Kenntnis. Jetzt erledige ich eigentlich nur noch die Steuern. Über sie besteht aber eine mechanische Abmachung mit dem Finanzamt.«

Am nächsten Abend holte der Bankdirektor Beck-Duvernois im Hotel ab, und jeden Abend kam Beck nun in die kleine Weinstube, und jeder Abend vermehrte seine Kenntnisse über den Mann, dessentwegen er eine Reise um den halben Weltball gemacht hatte. Aber jeder Abend entfernte ihn auch immer mehr von der Aussicht, persönlich an ihn heran und seinem Ziel näher zu kommen. Und Beck-Duvernois fragte sich, ob er die Reise nicht umsonst gemacht habe.

Immer, wenn ihm etwas widerstand, verfiel Beck dem Drang, mit gewaltsamen Lösungen zu spielen. Wenn er in seinem Hotelzimmer lag, von der tönenden Einsamkeit der Nacht in der fremden Stadt umbraust, nährten sich von Mal zu Mal seine Vorstellungen stärker mit Bildern, in denen er sich sah, wie er den Eisenschrank des Notars aufbrach, den Akt Voyder herausstöberte, ihn aufriß …

Ich werde Tiffriche herbeitelegraphieren, plante er. Tiffriche hatte ja Übung, auch wenn es ihm das letzte Mal in Mozambique mißlungen war! Immerhin hatte er es fertiggebracht, sich nicht schnappen zu lassen. Ein Eisenschrank in einer Kanzlei in Lindau ist kein Bunker. Tiffriche läßt den Raub in meinen Händen. Ich bringe ihn in Sicherheit. Tiffriche wird die Gelegenheit seines Besuchs in der Kanzlei benutzen, um auch Aktenpapier des Notariats mitzubesorgen. Dem Sultan wird eine Verkaufsvollmacht vorgelegt. Die Unterschrift Voyders ist ja aus dem Akt heraus nachzumachen. Die Ländereien am Lau Biang werden rasch verkauft. Millionen werden gescheffelt, und dann verschwindet Herr von Duvernois mit ihnen und mit seinem Namen in die Welt …

Der Notar rief im Hotel an, ob es ihm passe, daß ihn ein Häusermakler besuche, den er empfehlen könne. Der Mann brachte Photographien von großen Villen mit, mit deren Verkauf er betraut war. Beck brachte die Rede auf Voyder.

»Der Bleichenberg wird wohl auch bald zu haben sein«, meinte der Grundstückmakler. »Herr Voyder ist über achtzig. Spazieren Sie doch einmal vorbei. Über den Bahndamm. Es ist nicht weit.«

»Das will ich gleich tun«, antwortete Beck.

»Allerdings werden Sie nicht hineingelassen werden. Zunächst können Sie es sich nur von außen ansehen«, meinte der Güterhändler.

Als Beck wieder an dem schmiedeeisernen Tor stand, gewahrte er den Knopf einer elektrischen Klingel. Sie war ihm bei seinem ersten Besuch hier entgangen. Weshalb überfiel ihn nun ein so ungeduldiges Begehren, auf diesen alten verwitterten Knopf zu drücken, wo es doch aussichtslos war, daß ein solches Klingelzeichen ein »Sesam-öffne-dich« hervorrufen könnte.

Dennoch trat er näher und stützte die Hand an den Steinpilaster, in welchen der Klingelknopf eingelassen war. Er brachte dabei das Gesicht an das Gitter und schaute zwischen den Eisenstäben den Weg hinan. Der mündete als eine gerade Bahn zwischen verwilderten Bosketten unmittelbar auf die Haustür.

Beck-Duvernois starrte sie an und spielte ein paar Augenblicke mit der Regung, er könne seinen Willen, in das Haus einzutreten und vor Peter Voyder zu erscheinen, so stark machen, daß sich droben die Tür von selber öffne. Und einen kleinen herrischen Laut ausstoßend, hob er die mit grauem Wildleder behandschuhte Hand zu dem Knopf und drückte, in einem kräftigen Hieb, ihn mit der Spitze des Zeigefingers nieder.

Da geschah etwas Unerwartetes.

Offenen Mundes starrte Beck den Weg hinan. Die Tür hatte sich unvermittelt geöffnet.

Aber gleich mußte er erkennen, daß das Öffnen der Tür kaum in einem Zusammenhang mit seinem Druck auf den Klingelknopf stehen konnte. Denn dieser war zugleich, ja möglicherweise einen Augenblick früher erfolgt, als das Aufgehen der Tür.

Er schaute hilflos hinauf und sah, daß in der Tür zwei Männer erschienen. Ein großgestaltiger Greis, barhaupt mit langen weißen Haaren, wie ein Vagabund in unordentliches und zerrissenes Gewand gekleidet, schob einen Mann mit einer ungeduldigen Bewegung ins Freie. Es dauerte nicht länger als einen Pulsschlag, aber das Bild saß mit allen Einzelheiten wie mit einer raschen feinen Nadel in Becks Auge eingraviert.

Dann knallte die Tür wieder zu.

Der Mann, der herausgeschoben worden war, kam nun den Weg herab zum Tor. Beck trat einen Schritt beiseite und tat, als beschäftige er sich mit einem Strauch, der über die Mauer neben dem Tor herüberreichte. Er ließ den Mann, der durch eine kleine Nebentür auf die Straße trat, an sich vorbei, und in einem Abstand folgte er ihm.

Es war ein kleiner Mann. Sein Gesicht sah ungewaschen aus und stak in einem durchgrauten verwilderten Bart, zwischen dem eine gemeine rote Nase hervortrat. Im Gegensatz zu diesem ungepflegten Gesicht war der Anzug, den er trug, von tadelloser Sauberkeit und trotz des altmodischen Schnittes fast ungetragen. Er war ihm auch viel zu groß.

Der Mann wandte sich dem Fußweg zu, der an den Gleisen entlang über den Bahndamm in die Stadt führte. Beck-Duvernois blieb hinter ihm. An der Post angelangt, wo der Weg in die Stadt mündete, schien der Alte unentschlossen zu sein, ob er sich nach links oder nach rechts wenden sollte. Schließlich zog er einen Brief aus der Tasche, trat vor das Postgebäude, suchte den Briefeinwurf und schob den Brief in den Spalt unter der Klappe.

Einige Radfahrer brachten in diesem Augenblick die Abendpost ihrer Geschäfte. So kam es, daß Beck, der dem Mann dichtauf gefolgt war, sich mit diesem zusammengedrängt und zwischen die Boten eingeschlossen fand.

Beck redete ihn an:

»Mein guter Alter, ich bin sehr neugierig, bitte, sagen Sie mir …«

Aber der Alte knurrte unfreundlich und versuchte, sich zwischen den Radfahrern durchzuzwängen und sich davonzumachen.

Beck meinte, jener verstehe ihn nicht, und faßte ihn am Ärmel. Der Alte riß sich los und stieß einen Radfahrer grob beiseite. Der maulte etwas, während Beck auf den Alten einzusprechen versuchte:

»Hören Sie doch! Ich möchte ja nur, daß Sie mir erzählen …«

Er hatte nicht gesehen, wie ein Polizist herangetreten war. Der legte seine Hand dem Alten auf die Schulter, indem er zugleich sich an Beck-Duvernois wandte:

»Lassen Sie sich durch den feinen Anzug nicht täuschen, mein Herr. Sie haben es mit einem polizeibekannten Vagabunden zu tun, der ihn wahrscheinlich gestohlen hat … Na, Schuller«, herrschte er den Alten an, »wo habt Ihr den Anzug her?«

»Geschenkt!« knurrte der zurück.

»Nur wißt Ihr nicht von wem?«

»Hagelkreuz, lassen Sie mich endlich mal in Ruh! Doch weiß ich das!« schimpfte der Mann.

»Es ist dann das erste Mal, daß Ihr so etwas wißt!« entgegnete der Polizist. »Und wie heißt denn Euer großer Unbekannter?«

Mürrisch knautschte der Alte:

»Fragen Sie den!«

Er zeigte auf Beck-Duvernois. Der erschrak, war aber wieder sofort gefaßt.

»Mich?« fragte er erstaunt. »Woher soll ich wissen, wo Sie Ihre Anzüge kaufen?«

»Kaufen ist gut!« lachte der Beamte auf. »Wohl Maßarbeit, Schuller? Der Mann, dem Ihr ihn gestohlen habt, ist ja doppelt so groß!«

»Er hat mich beim Voyder herauskommen sehen damit!«

Nun lachte der Beamte so laut, daß die Radfahrer aufmerksam wurden und sich um die drei zusammenscharten:

»Damit wollt Ihr sagen, Herr Voyder habe Euch den Anzug geschenkt? Ihr seid so dumm, wie Ihr frech seid.«

»Doch, der hat mich gesehen!«

Er zeigte wieder auf Beck-Duvernois. Aber der Wachtmeister kümmerte sich nicht um diesen.

»Ich lasse mich nicht von einem Vagabunden zum Narren halten! Wir wollen schon herausbekommen, wo der Anzug her ist. Los, marsch!«

Er schob ihn an der Schulter zwischen den Radfahrern durch auf den Gehsteig. Zugleich wandte er sich an Beck, den er höflich bat, mit zur Wache zu kommen, sich damit entschuldigend, sein Erscheinen dort sei der Wahrheit dienlich. Dieser Schuller habe wiederholt wegen Diebstahls und Vagabundage gesessen. Die Polizei müsse scharf zupacken, um das Eigentum anderer vor ihm zu schützen.

Beck verwünschte die Lage, in die er geraten war, ging ohne Widerrede mit und beschloß bei sich, von nichts zu wissen.

In der Wachtstube saßen zwei Beamte, welche der Wachtmeister über den Vorgang unterrichtete. Beck sah zu, wie der Beamte dem Mann die Taschen umkehrte und ein Goldstück auf den Tisch legte, indem er sagte:

»Auch von Herrn Voyder?«

Dann hörte sich Beck-Duvernois nicht weniger erstaunt und nicht weniger ungläubig als die Beamten folgende Erzählung mit an:

»Ich habe in einem kleinen Schopf beim Schloß ein Loch. Darin schlafe ich, wenn ich in der Gegend bin, und als ich heute bis in den späten Nachmittag liegenblieb und mich dann davonmachen wollte, ist hinten eine Tür aufgegangen und der Voyder winkte und sagte: »Komm herein!« Und dann hat er mich in eine Kammer neben der Haustür geführt, wo früher ein Knecht wohnte, und hat mir gesagt: »Zieh dich aus! Du bekommst einen neuen Anzug von mir, und du gibst mir deinen!« Ich hab gesagt: »Ne, geben Sie mir lieber eine Mark und lassen Sie mich gehen!« Er hat mir das Goldstück gegeben und hat gesagt: »Das ist mein letztes Goldstück und mein letztes Geld! Zieh dich aus!« hat er noch einmal gesagt. »Ne«, hab ich wieder gesagt. Da hat er mich mit der Faust vor die Brust gestoßen und geschrien: »Marsch!« und er hat den Schlüssel umgedreht. Und weil es in der Kammer auch noch so stark nach Gas stank, habe ich Angst bekommen und hab die alten Lumpen ausgezogen, und er hat meinen und ich seinen Anzug angezogen. Dann hat er noch gesagt: »Du bist jetzt reich, weil du nie Geld hattest, und ich bin ein Vagabund, weil ich keines mehr habe. Und wenn sie morgen meine Leiche finden, sollen sie an mir auch die Wahrheit sehen!«

»Quatsch!« rief einer der Beamten.

Aber durch eine Tür, die offen stand, war ein Kommissar eingetreten, der sich die Erzählung mitangehört hatte.

»Sie haben doch einen Brief in den Postkasten geworfen? Was war das für ein Brief?« fragte er Schuller.

»Weiß nicht!«

»Haben Sie ihn von Herrn Voyder bekommen?«

»Doch! Ich soll ihn einwerfen, hat er gesagt, und hat dann den Schlüssel wieder umgedreht und mich zur Haustür geführt und hinausgestoßen. Der da stand unten am Tor, und er braucht nicht zu tun, als ob es nicht wahr sei.«

»Stimmt das?« fragte der Kommissar, zu Beck gewandt.

Beck überdachte schnell die Lage. Wenn er jetzt zugab, daß er ihn gesehen, wo er vorhin es geleugnet hatte, würde er sich verdächtig machen. Und man weiß nie, über welche Umwege das Wort von dem langen Arm der Polizei Wahrheit werden kann. Denn wenn auch nicht in dieser kleinen Wachtstube, so gab es doch anderswo in der Welt Polizeianstalten, die, sollten die Lindauer seinen Namen hinauskabeln, in ihren Listen nachsehen könnten. Deshalb stritt er empört tuend alles ab und fügte hinzu:

»Ich frage die Herren, was für ein Interesse ich haben könnte? Näheres über mich belieben Sie beim Notar zu erfragen!«

Der Kommissar maß ihn nur mit einem Blick. Er stellte einige Fragen an Schuller und ordnete darauf an, dieser sei in Gewahrsam zu geben. Beck bat er Platz zu nehmen und erklärte, die Erzählung Schullers könne unmöglich aus den Fingern gesogen sein. Die Sache mit dem Gas gebe ihr eine Möglichkeit, für die jeder Zeuge wertvoll sei.

Man gab Beck Zeitungen und Zeitschriften. Schuller wurde in einem Nebenraum eingesperrt. Aber in dem Zimmer, in dem Beck saß, blieb ein Polizist. Die beiden anderen begleiteten den Kommissar, und wenige Minuten später hörte Beck den Anlasser eines Wagens.

Nach einer Stunde kam der Kommissar zurück. Beck sah gleich seiner Miene an, daß etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein mußte. Er erhob sich und trat ihm entgegen. Der Kommissar sagte ernst:

»Wir haben Herrn Voyder in den Lumpen des Schuller als Leiche gefunden … Erstickungstod durch Gas. Es ist mir sehr peinlich, Sie bitten zu müssen, hierzubleiben, bis nähere Feststellungen gemacht werden konnten.«

Die Vorfahrt des Polizeiautos und der Auftrieb der Beamten, welche die Türe des Bleichenbergs gewaltsam öffneten, als ihr Klopfen keine Antwort erhielt, erregte Aufsehen. Sehr rasch hatte sich eine Menge Menschen am Eisentor angesammelt. Sie trugen die Kunde von Voyders Erstickungstod bald in die Stadt, und in der nächsten Stunde kreuzten sich die wildesten Gerüchte in Lindau und verdichteten sich allmählich zu dem Bericht, Voyder sei ermordet und ein Ausländer verhaftet worden, der einen bekannten Vagabunden zu der Tat gedungen habe. Die Polizei habe im Hotel sein Gepäck beschlagnahmt und halte ihn fest.

Der Kommissar beruhigte Beck, der sich darüber beschwerte, daß er festgehalten werde: Es sei zweifellos eine Häufung unangenehmer Zufälle, durch welche der Herr in diese dunkle Angelegenheit hineingeraten sei. Gewiß werde der Brief, den der Vagabund in den Postkarten geworfen habe, eine Klärung der Lage geschaffen. Seine Beamten seien gerade in der Post und versuchten, ihn unter den aufgegebenen Briefschaften herauszufinden.

Nach einer Weile wurde in der Tat der Brief gebracht. An dem Aufdruck »Schloß Bleichenberg« war er erkenntlich. Er war an den Notar adressiert.

»Sehen Sie, mein Herr, jetzt beginnt die Angelegenheit sich zu klären. Der Brief ist an den Notar gerichtet. Ich lasse diesen gleich herbitten. Er wird Sie dann wohl mitnehmen können!« sagte der Kommissar.

Da die Gerüchte in seine Kanzlei gedrungen waren, war der Notar nicht erstaunt, bei der Polizei auf Beck zu stoßen, und er wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Er war mehr verlegen als zurückhaltend, als Beck ihn mit einigem Ungestüm begrüßte.

Der Kommissar übergab dem Notar den Brief. Es sei das Beste, meinte er, er öffne ihn hier in seiner Gegenwart.

Der Notar las. Seine Gesichtszüge nahmen einen leicht verkrampften Ausdruck an. Dann reichte er dem Kommissar den Brief. Als dieser ihn gelesen hatte, wandte er sich an Beck:

»Der Brief klärt, was Sie anbelangt, die Lage vollkommen … Ich behalte ihn vorerst bei den Akten, Sie haben nichts dagegen, Herr Notar?«

Sich an Beck zurückwendend fügte er hinzu:

»Es bleibt mir nun nichts anderes übrig, als die Pflicht meines Amtes für die drei unangenehmen Stunden verantwortlich zu machen, die Sie auf der Wache verbringen mußten!«

Der Brief lautete:

 

»An den Notar.

Sie finden in Bleichenberg, links von der Haustüre in der Kammer, die Leiche eines Vagabunden. Ich besitze nichts mehr, Gott sei Dank nicht einmal mehr das Leben. Mein Geld ist aufgebraucht. Meinen letzten tragbaren Anzug trägt ein Vagabund. Es ist der Anzug, in welchem ich die Leiche meines Sohnes auf ihrem letzten Gang begleitete. Ich habe ihn nur einmal getragen. Den Bleichenberg habe ich überschuldet. Es ist mir gleich, was damit geschieht. Bevor ich ging, wollte ich alles abtun, was mich mit dieser dreckigen Welt zusammenband.

In bezug auf das Testament mit Einlage, das ich bei Ihnen deponiert habe, bleibt es dabei, daß es am 25. Geburtstage der Veronika Voyder geöffnet wird.

Peter Voyder.«

 

Draußen teilte der Notar Beck-Duvernois den Inhalt mit. Der Notar zeigte sich sehr bewegt.

»Erst haderte Peter Voyder«, sagte er, »nur mit der holländischen Kolonialverwaltung, die er für den Tod seines Sohnes verantwortlich machte. Aber hier in der Vereinsamung muß sein Zustand in den Hader mit Gott ausgegangen sein, und er ist ihm erlegen.«

Sie gingen zum Stammtisch. Als die Herren den Verdächtigten an der Seite des Notars miteintreten sahen, entstand ein Tumult unter ihnen. Sie waren glücklich, daß sie sich in dem repräsentativen Fremden, der ihr Beisammensein eine Woche lang so interessant gemacht, nicht geirrt hatten, und der Wirt an seinem Verkaufsfenster teilte offensichtlich diese Stimmung.

»Nun können Sie ja den Bleichenberg kaufen!« rief er herüber.

Da stießen alle an auf eine gute kommende Nachbarschaft mit dem neuen Mitbürger. Es wurden Scherze gemacht … Man hoffe, diesmal aber auch etwas von den sumatranischen Millionen zu sehen … und die Herren tranken heute ein Schöppchen oder zwei mehr und überhörten den Geheimbefehl des Uhrenkuckucks.

Beck saß zwischen ihnen und war nur mit den Mienen an der Lustigkeit beteiligt, die er verursachte. Der Zuruf des Wirtes, den Bleichenberg zu kaufen, hatte das Bild Peter Voyders in seinen Vorstellungen heraufbeschworen, und er sah, wie dieser einst ein König in Deli, nun als gasvergifteter Vagabund in dem verstaubten und verwunschenen Schloß in einer Dienstbotenkammer lag.

Er sah sich selber in das Schloß einziehen, aber er entzauberte es nicht. Wie eine dunkle Wolke blieb alles lastend in seinem Innern liegen. Die lustigen Herren um ihn waren ihm so gleichgültig und ließen ihn so kalt, wie das Holz der Tischplatte. Die Leiche im Bleichenberg aber hatte für Beck-Duvernois unendlich mehr Leben als die Gespräche dieser guten Herren, denn die langen Reihen von Gedanken und Vermutungen, Berechnungen und Plänen, die seit Wochen die Nahrung seines Geistes und seiner Einbildungskraft waren und alle von Voyder aus- und auf ihn zurückgingen, hatten in Beck-Duvernois eine Gemeinschaft mit ihm hergestellt. Verließ er morgen Lindau, so waren die braven Herren alle vergessen. Aber den Toten nahm er mit in den Willen um das, was auf ihn wartete.

»Immerhin«, hörte er plötzlich die Stimme des Wirts vom Fenster her, und es war ihm, sie schlage bedrohlich in einen gläsernen Behälter, »immerhin finde ich es komisch, daß einer, der nichts hat, darüber ein Testament hinterläßt.«

Als Beck-Duvernois diese Worte hörte, dehnte sich wie in einem Andrang unsichtbar wartender Geister sein Körper auf dem Stuhl hoch. Und so mächtig durchzog es seine Vorstellungen, daß er erschrak, als habe er sich laut sagen hören, was er doch nur für sich hatte denken können:

»Ich werde Veronika Voyder heiraten!«

»Es muß also doch noch ein Besitz irgendwo bestehen«, fuhr der Wirt fort. »Und das wird auf Sumatra sein und einmal der Veronika gehören!«

Oder war es nicht der Wirt, sondern er, Beck-Duvernois selber, der das sagte?!

Die drei Stunden, die Beck in der Hand der Polizei in dem muffig riechenden Amtsraum festgehalten worden war, blieben in ihm hocken, wie die Erinnerung an einen Schuß, den jemand heimtückisch in der Nacht neben einem hat losdonnern lassen. Als er nachher in seinem Hotelzimmer war und in Ruhe die Lage überdachte, entschloß er sich, mit dem Mittagszug am nächsten Tage zu reisen. Eine Stadt wie Lindau war wohl klein und schwer zu finden, aber deshalb war man selber in ihr um so leichter auffindbar.

Um an Veronika Voyders Adresse und in auffälliger Weise an sie selber zu kommen, ersann Beck-Duvernois ein einfaches Manöver. Er suchte den Notar auf, um sich zu verabschieden.

»Nur vorläufig, nur vorläufig! Sie werden mich nicht wieder los, fürchte ich«, scherzte er. »Aber Telegramme rufen nach Berlin.«

Als er sich schon zum Gehen gewandt, kam er nochmals zurück:

»Ich wollte mich Ihnen zur Verfügung stellen, fast hätte ich's vergessen, wenn Sie es für gegeben halten, Peter Voyders Enkelin Bericht zu bringen und mich ihrer für die erste Zeit anzunehmen, sollte sich das als notwendig erweisen.«

Der Notar fand, das sei ein sehr menschlicher Gedanke. Mündlich sei ein solcher Bericht in einer teilnahmsvolleren Form anzubringen, als mit einem Brief.

»Und dann«, fuhr er fort, »wäre es vielleicht gut, bei der Gelegenheit Veronika Voyder in meinem Namen über das Vorhandensein eines Testamentes und die Bedingung zu unterrichten, daß es an ihrem 25. Geburtstag geöffnet werden soll. Es lag ein Verbot Peter Voyders vor. Nach seinem Tod hat das Verschweigen keinen Sinn mehr. Im Gegenteil liegt es in Fräulein Veronikas Interesse, wenn sie von dem Testament und dem Datum weiß.«

Darauf schrieb er Beck ihre Adresse auf und gab ihm ein paar Zeilen zur Einführung mit.


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