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Fünfzehntes Kapitel.
Bei der Bar

Den Gipfel menschlichen Ehrgeizes – wie ihn Millionen von Menschen in New York, London und sonstwo verstehen – hatte ich an demselben Tage erreicht, an welchem ich ein »Abstinenzler seit eh und je« wurde, gleich Bryan, Lloyd George und anderen Berühmtheiten. Das geschah, nachdem ich meinen Posten bei der Jane McCracken verlassen hatte. Ich mußte aber noch einmal heimlich aufs Schiff zurück, um meine Kleider zu holen und die geborgten zurückzugeben. Leider waren meine Kleider so eingeschrumpft, daß nicht mehr viel davon da war.

Nach meiner bescheidenen Meinung ist das Großartigste an der Menschheit, daß es so viele wirklich nette Leute gibt. Das Vorherrschen der anständigen Menschen, denen ich auf meinen Irrfahrten durchs Leben begegnet bin, ist geradezu überwältigend. Es ist wahr, daß manche davon, nach der geltenden Moral beurteilt, von ehrenwerten Leuten als elende Outsider bezeichnet werden könnten. Daran werde ich erinnert, wenn ich an Kapitän Lane von der Jane McCracken denke. Ich habe von der Schiffsmannschaft dunkle Andeutungen gehört – man muß sich allerdings vor Augen halten, daß eine Schiffsmannschaft mindestens ebenso skandalsüchtig ist wie ein Kloster oder eine kleine Provinzstadt –, Andeutungen also, daß Kapitän Lane ein höchst unmoralischer Mann sei, der die sprichwörtlichen Privilegien der Seefahrer überschreite und in jeder Hafenstadt nicht nur ein Weib, sondern zwei oder drei habe. Wenn das so ist, bin ich dessen sicher, daß sie ihm alle sehr ergeben sind, und daß, wieviele Kinder er auch haben mag, er jedem einzelnen ein idealer Vater ist. – Er war ein kleingewachsener Mann, mit einer rauhen Stimme, die doch jene Art Timbre in sich hatte, die in einem den Wunsch erweckte, das Haupt an seine Schulter zu legen und all sein Leid dort auszuschluchzen. Ich hab es nie versucht, denn meine Beziehungen zu ihm waren rein geschäftlich, aber wenn ich seine Frau gewesen wäre oder sonst jemand, ich glaube, ich hätte es den ganzen Tag lang tun können. Er kam gerade von der Jane McCracken und da traf ich ihn.

Kapitän Lane pflegte viel mehr zu trinken als für ihn gut war. Er trank nach eigenem System. Zweiundzwanzig Stunden täglich war er vollkommen abstinent. Ich denke, das war wohl infolge eines Versprechens, das er seiner Mutter auf dem Totenbett gegeben, doch nun mußte er in die zwei restlichen Stunden all das Trinken zusammendrängen, das ein gewöhnlicher Mensch über den ganzen Tag und einen Teil der Nacht verteilen kann. Er war darin sehr methodisch. Von unserer letzten Fahrt kamen wir gewöhnlich nach neun Uhr abend in New York an. Sobald das Schiff angelegt hatte, ging Kapitän Lane an Land, begab sich in einen »Salon« in der Greenwich-Street und machte sich mit Ernst und Eifer an die Aufgabe, so viel Alkohol in sich zu gießen, als in der kurzen Zeit von hundertundzwanzig Minuten menschenmöglich war. Ich glaube kaum, daß es ihm schmeckte – jedenfalls nicht bei diesem Konsum in Schnellzugsgeschwindigkeit. Er sah das wahrscheinlich als seine ernste Pflicht an und erfüllte sie. Ich glaube auch nicht, daß er davon je betrunken wurde. Wenigstens hatte ich einmal die Ehre, ihn nach Hause zu begleiten – nach einem seiner vielen Haushalte, dieser war in Greenwich. Er war damals sicherlich nicht betrunken; ich erinnere mich, er erklärte mir die Methode, nach der Piloten ein Schiff lotsen und er sprach so klar wie ein Mathematikprofessor. Doch, wie berichtet, er trug schon genug Flüssigkeit in sich, daß darin ein Dampfer mittlerer Größe ruhig hätte landen können, ohne Furcht, auf Grund zu rennen.

Wie ich schon erzählt habe, ich traf ihn, als ich gerade das Fallreep hinunter schlich, und ich hoffte, mein kleines Eigentum zu bekommen ohne unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Er fing mich und zog mich schweigend mit sich, durch den Park nach dem Salon, wo er Stammgast war. Da legte er mich, mit Blicken, in Eisen und hielt mich fest, bis er aus der Tasche einen Brief hervorgeholt hatte. Der Brief war von Helgas Vater und höchst schmeichelhaft – offenbar war das Äffchen seiner Gewohnheit treu geblieben, nie die Wahrheit zu sagen, wenn eine Lüge möglich war – und es lag eine Hundert-Dollar-Note bei.

Es ist ein ganz gemeiner Aberglauben des Mittelstandes und der oberen Zehntausend, zu meinen, alles Feingefühl sei ihr Monopol. Kapitän Lane war nicht wohlgeboren. Er hatte das Licht der Welt auf einer Barke im Eric-Kanal erblickt und hatte den größten Teil seiner Jugend damit verbracht, daß er mit einem Stachelstock die Hinterteile der Maulesel bearbeitete, die seinen Vater samt all dessen Hab und Gut trugen. Und doch verstand er sofort, warum ich die Hundert-Dollar-Note nicht nehmen wollte, übernahm es, die Belohnung unter der Mannschaft zu verteilen und führte es ehrlich aus. Er tat noch mehr und brachte mich am gleichen Abend in den Salon, der in der Eighth-Avenue lag und seinem Freunde Macgregor gehörte. Her Macgregor hatte genügend Personal, aber das hatte nichts zu sagen. Er mußte mich aufnehmen – und da er Kapitän Lane kannte, wehrte er sich nicht erst. Und fünf Minuten später trug ich schon Flaschen auf und der Käpten leerte ein Glas nach dem andern. Ich darf ehrlich sagen, daß ich damals gar nicht so ungeschickt war, als man vielleicht glauben sollte, aber ich gab mir Mühe, sein Tempo ein bißchen zu verlangsamen.

Das, was bei uns öffentliches Lokal heißt und wovon wir glauben, daß man es in Amerika Salon nennt, heißt in New York Café – amerikanisch ausgesprochen: Keïfi. Als ich Barkeeper in einem Café wurde, mußte ich Abstinenzler werden und sagen, ich sei es schon seit meiner Geburt und es sei nie anders gewesen und werde nie anders sein, denn das ist ein Sine-qua-non für einen New Yorker Barkeeper, Gleichzeitig wurde ich zu einem Rang erhoben, der etwas höher ist als in England Marquis und etwas niedriger als Herzog.

Der Barkeeper ist in New York die einzige Person, die von den unteren Ständen mit »Herr« angesprochen wird. Der Polizist wird von unerfahrenen Fremden manchmal auch so geehrt, doch nur wenn sie ehrlich sind. Die übrigen, die die Majorität bilden, nennen ihn »mein Sohn« oder »Freund und Gönner«, je nach dem Grad ihrer Vertrautheit. Der Barkeeper – und erst recht der Besitzer einer Bar – ist keineswegs jener finnige, dreckige, gemeine alte Irländer mit einem unmöglichen Dialekt, einem trockenen Humor und einer unzähmbaren Geschwätzigkeit, wie er durch Dooley und andere Humoristen populär geworden ist. Sondern er ist ein schweigsamer, scharfblickender, schmallippiger Geschäftsmann, mit einem guten Geschmack für Kleidung und einer Abneigung gegen alkoholische Stimula. Demnach war ich ein Abstinenzler; ebendas waren meine drei Kollegen, der Bub, der Foxterier und der Besitzer. Zwei davon waren ernste Anhänger der Heilsarmee – aber das war ich nicht, denn es wurde nicht ausdrücklich verlangt.

Man muß Charakter haben, wenn man in einer New Yorker Bar vorwärtskommen will. In anderen Berufen – zum Beispiel Politik und Delikatessengeschäft – ist es besser, wenn man keinen hat. Wenn man sich da um einen Posten bewirbt und der Chef einen fragt, ob man Erfahrungen habe, so sagt man gar nichts, sondern nickt und lächelt. Je mehr Bedeutung man in das Nicken legen kann, um so sicherer bekommt man den Posten.

Ich hatte also Charakter – Kapitän Lane, der die Vorurteile des Barbesitzers kannte, hatte ihn mir verliehen. Der Name des Chefs war, wie schon erwähnt, Macgregor, er stammte aus County-Down und hatte eine Vorliebe für seine Landsleute. Deshalb stammte auch ich aus County-Down – ebenso wie die übrigen Angestellten bis zum Foxterier hinunter. Mein Name war Mackintosh – mit dem Akzent auf dem I – aber ich hatte meine Heimat in zartem Alter verlassen, bevor ich noch den dortigen Dialekt richtig erlernt hatte, und mein Vater war ein eifriger Orangist, ein Anhänger jener geheimen protestantisch-politischen Gesellschaft, und wurde von der katholischen Geistlichkeit seines Ortes heftig verfolgt. Ich war in einem Dorfe geboren, dessen Namen ich vergessen hatte, an den sich Herr Macgregor aber sofort erinnerte, nachdem Kapitän Lane ihn genannt hatte, obwohl er seit Jahren nicht dort gewesen sei. Er konnte mir alles darüber erzählen und sogar mein Geburtshaus beschreiben. Nach einiger Zeit begann er sich an meinen Vater zu erinnern, was für ein ehrenwerter Mann das gewesen sei und daß er einen Sohn gehabt habe, der in einem Hut herumging, der ihm dreimal zu groß war. Ich sagte, das sei mein älterer Bruder gewesen, aber er beharrte dabei, das sei ich, denn nun begann er auch schon, sich an dessen Gesicht genau zu erinnern und der Junge habe ganz meine Augen, mein Haar und meine Nase gehabt und eine Neigung zu Fettleibigkeit. Wir gerieten darüber fast in Streit, und ich fand, daß er Widerspruch nicht vertragen könne. Er bestand darauf, mich von da an Alexander zu nennen, was der Name des älteren Bruders war, und nicht mehr William, der der meine war, denn er meinte dessen ganz sicher zu sein, daß ich selbst der ältere Bruder sei, der einen katholischen Geistlichen aus dem Hinterhalt erschossen habe und nun versuche sich als sein eigener jüngerer Bruder auszugeben. Das war ein bißchen verwirrt, aber es machte wieder gute Freundschaft zwischen uns und er versprach, mich für die Märtyrerabteilung seiner Loge vorzuschlagen, in die nur Leute kamen, die für die große Sache gelitten hatten.

Das Café lag in einem Eckhaus, wie die meisten dieser Lokale. In New York hat fast jeder Häuserblock ein Café an jeder der vier Ecken, außerdem ein paar Spielhöllen, acht Schuhputzerstände, wo man auch Orangen und Schokolade verkauft, und eine Kirche. Manchmal fehlt ein Schuhputzerstand und manchmal die Kirche, aber niemals die Cafés. Sie selbst sind in ihrer Atmosphäre Kirchen sehr ähnlich. Unsere Bar war es jedenfalls. Als ich schon einige Zeit dort war, schlug ich einmal vor, es wäre keine schlechte Idee, Andachtsstunden einzurichten, nach dem Ritual der schottischen Kirche. Ich meinte es humoristisch, aber Herrn Macgregor gefiel die Idee ungemein, und er kam davon nur deshalb ab, weil er fürchten mußte, es könnte dem Geschäft schaden, da wir so viele jüdische Kunden hatten. Aber er hatte mich seither um so lieber.

Zufälligerweise war einer unserer Gäste Herr Cholmondely, dessen Delikatessengeschäft nur ein paar Häuser entfernt lag. Wie man sich erinnern wird, hatten wir uns über eine Hühnergeschichte zerstritten und waren in Unfrieden auseinandergegangen. Als er am ersten Abend hereinkam, während ich bediente und auf meine weiße Jacke und meine weiße Schürze recht Stolz war – ich habe mir sagen lassen, Weiß steht mir sehr gut –, da war ich entschlossen, ihn zu ignorieren. Aber er ließ sich nicht ignorieren. Er griff nach meiner Hand als sei sie eine Banknote und stand sabbernd da, mit dem Hut in der Hand, und nannte mich: »Mei lieba Freind«, und wartete mit geduldigem Lächeln, daß ich seinen Gruß erwidere. Damals erkannte ich zum erstenmal, wie hoch ich gestiegen sei.

Wenn ich sage, das Café war wie eine Kirche, so meine ich damit, daß man darin nie lautes Sprechen oder häßliche Worte hörte. Die Gäste hatten alle eine ehrfurchtsvolle Art und pflegten ihren Whisky so ernst zu trinken als sei es Medizin, und zwar zuerst den Whisky und dann das Wasser aus zwei verschiedenen Gläsern. Der Raum war ganz in weißen, rosa geblümten Musselin gehüllt, um die Fliegen von den Spiegeln abzuhalten, und die Bar hatte die Form eines großen runden Hufeisens, war wie eine Rednerbühne geschweift und beschlagen, und dahinter erhob sich ein Triumphbogen aus Flaschen wie eine Orgel. All dieser Anstand und diese Ehrbarkeit kam daher, daß es da keine Barmädchen gab und keine weiblichen Gäste. Ich meine, keine, die man sah. Ich habe gute Amerikaner darüber lamentieren hören, daß man in London in den öffentlichen Lokalen so viele Weiber sieht und daß es Gott sei Dank so etwas in New York nicht gibt. Das kommt davon, daß sie nichts vom »Privateingang« wissen. In New York gibt es keine öffentliche und geschlossene und Salon-Bars wie in London, aber es gibt einen Privateingang. Das war in unserem Fall ein Hinterzimmer unseres Cafés mit einer eigenen Türe. Es wurde hauptsächlich am Sonntag benützt, wo wir angeblich geschlossen hatten, und da gab es meist mehr Weiber als Männer. Auch nach Sperrstunde wurde es verwendet. Dem Scheine nach sperrten wir um ein Uhr, und um diese Zeit hatten die echten Bummler und Säufer noch gar nicht so recht mit ihrer Arbeit begonnen. In Wirklichkeit hielten wir solange offen, als eben Gäste da waren. Da ich ziemlich dick und stark bin, gab mir Macgregor von Anfang an Dienst in der Privatabteilung und dort herrschte durchaus keine Kirchenstimmung. Das Hinausschmeißen war da nicht so leicht wie in London, denn jedes Café hat Drehtüren aus Glas, und wenn der Mann Widerstand leistete, war es schwer, ihm hinauszubekommen, ohne die Scheiben zu zerbrechen. Macgregor gab die freundliche Erlaubnis den Gast vorher durch einen Schlag zu betäuben, aber damit war auch noch nicht alles in Ordnung, denn wenn man so einen Mann getötet hätte, so hätte man ziemlich sicher mit der Polizei Unannehmlichkeiten gehabt und man wäre vielleicht sogar bestraft worden.

Ich war ziemlich lang bei dieser Bar. Und ich ging nur fort, weil mir ein Gast eine Stelle beim Varietétheater anbot, für das ich schon immer Interesse gehabt hatte.


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