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17

Schon von dem Beamten, der in seinem Vorzimmer saß, hörte Herr Henderson, daß eine Verhaftung in der Mordsache Zalewski erfolgt sei. Er wandte sich Splittericht zu.

»Nanu, Doktor?«

Splittericht lächelte ein wenig:

»Wahrscheinlich der unglückselige Canist. Herr Flatterer rief mich gestern abend noch an, er wäre ihm auf der Spur.«

Die beiden Herren traten in das große Büro des Oberregierungsrates.

Henderson drückte auf den Klingelknopf des Tischtelegrafen und sagte zu dem eintretenden Oberwachtmeister:

»Kommissar Flatterer.«

Der Kommissar hatte wohl schon im Vorzimmer gewartet, so schnell trat er ein.

»Na, lieber Herr Kommissar, ist Ihnen der große Wurf gelungen?«

»Ich weiß nicht, Herr Oberregierungsrat«, Flatterer blickte zu dem Detektiv hin, der Henderson gegenüber im ledergepolsterten Armstuhl Platz genommen hatte.

»Vor Herrn Doktor Splittericht hab ich kein Geheimnis ... der ist meistens besser informiert als wir.«

Flatterers glattes Gesicht ließ in keiner Miene erkennen, ob diese Ansicht des Vorgesetzten auch die seine war.

»Ich habe heute früh um fünf Uhr in der Schimborasso-Bar den Conrad Canist festgenommen.«

»Den Angestellten des Bankhauses Lindström?«

»Ja. Er war seit fünf Tagen auf der Tour. Und wie wir gegen Morgen in die Bar kamen, da hatte Canist die ganze Gesellschaft, bessere Demimonde und Nachtbummler aller Art, unter Sekt gesetzt ... hat da eine Zeche von über dreitausend Mark gemacht.«

»Ach nee? ... Wo hatte er denn das Geld her?«

»Das möchte ich auch wissen, Herr Oberregierungsrat.«

»Na, was sagt er denn? Er muß doch irgendeine Erklärung dafür geben?« Herr Flatterer schüttelte sein blondes Haupt:

»'ne Erklärung gibt er überhaupt nicht ... wäre auch gar nicht imstande dazu, Herr Oberregierungsrat. Der Mann hat einen sitzen, das ist kein Rausch mehr, das ist schon ein Rauschzustand. Doktor Rangower hat ihn vorhin untersucht, der sagte, daß ihm ein solch schöner Fall von Delirium überhaupt noch nicht vorgekommen sei. Der Canist phantasiert nicht etwa oder hat Krämpfe, er begeht auch nicht, wie die meisten solcher Leute, Exzesse, schlägt die Sachen und die Fenster kaputt, nichts – er sitzt einfach da, stiert vor sich hin, grunzt mal, als wenn er lachen wollte, und dann singt er irgendwas, das nicht zu verstehen ist, dann fällt er wieder in seinen völlig apathischen Zustand zurück. Doktor Rangower hat ihm verschiedenes gegeben, jetzt liegt er in 'ner Art Halbschlaf und döst vor sich hin. Manchmal sieht es so aus, als ob er schon tot ist, bloß seine Finger und die Lippen zittern.«

»Hm«, machte der Oberregierungsrat, »haben Sie sich mal nach der Familie umgesehen?«

»Ja, ich war bei seiner Frau in der Arnoldistraße 17.« Der Kommissar hielt inne. Er war kein schlechter Erzähler und wußte seine Pointen gut vorzubereiten, »Kinder sind nicht da, nur die junge Frau, die übrigens recht nett aussieht.«

»So«, sagte der Oberregierungsrat, »das ist ungemein interessant, lieber Flatterer!«

Das junge Gesicht des Kommissars bekam einen rosigen Ton:

»Verzeihung, Herr Oberregierungsrat, die Frau hat mir leid getan. Das ist ja ein großes Unglück, das sie mit ihrem Mann hat. Und dabei hängt sie an dem Kerl und möchte rein vergehen vor Kummer über sein Trinken.«

»Mir scheint nur, das alles ist nicht so wichtig, lieber Flatterer, wie die Frage, wo der Mensch das viele Geld her hat!«

»Nein. Herr Oberregierungsrat haben ganz recht! Der Canist hat sich nämlich bei seiner Verhaftung im Besitz einer Geldsumme von 46 640 Mark befunden!«

Herr Henderson beugte sich etwas vor und richtete die kneiferbewehrten Augen gespannt auf seinen Untergebenen:

»Wieviel ...? Sechsundvierzigtausend ...? Und wo hat er denn die her?«

Er wiederholte damit seine Anfangsfrage, und der Kommissar konnte ihm nur dieselbe Antwort geben:

»Das weiß ich auch nicht, Herr Oberregierungsrat.«

»Und was sagt die Frau?«

»Die hat auch keine Ahnung.«

»Lassen Sie den Kerl doch mal raufkommen, Herr Flatterer!«

»Das wird nicht gehen, Herr Oberregierungsrat. Er kann nicht laufen, oder er läuft wenigstens nicht.«

»Dann sollen ihn ein paar Beamte unter die Arme fassen und rauftragen. Wir haben ja Leute, die das fertigkriegen ...«

Der Kommissar verschwand, und Herr Henderson wandte sich an den Detektiv:

»Na, was meinen Sie dazu, Herr Doktor?«

Doktor Splittericht war nur scheinbar gleichgültig dem Bericht des Kommissars gefolgt. Leise, aber dringlich sagte er jetzt:

»Das ist von höchstem Interesse, Herr Oberregierungsrat. Die Tatsache, daß Canist diese große Summe Geldes besitzt oder doch bei der Verhaftung bei sich trug – man hat sie ihm offenbar hier abgenommen –, das zeigt deutlich ... das gibt mir eine ganz neue Auffassung von der Mordsache.«

»Wieso meinen Sie, Doktor?«

Der Detektiv überlegte und wollte eben etwas erwidern, als die Tür sich auftat und zuerst Kommissar Flatterer eintrat, nach ihm aber sich zwei riesenhafte Beamte hereindrängten, die, ganz wie es befohlen war, den Verhafteten schleppten, indem sie ihn mit ihren Enaksfäusten von beiden Seiten unter den Achseln stützten. Der Oberregierungsrat deutete auf einen der grünen Plüschsessel, die neben dem Tisch in der Zimmermitte standen. Dahinein ließen die Kriminalbeamten ihre Last sinken.

Conrad Canist saß ziemlich gerade in dem Sessel und blickte mit Augen, die denen einer Wachsfigur glichen, im Zimmer umher.

»Also nun hören Sie mal, lieber Freund«, sagte Henderson, »nu erzählen Se mal, was ist denn eigentlich mit Ihnen los?«

Conrad Canist starrte herüber, blöd und verständnislos.

»Na, so reden Sie doch, Mensch! Das ist doch alles Theater!« Der Doktor-Kommissar stand auf einmal neben Henderson.

»Verzeihen Sie gütigst, Herr Oberregierungsrat, wenn es nicht unbescheiden von mir ist: lassen Sie mich mal mit dem Mann reden ...«

Herr Henderson schien ein bißchen pikiert, aber dann sagte er mit kurzem Lachen:

»Bei Ihrer bewährten Geschicklichkeit in solchen Dingen, Doktor ... also fragen sie ihn mal! Vielleicht antwortet er Ihnen.«

Splittericht ging dicht an den Sessel heran, in dem diese menschliche Puppe saß, und flüsterte dringlich etwas in ihr Ohr.

Da geschah etwas Merkwürdiges. Das Vibrieren der Finger und Lippen hörte wie durch Zauberschlag auf. Die Muskeln des ganzen Körpers strafften sich, die Hände krampften sich zusammen, wie in einem unendlich schweren Entschluß, das Gesicht bekam Ausdruck, der irre Schein der Augen wich dem lebendigen Blick, und die Lippen öffneten sich, anfangs mühsam und fast widerwillig, zu dem ersten Wort:

»Nein ... nein!«

Splittericht beugte sich abermals zu dem in qualvollem Kampf mit sich selbst Erwachenden und sagte, diesmal aber deutlicher und für die neugierig aufhorchende Umgebung hörbar: »Sie sind der Mörder!«

Und wiederholte das Wort.

Mit heftigem Kopfschütteln quittierte Canist solche Anschuldigung. Dann erhob er sich, reckte die Glieder und stand mit seiner wohl eins neunzig hohen Gestalt aufrecht da. Der Kopf mit der Hakennase und dem rötlich-braunen Haar, das wirr um die Schläfen hing, ragte noch über die beiden großen Kriminalwachtmeister hinaus.

Canist griff erst in die Brusttasche, dann in die andere, er durchsuchte das Jackett und auch die Beinkleider. Und als er nirgends etwas fand, nickte er mit erwachendem Verständnis:

»Das haben sie mir abgenommen.«

Er blickte die Beamten an:

»Ich muß es aber wiedergeben, was noch davon da ist.«

»Wo haben Sie es denn her?« fragte jetzt der Oberregierungsrat.

»Ich hab's geschickt bekommen, anonym ... vorgestern ... oder gestern, ich weiß nicht genau ... der Brief war auch dabei, mit der Schreibmaschine geschrieben ... bloß ein paar Zeilen.«

»Wieviel war es denn?«

Das Gedächtnis des langsam aus seinem Rausch Erwachenden tastete nach der Ziffer:

»Vierzigtausend ... dreißig ... nein, fünfzigtausend.«

»Und was haben Sie damit gemacht?«

»Ich weiß nicht.«

»Wo waren Sie denn?«

»Weiß nicht.«

»Wo waren Sie zuletzt, wo haben meine Beamten Sie verhaftet?«

Conrad Canist schüttelte nur den Kopf, hob und senkte die Schultern. Die Erinnerung war ihm offenbar ganz verloren.

Splittericht, der inzwischen wieder in dem Armstuhl Henderson gegenüber Platz genommen hatte, sprach dazwischen:

»Solche Gedächtnisverluste sind nichts Seltenes bei derart schwerer Alkoholvergiftung. Das Gedächtnis erwacht nach solchen Zuständen manchmal gar nicht wieder, selten gleich, häufiger dagegen erst ganz allmählich. Es wird also wenig Zweck haben, wenn wir jetzt noch mehr aus ihm herausholen wollen.«

Ein matter Bück aus den vom Trunk geröteten Augen des Bankangestellten traf den Detektiv.

Der Kommissar hatte inzwischen einen Haufen Geldscheine und einen im Umschlag steckenden Brief vor Henderson hingelegt:

»46 640 Mark, Herr Oberregierungsrat!«

»Und das ist der Brief?«

Henderson zog das auf gewöhnliches blauliniertes Schreibpapier mit der Maschine getippte Schreiben aus dem Umschlag, der ebenfalls in Maschinenschrift Canists Adresse trug, und las laut:

»Geehrter Herr! Anbei der auf Sie entfallende Anteil unserer Unternehmung.«

»Keine Unterschrift, kein Datum, nichts, nichts ... was soll das nun heißen? Können Sie uns dazu irgend etwas Aufklärendes sagen, Herr Canist?«

Hände und Lippen des Berauschten zitterten und bebten immer mehr. Canist sank in den Sessel zurück, sprach zusammenhanglos und schwer verständlich vor sich hin und schüttelte auf die wiederholte Frage des Oberregierungsrates nur immer wieder den rotbraunen Kopf.

»Ich glaube, Sie lassen den Mann am besten abführen, Herr Oberregierungsrat.«

»Ja ... wenn wir nur noch ein paar Sätze aus ihm herausbekämen!«

In diesem Augenblick gab der Kranke die einzige ihm mögliche Antwort. Mit hastiger Bewegung fiel er vom Stuhl auf den Teppich, in wildem Krampf rissen sich die Glieder zusammen, und dem Anfall folgte jetzt ein regulärer Kollaps. Schaum trat dem Leidenden vor den Mund, die Zähne knirschten aufeinander, die Glieder schlugen und rissen an dem gequälten Körper. Man mußte schnell den Doktor Rangower holen.

»Merkwürdig«, knurrte der Arzt, der, ohne einen der im Zimmer Anwesenden zu begrüßen, sich mit dem Zusammengebrochenen beschäftigte:

»Epilepsie ist es nicht ... obwohl der Anfall epileptische Symptome zeigt ... ganz sonderbarer Fall von Alkoholvergiftung ... ein Glas Wasser, bitte!«

Man brachte ihm das Wasser. Er flößte es dem Kranken mit einer starken Dosis Brom ein.

Dann rannte er mit stummem Kopfnicken aus dem Zimmer.

Den Bewußtlosen trugen die beiden großen Beamten hinaus in die Lazaretträume des Polizeigefängnisses.


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