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»Werden Sie denn aber auch das Haus und die Straße wiederfinden, Annette?« fragte der Doktor-Kommissar, als er mit dem Mädchen im Speisewagen zu Abend aß.
Sie war ihrer Sache nicht ganz sicher.
»Wir haben Vollmond«, sagte Splittericht, »aber in der Nacht sieht bekanntlich alles anders aus als am Tage.«
»Ich weiß ja nicht, Herr Doktor ...«
»Na, wir werden's bald sehen!«
Und als sie nicht lange danach absichtlich langsam über die Hänge der Dresdner Heide rollten und in die Höhe des Waldschlosses kamen, erkannte die Zofe wirklich die Gegend so weit wieder, daß man mit einigem Hinundherfragen nach der Rochlitzer Straße zu der Villa kam, in der das Mädchen heut am frühen Morgen mit ihrer Herrin geschlafen hatte.
Es war um neun Uhr. Aber das kleine Schweizerhaus an der Bergwand, das von einem Gärtchen umgeben in Schnee und Winterkälte fror, lag jetzt dunkel und einsam im blassen Mondlicht.
Der Detektiv zog energisch die Schelle an der Gartenpforte. Er klatschte in die Hände, rief laut, aber niemand und nichts antwortete ihm. Er eilte zur Nachbarvilla, erst nach rechts und dann nach links, und da fand er eine freundliche, redselige Dame, die ihm Auskunft gab über die Madame Pönsgen, die heute wie jeden Abend in ihrer Theatergarderobe im Dresdener Schauspielhaus sei.
Dann wüßte die Dame wohl auch, ob ein junges Mädchen mit Frau Pönsgen zusammen fortgegangen sei?
Aber davon wußte die rundliche Frau nichts. Sie entschuldigte sich wortreich: sie habe nichts gesehen und gehört von einer neuen Mieterin, sie kümmere sich eben um gar nichts, was nicht sie selber und ihr Haus angehe. Nein, von solchem »Gemähre« halte sie sich fern, davon wolle sie gar nichts wissen!
Der Detektiv dankte und fuhr, noch immer von dem Redestrom der Sächsin umplätschert, mit Annette davon.
Ehe er weiter Nachforschungen anstellte, mußte er vor allen Dingen nach der Hauptpost, er hatte mit dem Konsul verabredet, daß sie sich gegenseitig alles Wichtige durch Blitztelegramm mitteilen wollten.
Sie hielten vor der Hauptpost, und Splittericht ging in das hohe Gebäude, fand, was er noch nicht erwartet hatte, ein Blitztelegramm vor. Er riß es auf und war, das passierte ihm nicht oft, überrascht.
Langsam, in harter Gedankenarbeit, schritt er über die hallenden Fliesen des großen, matt erhellten und um diese Zeit einsamen Postraums. Er hielt das offene Telegrammblatt noch immer in der Hand, als er zu dem Schofför sagte:
»Fahren Sie uns in das Minerva-Hotel.«
Im Auto saß er eine ganze Weile stumm und gedankenverloren, heimlich betrachtet von der Zofe, die vor Neugier brannte.
Und dann, sehr bedächtig:
»Ich muß noch in der Nacht zurück nach Berlin, Annette, aber ich möchte Sie nicht gern auch dieser Anstrengung aussetzen. Sie sind nun seit gestern abend eigentlich unablässig auf den Beinen. Ich glaube, es ist besser, Sie bleiben über Nacht hier und kommen morgen früh um neun Uhr mit dem D-Zug nach.«
Die Kleine machte ein weinerliches Gesicht:
»Aber warum denn, Herr Doktor, was ist denn bloß passiert! ... Ich möchte nicht gern allein hierbleiben! Da ängstige ich mich halbtot!«
Splittericht, der noch immer mit seinem Denken und Erwägen nicht am Ende war, sah das Mädchen lange an, bis er zuletzt sagte: »Fräulein Lindström ist schon zu Hause. Der Herr Konsul telegrafiert mir eben ... lesen Sie!« Er gab ihr die Depesche und leuchtete dazu mit der Stablaterne.
»Marion eben angekommen stop tausend Dank Konsul.«
»Und da freuen Sie sich nicht, Herr Doktor?« rief Annette. »Das ist doch herrlich! Was Schöneres gibt es ja gar nicht! Ach, ich bin so froh, so glücklich! ... Wenn Fräulein Marion wieder da ist ...« Sie schwieg und wurde nun ihrerseits nachdenklich:
»Aber wie hat sie nur in so kurzer Zeit ... wie ist das bloß möglich? ... Erst reist sie fort, weil sie es gar nicht mehr aushalten kann, und nun ...«
»Ja«, sagte der Detektiv, »das ... das wundert mich auch ... ich würde bestimmt eine telegrafische Rückfrage anstellen, wenn ich nicht zufällig wüßte, daß um elf Uhr ein Flugzeug geht, mit dem ich wegkomme. Dann bin ich vor ein Uhr in Berlin und ... und ich glaube, ich werde da noch zu tun haben.«
»Bitte, bitte, Herr Doktor, nehmen Sie mich mit! Ich will hier nicht allein bleiben.«
»Wie Sie wollen, Annette, schließlich ... die Nacht ist ja noch lang, und Sie können sich nachher in Berlin ausschlafen.«
Das Auto wendete, war eine Viertelstunde später am Flughafen, von wo Splittericht mit seiner Begleiterin um elf Uhr nach Berlin flog. – – –
Gegen ein Uhr half der Doktor-Kommissar dem Mädel aus dem Flugzeug. Eine Taxe brachte sie nach Westend vor die Lindströmsche Villa.