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5

In der Liguster-Allee in Westend, nahe dem großen Rondell, das mit seinem Alpenrosenschmuck und den gewaltigen Fliederhecken im Frühsommer das Entzücken der ganzen Gegend ist, lag die Villa des Konsuls. Heute war in dieser so stillen Gegend ein emsiges Kommen und Gehen. Lieferanten aller Art brachten Blumen und Eßwaren für die Verlobungsfeier der einzigen Tochter.

Marion Lindström stand im Erker ihres kleinen Musiksalons und blickte auf die winterliche Straße hinaus.

»Gnädiges Fräulein ...«

Marion sah sich rasch um:

»Ja, Annette, was ist denn?«

Eine Zofe, ungewöhnlich hübsch mit ihren dunklen Locken und Augen, war eingetreten.

»Ach, Fräulein Marion«, die Zofe sah sich besorgt um, obwohl niemand im Zimmer war, und sagte ganz leise:

»Ich habe wieder einen ... einen Brief ...«

In das schöne, helle Oval der Blonden kam ein Ausdruck, als erstarrte sie zu Eis:

»Ich will ihn nicht ...! Ich nehme keinen Brief mehr an!«

»Was soll ich denn aber damit machen, gnädiges Fräulein?!«

»Zerreißen! Verbrennen!« kam es zwischen den weißen Zähnen hervor. »Ich will das nicht mehr! Ich kann nicht!«

»Aber, Fräulein Marion ...!«

»Nein! Geh weg ...! Scher dich ...!«

Annette wollte ängstlich geduckt aus dem Zimmer, Da war Marion an ihrer Seite und streichelte der um einen Kopf Kleineren das dunkle Gelock:

»Du kannst ja nichts dafür, Mädchen ...! Gib mir den Brief ...! Gib her ...!«

Sie nahm den Umschlag aus bläulichem Überseepapier:

»Auch wieder per Post ... natürlich ...! So ein Schuft! Immer auf Schleichwegen ... hinten herum. Also geh, Annette ... und ...!« Die Bankierstochter drückte den Finger an die Lippen.

»Du wirst nicht mehr viel solche Briefe bringen ... einmal versieht er's doch, der ...«

Sie riß den Umschlag auf, und lesend winkte sie der Zofe zu gehen.

Marion stand noch am Fenster und sah hinaus. Vor ihrem inneren Auge kamen drüben Stefan von Wieland und ihr Vater die Straße herauf. Die beiden gingen Arm in Arm, plaudernd und lachend ... Sie sah sie beide so deutlich, den geliebten Papa und ihren Stefan ... Stefan war nicht so sehr viel jünger als der Vater; der Konsul hatte schon die Fünfzig überschritten, aber er sah aus, als wenn er in der Mitte der Dreißiger stünde. Stark, gefestigt und durch und durch gesund war er mit seiner breitbrüstigen, gerade gewachsenen Gestalt. Und stark und fest waren auch die Züge von Stefans durchgeistigtem Angesicht.

Und ihn, den Mann, an dem ihr ganzes Herz hing, sollte sie aufgeben, ihren Stefan nicht mehr sehen, seine liebe warme Stimme nicht mehr hören ...! Vielleicht nie mehr an seiner Seite gehen, wenn der Frühling kam, wenn es wieder grün wurde und die Vögel in den Büschen sangen ... Was war dann ihr Leben noch? Wofür sollte sie dasein, welchen Sinn sollte ihr Leben noch haben, wenn sie ihm nicht mehr gehörte ...?! Ach, das, was sie für Stefan empfand, das war nicht nur Liebe, das war viel, viel mehr! Ein schrankenloses Vertrauen, ein Fest-an-ihn-Gebundensein für alle Zeiten ... Und doch wollte sie ihn verlassen? – Nein, sie wollte nicht ...! Niemals ...! Weshalb denn ...? Weswegen? Hatte sie sich denn etwas vorzuwerfen –? Einmal in ihrem Leben war sie leichtherzig gewesen, und das viel mehr aus Interesse und Mitgefühl mit dem Menschen, der ihr wertvoll schien, als aus irgendeinem anderen Grunde ... Sturm der Sinne? Ach, nichts davon!

Sie hatte den Mann, der damals in ihr kaum achtzehnjähriges Leben trat, ja noch gar nicht kennengelernt! Hatte ihn für einen feinen Menschen gehalten, dem sie helfen sollte. Dann, nach jenem Tage, an dem er plötzlich alle Hüllen abwarf von seiner grenzenlosen Schlechtigkeit, als tödlicher Abscheu gegen ihn in ihr aufwuchs, da war es zu spät. Seitdem hatte er sie in der Hand und ließ sie nicht wieder los ...

»Wenn du mir auch deinen Körper nicht gibst, deine Seele habe ich, und die halte ich fest! Die lasse ich nicht wieder!« hatte er einmal gesagt. Und er hatte Wort gehalten. Mit der Zeit aber war die Kraft, sich gegen ihn zu wehren, immer mehr von ihr gewichen.

Als sie Stefan kennenlernte, hatte sie geglaubt, jetzt würden seine Liebe und die ihre stark genug sein, diese Sklavenkette zu sprengen. Aber auch das war nur ein schlimmer Irrtum gewesen. Ganz das Gegenteil war eingetreten. Dieser Erbärmliche hatte mit ihrer Liebe zu Stefan eine neue Zange, mit der er sie festhielt und peinigte.

Aber heute, wo aus der freien Wahl ihrer Liebe zu Stefan ein Verlöbnis, ein Verspruch fürs Leben werden sollte – heute mußte sie sich wehren ...! Sie mußte alle ihre Kraft zusammennehmen und die Kette zerreißen, an der der erbärmliche Mensch sie festhielt ... Wie sie das anfangen sollte, wußte sie noch nicht ... Sie fühlte nur die Unmöglichkeit, ihren Liebsten weiter zu belügen, als Braut und bald als seine Frau an seiner Seite zu leben, immer gepeinigt von der abscheulichen Furcht, daß Stefan eines Tages alles erführe.

Aber sie fand nicht die Kraft, dem Liebsten ihr Herz zu öffnen. Sie fürchtete, Stefan in dem Augenblick zu verlieren, in dem sie offen zu ihm redete. Denn er war ein seltsamer Mensch. Er hatte oft genug gesagt, daß er ihr schrankenlos und bis zum Letzten vertraue, aber daß er eine Täuschung von ihr auch nicht ertragen könne ... konnte sie ihm trotzdem die Wahrheit eröffnen?

Marion drehte sich um und sah ins Zimmer. Sie hatte in ihrem Rücken ein Räuspern gehört; die Zofe war wieder da und meldete, daß ein paar Lieferanten Fräulein Marion durchaus selbst sprechen wollten.

»Ja, Annette, ich komme!«

Das klang froh und zuversichtlich. Marion ging hinüber in den hohen Festsaal. Sie traf mit einigen Geschäftsleuten notwendige Dispositionen, half bei der Aufstellung der Blumen, ordnete an und sah überall nach dem Rechten. Schließlich war sie ganz eifrig dabei, und am Ende kam's ihr vor, als müsse sie mit dem Mut und der Kraft ihrer Jugend das Schicksal meistern, als könne keine Niedertracht ihrer Liebe etwas anhaben.


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