Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Konsul Lindström um zehn Uhr, pünktlich wie stets, in sein Büro trat, meldete ihm der Diener, Herr Conrad Canist warte schon drüben im kleinen Sitzungssaal.
Herr Lindström hatte erst seinem alten Freunde, dem Hauptkassierer, die Nachricht bringen wollen, daß man seinen Sohn gefunden habe, aber er erfuhr von Gertrud, ihr Vater sei so schwach, daß sie ihn nicht aus dem Hause gelassen hätte.
Das große Mädchen war selbst ganz glückselig über das, was sie hörte:
»Ich wußte es ja, Herr Konsul!« und die Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich wußte es ja, Willi ist kein Verbrecher! Er ist leichtsinnig, so leichtsinnig, daß man manchmal an seinem Verstand zweifeln muß. Aber dabei auch wieder so herzensgut, daß ihn eigentlich alle liebhaben, die ihn kennen. Wird er denn durchkommen, Herr Konsul? ... Nicht wahr, ich darf nachmittags zu ihm in die Charité?«
»Aber gewiß, Trudchen! Wenn du die notwendigen Arbeiten fertig hast, dann packst du deine Sachen, nimmst dir einen Wagen und fährst raus. Hier hast du«, er gab ihr einen Geldschein, »nimm ihm auch was mit, ein paar Blumen oder so was ... vielleicht ist er jetzt schon wieder bei Besinnung.«
An der Tür wandte sich Herr Lindström noch einmal zurück:
»Hat Ostermann schon telegrafiert ... oder vielleicht angerufen? ... Nanu, du wirst ja mit einemmal so blaß, Trudchen ... du bist doch nicht etwa auch krank?«
Gertrud Reese wischte die Tränen von den Wangen, sie schüttelte den Kopf:
»Nein, nein, Herr Konsul, ich freue mich nur so, daß Willi wieder da ist.«
In seinem Büro blätterte Lindström einen Augenblick in der Post, ging dann aber hinunter, um den Vorsteher der Wechselkasse etwas zu fragen.
Gertrud Reese hatte den Kopf auf die Tischplatte sinken lassen, sie weinte leise vor sich hin. Wie ein Sturm brausten Ängste und Nöte über ihr Herz. Und niemand war da, der ihr helfen konnte, niemand, der ihr sagte, wie sie all diesen Zweifeln und Schmerzen entrinnen könne.
Das Telefon läutete:
»Ja, hier ›Bankhaus Lindström‹ ... wer dort?«
Die verschluckten Tränen machten ihre Stimme undeutlich.
Von der anderen Seite kam ein klares, scharfes Organ:
»Bist du da, Gertrud?«
Sie nickte und vergaß zu sprechen.
Er wiederholte:
»Bist du da?«
Ihr zersprang fast das Herz. Sie wollte leise reden und schrie doch:
»Ja, ja, Paul! ... Ach, warum bist du nicht hier ... ich weiß ja nicht mehr, was ich anstellen soll! Willi ist gefunden worden ... ja! ... Im Krankenhaus ... vergiftet. Ich will heute zu ihm ... und ich weiß gar nicht, er muß es doch gewesen sein, der Vater die Schlüssel gestohlen hat ... ach, ich habe tausend Fragen an dich! ... Ich komme um vor Angst ...«
Von der anderen Seite kam es ruhig, ohne Aufregung:
»Beruhige dich doch! Das wird sich alles aufklären. Vor allen Dingen denk an das, was ich dir gesagt habe: keine Privatsachen!«
Dem großen Mädchen zitterten die Schultern, so sehr bemühte sie sich, ihre Erregung niederzukämpfen:
»Was soll ich denn tun, Paul?«
»Mir einfach meine Fragen beantworten«, klang es zurück. »Ist irgend etwas von Wichtigkeit passiert? ... In der Bank oder beim Konsul?«
»Ja, ja«, sagte sie hastig, nur um weiter mit ihm reden, seine Stimme hören zu können, »Marion ist doch weg ... schon seit der Verlobung Montag abend ... die denken immer, man merkt nichts, aber in der Bank weiß es jeder ... sie ist fort, weil sie ihren Bräutigam nicht leiden kann, sie will ihn nicht heiraten ... und jetzt ist der Doktor Splittericht hinter ihr her, der Detektiv ... ja, du hast ihn auch schon gesehen, nicht wahr? ... Was soll ich sagen? ... Konsul Lindström willst du sprechen? ... Ja, ich muß ihn erst rufen, er ist in der Wechselkasse ... einen Augenblick! ... Ach, sage doch noch ein liebes Wort ... sei gut zu mir, ich vergehe vor Angst«, sie seufzte tief, »und solche Sehnsucht nach dir! ...« Sie lauschte noch in den Hörer. Als kein Wort mehr kam, eilte sie hinaus auf den Gang, wo sie den Generaldirektor traf, der wieder in sein Büro wollte.
Gertrud Reese lief ins Vorzimmer und stellte den Apparat um.
Der Konsul wartete einige Augenblicke. Es war, als sei die Verbindung gestört:
»Hallo, ist da jemand? ... Ah, lieber Ostermann, sind Sie da ...? Von wo sprechen Sie denn? ... Aus Frankfurt am Main ... was ... ein Motordefekt ... mit dem neuen Wagen? Na, das ist ja nicht so schlimm, das holen Sie in ein paar Stunden wieder ein ... In unserer Sache hier? ... Nein. Da hat sich bis jetzt noch nichts ereignet. Übrigens, darüber schreibe ich Ihnen ... ja, ich hoffe sehr ... eben ist Canist wieder da. Mit dem will ich jetzt sprechen. Na, natürlich! ... Die Ohren werde ich ihm schon gehörig lang ziehen. Aber der Doktor Splittericht meint, daß wir ihn gerade in unserer Sache gut werden brauchen können ... ja ... ich bin froh, daß Sie anklingeln. Es ist so schrecklich, wenn man in solcher Situation keinen Menschen in der Nähe weiß, mit dem man ernsthaft reden kann. Also auf Wiedersehen ... Wiedersehen!«
Der Konsul legte den Hörer hin.
Auf einem Lederstuhl an der Wand des kleinen Sitzungssaales saß Canist. Er saß stocksteif im schwarzen Anzug, mit auf die Knie gestützten Fäusten und geradeaus gerichtetem Blick. Er war sauber rasiert und sein braunrotes, immer wildes Haar, soweit es ging, glattgekämmt. Aber er machte doch den Eindruck des Ungepflegten, des aus der Gesellschaft und ihrer Norm Ausbrechenden. Über den dünnen, fest zusammengekniffenen Lippen, die der rote Schnurrbart fast verdeckte, stach die spitze Hakennase blutlos und krank in das graue Licht, mit dem der Februarmorgen den Raum füllte.
Konsul Lindström ging gerade auf den Mann zu. Der schnellte in die Höhe und stand stramm.
Der Konsul gab ihm trotz inneren Widerstrebens die Hand:
»Setzen wir uns da 'rüber ans Fenster, Herr Canist ...«
Sie gingen zu den beiden in der Fensterecke stehenden Sesseln. Sich niederlassend, meinte der Konsul:
»Bitte, setzen Sie sich doch auch!«
Conrad Canist tat das, stumm, ohne ein Wort, immer mit demselben wie erstarrten und leblosen Blick seiner ein wenig wässerigen, mit kleinen Blutpunkten gesprenkelten Augen.
»Was soll nun mit Ihnen werden, Herr Canist?«
»Ich bitte um Verzeihung, Herr Generaldirektor.«
»Und wie oft haben Sie diese Bitte schon an mich gerichtet?«
Der Angestellte senkte schuldbewußt sein Haupt. Der Konsul mit einem kurzen Lachen:
»Ich habe doch gar keine Garantie, daß Sie sich ändern ... von Bessern will ich gar nicht reden, denn an eine wirkliche Besserung glaube ich bei Ihnen nicht mehr!«
»Ich werde ein anderer Mensch werden, Herr Konsul.«
Herr Lindström schüttelte wortlos den Kopf.
»Ich habe es mir und meiner Frau geschworen, Herr Konsul ... und im stillen habe ich mir selber das Gelübde abgelegt: wenn es wieder vorkommt, wenn ich noch einmal trinke, dann schieße ich mir eine Kugel vor den Kopf.«
»Damit bessern Sie doch auch nichts, Herr Canist. Das einzige ist, daß Sie dann Ihre Frau hilflos zurücklassen, die Sie obendrein, wie ich gehört habe, sehr lieb hat – unverdienterweise!«
Das ganze Gesicht des Angestellten spannte sich in der Anstrengung, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Er bezwang sich aber:
»Ich werde nie mehr trinken, Herr Konsul ... ich schwöre es Ihnen.«
»Und ich soll Sie wieder einstellen?«
Canist nickte, und jetzt rollten doch ein paar große Tropfen über sein blasses, hageres Gesicht:
»Ich bin aber ... ich habe mich aber diesmal nicht so sehr betrunken wie sonst ...«
Lindström verzog die Lippen:
»Nein, Sie waren bloß so sinnlos besoffen, daß Sie im Polizeipräsidium, wie mir der Herr Oberregierungsrat Henderson erzählt hat, vom Stuhl gefallen sind und keinen klaren Gedanken fassen konnten.«
»Ich bin betäubt worden, Herr Konsul. Das war kein Rausch mehr, wenigstens nicht einer von Schnaps oder Wein.«
»Wa ... was sind Sie?«
Dem Konsul zog etwas Sonderbares, Unerklärliches durch sein Denken:
»Wer soll Sie denn betäubt haben?«
»Ich weiß es nicht, Herr Konsul.«
»Das sind doch haltlose Vermutungen!«
Canist schüttelte den Kopf, sprach aber nicht.
»Wo waren Sie zuletzt, auf Ihrer Bier- oder Weinreise?«
»In der Schimborasso-Bar.«
»Wissen Sie, was Sie da getrunken haben?«
»Jawohl, Herr Konsul, Champagner und Rotwein.«
»Von der Höhe der Zeche, die Sie da machten, haben Sie wohl keine Vorstellung?«
»Doch, Herr Konsul, die Erinnerung an alles, was da geschehen ist, kehrte mir, wenn auch sehr langsam, zurück. Es waren viele Leute an meinem Tisch. Und ich habe für sie alle bezahlt.«
»Dafür werden Sie sich auf lange hinaus Abzüge von Ihrem Gehalt gefallen lassen müssen, Herr Canist!«
Der Angestellte senkte ergeben den Kopf:
»Das ist nur eine kleine Strafe. Und, Herr Konsul, Sie fragten, was ich da bezahlt habe – dreitausendzweihundertfünfzig Mark.«
»Das wissen Sie noch genau?«
»Ja, Herr Konsul, ich sehe auch die Gesichter von den Leuten, die ich freigehalten habe, die sehe ich alle noch vor mir.«
»Um wieviel Uhr war das?«
»Noch gar nicht spät, vielleicht um elf ...«
»Und von der Polizei festgenommen worden sind Sie wann?«
»So gegen fünf Uhr. Auch das weiß ich mit aller Sicherheit, denn vorher habe ich noch mit Herrn Ostermann gesprochen.«
Herr Lindström strich sich seinen langen spitzen Bart und lächelte:
»Na ja, man kann es sich ja denken, diese Erinnerungen sind ... das sind Phantasien, Herr Canist. Stellen Sie sich doch mal vor: mein erster Prokurist, ein Muster von Solidität und Ordnung, dessen Tag so ausgefüllt ist mit Denken und Arbeit, wie ich es überhaupt noch bei niemandem gefunden habe, der wird nachts um fünf Uhr in einem solchen Lokal zu finden sein! ... Ausgerechnet in der Schimborasso-Bar, so ziemlich das übelste Nachtlokal im ganzen Westen! Aber nehmen wir an, er wäre wirklich Montag nacht in Berlin gewesen – in Wahrheit war er verreist und hat sich in Prag aufgehalten –, und weiter: er wäre auch tatsächlich in der Schimborasso-Bar in dieser Nacht gewesen, und da kommt er an Ihrem Tisch vorbei und sieht Sie sitzen, von dem er weiß, daß hier der ewige Streit geht wegen Ihrer scheußlichen Sauferei – da würde er nicht an Sie herantreten und Sie beim Kragen nehmen und fragen, wo Sie das Geld herhaben, um solche wahnwitzigen Kneipereien zu veranstalten?! ... Das glauben Sie doch wohl selbst nicht, Herr Canist! ... Wer weiß, wen Sie da in Ihrer Bezechtheit, in Ihrem Schumm gesehen haben.«
Conrad Canist hob nicht den tief gesenkten Kopf. Er hatte gewiß kein Interesse daran, seinen Chef in dieser schon für ihn recht peinlichen Stunde noch mehr zu erregen. Aber er war ein Mensch, der trotz seines schrecklichen Fehlers ein anständiges und sauberes Herz hatte. Der Alkohol mit all seinen Verheerungen hatte diesen Charakter bisher auch nicht entwurzeln können. Und Canist bekam es auch nicht fertig, der Klugheit zu folgen und zu verschweigen, was er wußte:
»... Verzeihen Sie, Herr Direktor, aber so wahr ich hier vor Ihnen sitze, ich habe in der Nacht vom Montag zum Dienstag Herrn Ostermann in Begleitung von zwei sehr hübschen und sehr auffälligen Damen in der Schimborasso-Bar gesehen. Er wollte an mir vorübergehen, blieb aber, als er mich sah, einen Augenblick stehen, ging dann weiter ... und kam nach einer kurzen Weile allein zurück. Er hat sich auch an den Tisch gesetzt und hat mitgetrunken. Und erst danach ist mir so schlecht geworden ... Ich habe das sonst nie, wenn ich trinke. Ich bin wohl betrunken, kann mich auch manchmal nicht auf den Füßen halten, aber ich weiß immer, was mit mir geschieht ... Und hier, in diesem Fall, wo Herr Ostermann sich neben mich setzte ... da weiß ich plötzlich nichts mehr. Da kommt eine Zeit, an die ich überhaupt keine Erinnerung mehr habe.«
Der Konsul faßte, immer ein Zeichen der Erregung bei ihm, seinen graumelierten Spitzbart fester:
»Hören Sie mal, Herr Canist, ich weiß, daß Betrunkene ganz besonders hartnäckig in ihren Behauptungen sind. Aber ich kann doch nicht glauben, daß Sie es wagen würden, in solchem besoffenen Zustand zu mir zu kommen. Ich habe Ihnen schon gesagt und ich wiederhole es ausdrücklich: Herr Ostermann ist seit Mitte voriger Woche verreist gewesen. Er hat seinen Urlaub genommen und mußte jetzt wegen des Einbruchs für einen Tag zurück nach Berlin. Sie sagen, Sie könnten sich später, wenn der Zustand vorbei ist, wieder an alles erinnern. Ich habe davon auch schon gehört. Es soll so etwas geben, das Bewußtsein erlischt bei Trunksüchtigen, und von außen sieht's aus, als wären sie vollkommen bei Sinnen, ... machen aber lauter Dummheiten ... vergeuden das Geld ... und es sollen sogar schon Morde begangen worden sein in diesem Zustand ...«
Conrad Canist nickte:
»Jawohl, Herr Konsul, ich bin bei den besten Ärzten gewesen, und die haben mir gesagt, daß ich wahrscheinlich erblich belastet bin. Solange ich nüchtern bleibe, geht alles gut, komme ich aber dazu und trinke, dann folgt beinahe regelmäßig auf die Betrunkenheit so ein Dämmerzustand ... in dem mache ich alle möglichen Dummheiten ... ich weiß auch während der Zeit nicht, was ich tue, aber wenn es vorüber ist, dann fällt mir nach und nach alles wieder ein.«
»Und wenn Sie nicht mehr trinken, Herr Canist?«
»Ich glaube, Herr Konsul wissen ja, daß ich sonst ein ordentlicher und fleißiger Mensch bin und daß mir meine Pflicht ... über alles geht.«
Conrad Canist schluckte an seinen Tränen. Er tat dem Bankgewaltigen, der ein tief menschliches Mitempfinden besaß, schon wieder leid.
»Na«, sagte Herr Lindström, »dann gehen Sie an Ihren Platz, lieber Canist, entschuldigen Sie sich bei Ihren Kollegen, die ja für Sie haben mitarbeiten müssen, und sehen Sie zu, daß das alles nicht wieder vorkommt.«
Conrad Canist erhob und verbeugte sich. Er wollte gehen. In diesem Augenblick besann sich Herr Lindström darauf, daß er ja dem Detektiv versprochen hatte, Canist für die Mordsache zu interessieren:
»Warten Sie mal noch 'nen Augenblick, Herr Canist. Über das Verbrechen, dem unsere Bank zum Opfer gefallen ist, sind Sie doch orientiert?«
»Jawohl, Herr Konsul.«
»Auch über den Mord ... an dem einen Einbrecher?«
Conrad Canist nickte:
»Ja, der ist auch vergiftet worden.«
»Wieso auch?«
Canist zögerte:
»Ich meine nur ... ich glaube, Herr Konsul ... der junge Herr Reese ... der sollte doch wahrscheinlich ... auch beiseitegeschafft werden.«
»Na, hören Sie mal, Herr Canist! ... Sie scheinen sich ja schon recht eingehend mit der Sache beschäftigt zu haben? ... Wie kommen Sie denn darauf?«
Der Angestellte zögerte. Alsdann sagte er:
»Darf ich eine Frage an Herrn Konsul richten?«
Lindström nickte.
»Haben Sie einen Beweis dafür, Herr Konsul, daß Herr Ostermann in der Nacht vom Sonntag zum Montag in Prag war?«
»Mensch, Sie sind wahnsinnig! Danach habe ich allerdings den Eindruck, daß ich nichts Verkehrteres tun könnte, als Sie mit den Nachforschungen in der Mordsache zu betrauen.«
Canist senkte, eine ihm eigene Bewegung, den Kopf.
»Dann darf ich wohl an meine Arbeit gehen, Herr Konsul.«