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In der zermürbenden Angst um seine Tochter hatte der Konsul keinen Schlaf gefunden und seinen Schwiegersohn noch spät zu sich gebeten. Die Herren saßen im Rauchzimmer und bemühten sich, Schach zu spielen. Stefan von Wieland schob seinen Aschbecher von sich:
»Wenn wir so weiterrauchen, Vater, dann sind wir in drei Tagen fertig.«
»Ja ...«, der Konsul drückte seine Havanna aus, »man möchte es gern unterlassen ... aber die Stunde ist schlecht gewählt, wie mir scheint, für solches Experiment ... Du, Stefan, ich glaube, es hat geklingelt ...
Der Konsul in seiner Hausjoppe, weiche Lederschuhe an den Füßen, stand auf und ging unruhig nach der Tür. Sein Hund erhob sich wie der Schatten seines Herrn, der passionierter Jäger war, und folgte ihm zur Tür, die sich jetzt öffnete.
Der alte Martin trat ein: »Herr Doktor Splittericht.« Auch Stefan von Wieland war mit einem Sprung bei der Tür. Die beiden Männer drangen förmlich ein auf den Detektiv.
»Was ist, Herr Doktor? ... Was haben Sie? ... Warum sind Sie hier?«
Splittericht war mit höflichem Gruß in die Tür getreten. Er reichte dem Konsul das offene Depeschenformular, und hinter ihm erschien unter der dunklen Plüschportiere Annette.
Der Konsul hatte das Telegramm gelesen, er stand ratlos. Und der Bräutigam der Verschwundenen war so erschüttert von dieser neuen Ungewißheit, daß er seufzend nach der Schulter seines Schwiegervaters griff.
»Meine Herren, wir wollen uns setzen«, sagte der Konsul. Indem gewahrte er die Zofe, die aus dem Schatten der Tür mit tiefem Knicks ins Zimmer trat. Herr Lindström war ganz entgeistert:
»Und Sie, Annette? Wie kommen Sie hierher? ... Ich denke, Sie sind bei meiner Tochter ... aber nein, ich ... ich verstehe das alles nicht! ...«
Er erregte sich:
»Sagen Sie mir, liebster Herr Doktor, um Gottes willen, was bedeutet das alles?! Die Depesche da ... Marion ist hier, zu Hause? Ja, wo ist sie denn? ... Ich weiß doch von nichts! ... Wahrhaftig, ich werde noch verrückt!«
Nun hatte sich der im ersten Moment tödlich erschrockene Musiker schon wieder mehr gefaßt:
»Ich bitte dich, Vater, beruhige dich doch! Du weißt, du mußt dich vorsehen mit deinem Herzen ... der Herr Doktor wird uns ja gleich aufklären ... es ist gewiß alles nicht so schlimm.«
»Meine Herren!« Splittericht schritt vor den beiden anderen hinüber nach der Rauchecke und forderte auch Annette durch einen Wink auf, sich auf einen seitwärts stehenden Lederstuhl zu setzen:
»Wir wollen vor allen Dingen den Kopf nicht verlieren! Als ich in Dresden auf dem Hauptpostamt die Depesche bekam, hatte ich sofort die stärksten Zweifel an der Identität des Absenders. Ich habe mir aber gleich ausgerechnet, daß ich so bald mit dem Flugzeug bei Ihnen sein würde, daß eine telefonische Verständigung oder ein Depeschenwechsel jetzt in der Nacht unter Umständen länger gedauert hätte. Und das, was wir zu besprechen haben, kann man telefonisch nicht erledigen. Um so weniger, als ich nicht einmal sicher bin, ob nicht unser Gespräch abgehört werden würde. Die inzwischen geschehenen Dinge zwingen mir solche Annahme beinahe auf.
Versuchen Sie, bitte, einmal, Herr Konsul, und auch Sie, Herr von Wieland, sich so klar und objektiv den Tatsachen gegenüberzustellen, wie Ihnen das bei Ihrer begreiflichen Erregung überhaupt möglich ist. Damit Ihnen das leichter fällt, will ich kurz rekapitulieren:
In der Nacht vom Sonntag zum Montag ist der Einbruch in die Bank und der Mord an dem Zalewski geschehen. Am Montag abend ist die Verlobung des gnädigen Fräuleins mit Herrn von Wieland gefeiert worden – Fräulein Marion hat sich etwa um zwölf Uhr nachts heimlich entfernt. Um halb eins, Herr Konsul, hat Ihr Fräulein Tochter angerufen und hat Annette nach dem Anhalter Bahnhof bestellt. Um halb zwei ist sie dann mit der Zofe nach Dresden gefahren, und zwar nach der Villa Pönsgen in der Rochlitzer Straße. Dort hat sie mit Fräulein Annette bis halb acht geruht, dann ist sie antelefoniert worden und zwar höchstwahrscheinlich von dem Mann, der sie irgendwie gezwungen hat, nach Dresden zu gehen. Fräulein Lindström hat darauf sofort Annette zurückgeschickt, und ich habe sie«, er winkte mit der Hand zu der Schwarzlockigen hin, »heute nachmittag um vier Uhr in der Boyenstraße bei einer Frau Alma Olecki aufgespürt. Ich bin dann sofort mit ihr nach Dresden zu Frau Pönsgen gefahren, habe aber weder diese noch das gnädige Fräulein angetroffen. Die Villa war leer und verlassen. Alsdann habe ich auf dem Hauptpostamt in Dresden diese Depesche erhalten.«
Splittericht nahm das Telegrammformular von der Platte des Rauchtisches.
»Daß diese Depesche eine Irreführung war, habe ich, wie gesagt, sofort vermutet. Interessant ist für mich an der nun festgestellten Tatsache, daß das Telegramm in Berlin aufgegeben worden ist, wie ersichtlich auf dem Postamt Dorotheenstraße. Aufgegeben haben kann natürlich ebensogut der von uns gesuchte Entführer wie eine andere beauftragte Person.
Es ist gar kein Zweifel, daß das Telegramm in der Absicht abgesandt worden ist, mich aufzuhalten. Das wäre dem Absender nicht gelungen, wenn ich nicht sowieso hätte nach Berlin kommen müssen. Denn, Herr Konsul, ich brauche jetzt den schnellsten Wagen und den besten Schofför, der aufzutreiben ist.«
Mit einem Ruck stand Konsul Lindström auf den Füßen, ging rasch an seinen Schreibtisch und ließ sich eine dringende Nachtverbindung geben:
»Dort Germania-Werke? – Ja, hier Konsul Rudolf Lindström. Nehmen Sie in Auftrag den besten und schnellsten Achtzylinder der Sonderklasse des letzten Typs Ihrer Fabrikation. Der Wagen muß um sechs Uhr fahrbereit, mit einem absolut sicheren Schofför, vor meiner Villa stehen ... haben Sie? – Dann rufen Sie mir Ihren Chef oder seinen Bevollmächtigten an den Apparat, gleichgültig, wo sich die Herren jetzt befinden – ich möchte die Bestätigung meines Auftrages persönlich in Empfang nehmen. Schluß.«
Diese gewiß fünfundzwanzigtausend Mark werte Bestellung machte der Konsul so ruhig, als hätte er um ein Glas Wasser gebeten. Ja man hatte den Eindruck, es erlöste ihn förmlich, daß er durch eine geschäftliche Transaktion ein wenig von seiner Unruhe frei wurde.
Er ging nun zu Annette hin, nahm sie artig bei der Hand und führte sie zu dem Diwan.
Annette war selig, ihrem Herrn jetzt von allen Einzelheiten, die sie an Marions Seite erlebt hatte, erzählen zu können.
»Und Sie haben den Menschen auch nicht gesehen?« fragte Herr Lindström wiederholt.
»Nein, Herr Konsul, jetzt nicht und früher auch nicht.«
Splittericht hatte diskret den Hergang der Erpressungen gezeichnet, deren Opfer Marion geworden war.
Leichenblaß hatte der Bräutigam des gequälten Mädchens diesem Bericht zugehört. Der Konsul tröstete ihn:
»Das ist ja alles egal, wenn wir sie nur wiederhaben! ... Aber«, er wandte sich dem Detektiv zu, »wie werden Sie es bloß anfangen, daß Sie Marion finden?«
Splittericht antwortete darauf nicht direkt:
»Haben Sie, Herr Konsul, unsere Verabredung, wonach wir uns gegenseitig telegrafisch Nachrichten zukommen lassen wollten, irgend jemandem mitgeteilt?«
»Nein, das nicht. Aber ...«
»Haben Sie vielleicht Ihre Sekretärin beauftragt, meine Hoteladresse oder die hauptpostlagernde Telegrammaufgabe zu notieren?«
Der Konsul nickte:
»Das habe ich tun wollen. Aber Gertrud Reese hat mich, nachdem Sie und der Herr Oberregierungsrat fort waren, gebeten, ob sie vielleicht etwas früher gehen könnte.«
»Das war um ein Uhr?« meinte Doktor Splittericht.
»Ja ... und sie ist auch bald danach fortgegangen. Ich sprach dann noch ein paar Worte mit Ostermann.«
»Der, wie er mir sagte, nach Paris wollte?«
Der Konsul nickte:
»Ja. Er fährt mit dem neuen Cadillac. Er freute sich noch so kindlich darüber, daß er diesmal die Tour ganz allein, ohne Schofför machen würde.«
»Sie haben also niemanden meine Dresdner Anschrift gegeben, Herr Konsul?«
»Nein ... aber ich glaube, ich habe da einen anderen Fehler gemacht. Ich habe sie nämlich, wie es meine Gewohnheit ist, in solch kleines schmales Lederbüchelchen eingetragen ... hier, wie das!« Lindström zog ein in schwarzes Leder gebundenes Miniaturheft aus der Westentasche, »und das, erinnere ich mich, hab' ich nachher in meinem Büro auf dem Schreibtisch liegengelassen.«
Splittericht nickte leise:
»Sie sind also unmittelbar nach Fräulein Reese selbst auch fortgegangen?«
»Ja ... ich bin noch unten in der Scheckkasse gewesen. Und dann ... ja, dann bin ich fort, nach Hause.«
»Wird Ihr Büro, wenn Sie nicht in der Bank sind, zugeschlossen, Herr Konsul?«
»Nein. Ich habe ja niemals Anlaß gehabt, an der Ehrlichkeit meines Personals zu zweifeln.«
Herr Lindström bekam rote Flecke an den Backenknochen, so erregte er sich innerlich:
»Daß ich einen derartigen Halunken unter meinen Leuten haben könnte, das hätte ich nie für möglich gehalten!«
Splittericht meinte:
»Man wird sich in dem ganzen Betriebe Ihrer Bank auf diese Tatsache einstellen müssen, Herr Konsul. Die Schädigungen, die ein so gefährlicher Mensch Ihnen und Ihrem Institut zufügen kann, sind unabsehbar.«
»Leider, Herr Doktor! Ich habe ja jetzt die Beweise.«
»Um Gottes willen!« sagte Stefan von Wieland. »Mein armes geliebtes Mädchen!«
Doch Splittericht tröstete ihn:
»Seien Sie unbesorgt, Ihrem Fräulein Braut geschieht kein Leid. Solche Erpresser haben nur am lebenden Menschen Interesse, die Toten können ihnen nichts nützen ... Aber jetzt, Herr Konsul, erlauben Sie, daß ich mich ein paar Stunden irgendwo schlafen lege? Ich bin seit Montag nicht mehr ins Bett gekommen, und die Nacht vorher hatte ich auch keine Zeit dazu«, er lächelte, »ich mußte ja den Einbruch in Ihre Bank entdecken.«