Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Seit Mittwoch hatte Splittericht nichts mehr von sich hören lassen. Heute war Freitag, und Konsul Lindström kam aus seiner inneren Erregung nicht heraus. Sein Vertrauen auf den Doktor-Kommissar geriet ins Wanken, er überlegte, daß Marion nun schon vier Tage verschwunden war und Splittericht ihm selbst mitgeteilt hatte, der Entführer seiner Tochter wolle sie und sich wahrscheinlich übers Meer in Sicherheit bringen. Tausend Befürchtungen, tausend Möglichkeiten einer Flucht in unbekannte Gegenden und geheimnisvolle Länder stiegen vor ihm auf, seine Angst und seinen Schmerz vergrößernd. Dazu die unendlich nervös machende Untätigkeit, zu der er hier gezwungen war.
Er fragte ins Telefon, ob Gertrud Reese schon da sei. Es war dreiviertel elf. Aber sie war noch nicht im Geschäft.
»Wird auch nachlässig«, murmelte er, »auf niemand kann man sich mehr verlassen!«
Es klopfte, Doktor Hempelmeier trat ein.
Rudolf Lindström sah in seine heftig zwinkernden Augen. Er erkannte, daß etwas Besonderes, wahrscheinlich wieder Unheilvolles den Aufsichtsratsvorsitzenden herführe. Aber der Konsul war so von dem Gedanken an seine verschwundene Tochter erfüllt, daß er gegen alles andere gleichgültig blieb.
»Was bringen Sie mir, lieber Hempelmeier?«
»Ich ... ich ... Herr Konsul ... ich habe Ihnen eine sehr ernste Mitteilung zu machen.«
Der Generaldirektor blickte auf. Er lud durch eine Handbewegung Hempelmeier zum Sitzen ein:
»Na, was ist? So reden Sie doch, Mensch! Ich bin wirklich nervös genug!«
Aber dem Aufsichtsratsvorsitzenden schienen die Lippen versiegelt. Endlich sagte er:
»Canist muß auch gleich kommen.«
Der Konsul zuckte die Achseln.
»Ja«, meinte der Doktor, »aber Canist hat sehr ... sehr wichtige Feststellungen gemacht.«
»Ach, darum kommt er auch nicht ins Büro?«
Doktor Hempelmeier zögerte noch. Dann schien er einen Entschluß zu fassen und sprach:
»Canist hat mir gesagt, er würde nicht eher wieder hierherkommen, ganz gleichgültig, ob Sie ihn dann entließen oder nicht, lieber Konsul, ehe er nicht beweisen könne, was er neulich behauptet hat, nämlich daß er damals in der Schimborasso-Bar betäubt worden ist ... oder vergiftet.«
»Na, und?«
Der Konsul schien gelangweilt. Aber Hempelmeier wurde noch ernster.
»Herr Canist hat die Beweise in der Hand. Er ist vergiftet worden. Wahrscheinlich mit Skopolamin. Ebenso wie der junge Reese.«
Herr Lindström nickte leise vor sich hin:
»Ja, ich weiß schon! ... Von meinem ersten Prokuristen Ostermann, der sich jetzt wahrscheinlich schon an der Riviera von seiner anstrengenden Giftmischerei erholt.«
Doktor Hempelmeier legte sich in den Sessel zurück und sah den Gegenübersitzenden ernst an:
»Sie glauben gar nicht, lieber Konsul, wie traurig es mich macht, daß ich Ihnen das alles sagen muß ... und daß wir uns so grenzenlos haben düpieren lassen.«
»Aber nun hören Sie doch endlich auf, Freund Hempelmeier! Das sind doch alles Behauptungen! Leere, unbewiesene Schwätzereien von diesem Canist, den ich am liebsten heute noch kündigen oder entlassen möchte.«
Der Aufsichtsratsvorsitzende schüttelte den Kopf:
»Das werden Sie nicht tun, lieber Freund! ... Im Gegenteil, wir müssen Canist unendlich dankbar sein. Ohne ihn würden wir vielleicht auch jetzt noch nichts wissen und nichts gemerkt haben ...«, er verstärkte seine Stimme etwas: »und ohne Canist würde dieser Meuchelmörder sein furchtbares Handwerk wohl noch weiter treiben.«
Konsul Lindström stand auf; er ging ein paarmal durch den Raum hin und her. Dann trat er wieder an den Tisch, nahm eine Zigarre, zündete sie an und hüllte sich in dichte blaue Wolken.
»So. Nun will ich Ihnen mal etwas sagen, lieber Doktor. Ich habe genug von diesen Geschichten, reichlich genug! Sie vertrauen auf meine Freundschaft und mit Recht. Wir sind gute alte Bekannte und kennen uns seit Jahrzehnten. Ich verstehe auch, daß Sie aus Ihrer Lebensretter-Freundschaft heraus diesen Nichtsnutz, den Canist, mir gegenüber verteidigen. Aber ...«
Es klopfte kurz an die Tür. Conrad Canist trat ein. Er verbeugte sich gemessen, ging an den großen schwarzen Schreibtisch, nahm sich mit einem: »Sie erlauben, Herr Generaldirektor!« einen der braunen Lederstühle und öffnete seine Aktentasche, der er einen großen Foliobogen entnahm. Dann las er, ohne viel die Stimme zu heben und zu senken, den Inhalt seines Memorandums vor:
»Bericht des Charlottenburger Polizeipräsidiums:
Der im Hause Sternwaldstraße zehn wohnende Kaufmann und Bankier Paul Ostermann kam im Jahre 1925 mit genügendem Ausweis nach Berlin. Er ist laut seinem amerikanischen Naturalisationspapier aus Böhmen nach dort zugewandert und hat das amerikanische Bürgerrecht erworben. Die Kennzeichen des Passes stimmen im allgemeinen mit seiner Person überein. Über sein Vorleben und seine Führung, seitdem er sich, der übrigens viel auf Reisen ist, in Deutschland aufhält und hier Wohnung hat, ist Nachteiliges nicht bekanntgeworden.
Der Polizei-Präsident.
Kabel-Telegramm 22. 2. Boston (U. S. A.):
Der angefragte Paul Ostermann ist hier im Herbst 1925 in der Atlantic-Bar tot aufgefunden worden. Er war vergiftet, nach Ansicht der Ärzte mit Skopolamin. Nur mit Schwierigkeit konnte die Identität festgestellt werden. Papiere ebenso wie Geld und Wertsachen waren dem Toten gestohlen.
Kabel-Telegramm 23. 2. New York:
Der im Jahre 1924 aus dem Zuchthaus Sing-Sing ausgebrochene Teddy Edwards ist nachweislich in Boston gesehen worden, Seine Spezialität besteht darin, sich mit Leuten anzufreunden, sie zu betäuben, meistens mit Skopolamin, und dann zu berauben. T. E. steht im dringenden Verdacht, 1925 den Bankbeamten Paul Ostermann in Boston auf diese Weise ermordet zu haben. –
Hier sind die von mir übersetzten und vervollständigten Originalkabel, Herr Konsul.«
Der lange, hagere Mann mit der Hakennase und dem rotbraunen Schopf überreichte mit höflicher Geste dem Generaldirektor die amerikanischen Depeschen.
Konsul Lindström sagte kein Wort, nur sah man, wie seine Hände zitterten, als er die gelblichen Formulare empfing.
Mit eintöniger Stimme sprach Conrad Canist dann weiter:
»Ich habe zuerst den Droschkenschofför ermittelt, der Willi Reese in der Sonntagnacht in die Charité eingeliefert hat. Sein Name ist Hans Kühlwein, er wohnt Tiberstraße 110 in Charlottenburg. Kühlwein hat Willi Reese in der Petershofer Straße in der Nähe des alten Ostbahnhofs gefunden, wo jetzt die »Plaza« steht. Reese ist offenbar von Gesindel ausgeraubt worden, nachdem man ihn im Auto dorthin geschafft und in seinem hilflosen Zustand sich selbst überlassen hatte. Ich habe ihn gestern früh in der Charité gesprochen. Er leidet noch immer an langen Ohnmächten, aber er war doch schon imstande, sich an folgendes zu erinnern: Er hat in der fraglichen Nacht in irgendeinem Lokal Ostermann getroffen, ist dann mit ihm in den Spielklub ›Fernando Sánchez‹ gegangen. Dort haben sie beide gespielt und etwas, aber nur sehr wenig, getrunken. Trotzdem wurde Willi Reese von einer furchtbaren Müdigkeit ergriffen und verlor in kurzer Zeit das Bewußtsein. Er hat noch eine undeutliche Vorstellung, wie er mit Ostermann die Treppe hinabgegangen ist und auf der Straße war. An mehr kann er sich nicht erinnern.
Ich bin heute vormittag, ehe ich hierherkam, in den Klub ›Fernando Sánchez‹ gegangen und habe von dem Geschäftsführer erfahren, daß Reese und Ostermann am Sonntagabend um zehn Uhr im Klub waren und daß danach Ostermann mit Reese, der offenbar bezecht war, etwa um halb elf fortgegangen ist.
Hier, bitte, Herr Konsul, ist die von dem Geschäftsführer Martinchen unterzeichnete Erklärung.«
Der Konsul nahm dieses Blatt, auch den Bericht über das Attentat auf den jungen Reese nahm er aus Conrad Canists Hand und starrte darauf, ohne es zu lesen. Plötzlich schüttelte es ihn; er faßte sich aber rasch wieder:
»Ich glaube nicht, daß schon einmal ein Mensch so unerhört gemein betrogen worden ist ...«
Sodann reichte er seinem Angestellten die Hand und sagte voll Trauer:
»Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Canist. Ich habe Ihnen schweres Unrecht getan ... nein, lesen Sie nicht mehr! Wir wollen überhaupt nicht mehr darüber reden. Meine einzige Hoffnung ist, daß dieser Mörder gefaßt und unschädlich gemacht wird ...« Der Konsul atmete tief: »Man muß sofort die Kriminalpolizei benachrichtigen ...«
In diesem Augenblick hörte man nebenan im Vorzimmer einen dumpfen, polternden Fall. Die Herren sprangen alle zugleich auf. Der Konsul war zuerst an der Tür, und als er sie öffnete, lag Gertrud Reese in tiefer Ohnmacht am Boden.
»Sie hat gehorcht und hat das von Ostermann gehört«, sagte Dr. Hempelmeier, »das muß ein entsetzlicher Schlag gewesen sein für das arme Mädchen.«
Man hob Gertrud auf, trug sie zum Diwan in des Konsuls Büro, wo sie sich langsam erholte.
»Wir werden sie nicht allein lassen dürfen«, meinte Herr Lindström. »Wüßte ich nur irgend jemanden, den wir ihr mitgeben könnten und der auf sie aufpaßt.«
»Dürfte ich vielleicht meine Frau telefonisch benachrichtigen, Herr Konsul?«
»Ja, Sie sollen ja eine so nette Frau haben, lieber Canist. Gewiß, das wäre das allerbeste. Rufen Sie sie doch gleich an, sie möchte sich, bitte, in ein Auto setzen und hierherkommen.«
Gertrud Reese schlug jetzt die Augen auf, aber als sähe sie sich von lauter grauenerregenden Gestalten umgeben, preßte sie, ihre Fäuste ballend, die Lider wieder zusammen und weinte laut.
»Nein, nein«, wimmerte sie, »so kann ich nicht mehr leben! ... Ein Mörder ... Ein Mörder ...«
Canist und Hempelmeier gingen leise aus dem Büro.
Der Konsul blieb allein mit dem Mädchen, das er, als habe er sein eigenes verlorenes Kind in den Armen, wie ein Vater tröstete.