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Vorwort

Zu jener Zeit, als Teile dieses Buches in der Zeitschrift »Truth« (die in Deutschland »Die Wahrheit« hieße) erschienen, bekam ich von einem tiefernsten Leser einen Brief, in welchem er mich fragte, ob man annehmen dürfe, daß meine Erzählungen irgendwie auf Tatsachen beruhen oder ob sie nur »die Erfindungen eines Wald- und Wiesenlügners« seien. Deshalb möchte ich an die Spitze dieses Vorwortes die Versicherung stellen, daß das Buch ganz und gar »auf Tatsachen beruht« und nicht nur »irgendwie«. Grundlage dieser Skizzen sind, wie sie es selbst sagen, die Erfahrungen eines jungen Engländers während einer Periode des Vagabundierens, deren er sich in New York und Umgebung erfreute. Immerhin beanspruchen sie nicht die unbedingte Zuverlässigkeit eines Kammerstenogramms oder Gerichtsprotokolls. Vagabundenleben ist nicht minder ein geistiger als ein physischer Zustand und ganz ebenso wie der Gang eines Landstreichers durch die Sonnenseite des Lebens weniger geradlinig und zielbewußt ist als etwa der eines Bankdirektors durch die schattigeren Regionen, so hält auch sein Geist jeden einzelnen Vorfall weniger genau im Gedächtnis-Hauptbuche fest. Darum mag vielleicht manche terminologische Ungenauigkeit in dieser Erzählung da und dort ihren Ausdruck finden, sei es in einem Wort, einer Satzkonstruktion oder einem Ausrufungszeichen. Da und dort mag das Gedächtnis ein Glanzlicht [er]höhen oder einen Schatten wegwischen. Man darf von keinem Vagabunden erwarten, daß er vor Gericht einen Schwur ablege über die genaue Größe und Brillanz der wahrscheinlich echten Diamant-Krawattennadel eines jeglichen Politikers, die ihr Licht über seinen Pfad – oder seine Papiere – geworfen hat, oder daß der Politiker wirklich genau so eine Zigarre geraucht habe wie das Gedächtnis es zu wissen glaubt, oder daß er überhaupt eine Zigarre geraucht habe. Selbstverständlich genügt es, daß der Vagabund sich seiner so erinnert: daß er geraucht habe, eine Zigarre geraucht habe, und daß die Zigarre kolossal groß gewesen sei und von üppigem Aroma. Mögen die hohen Herren vom Gericht wenigstens glauben, daß es so einen Politiker wirklich gegeben hat, so einen Dampferkapitän, so einen Polizisten, so einen Elefanten, wie sie der Vagabund zu zeichnen versucht hat, und daß ihre Taten und Worte, ihre Beziehungen zu ihm und zueinander mit so viel Treue berichtet worden sind, als es das Gedächtnis nur gestattet.

Andrerseits natürlich erscheinen sie nicht unter ihren wahren Namen. Man könnte meilenweit über die Sixth-Avenue gehen, ohne das Laboratorium eines Herrn Cholmondely zu finden; der Polizist, der an der Ecke von Broadway und Union-Square den Verkehr regelt, würde auf den Namen Dempsey nicht hören, ja er würde vielleicht behaupten, daß es einen Polizisten dieses Namens gar nicht gibt. Aber man darf, ohne Furcht vor Irreführung, glauben, daß Herr Cholmondely, wie immer er heißt, in diesem Augenblick irgendwo Hühner für eine neue Karriere zurechtmacht; daß Dempsey, der famose Junge, irgendwo den Verkehr regelt, und daß irgendwo Gladys, uneingedenk ihrer früheren Liebhaber, ihrem Treiber in diesem Augenblick verliebte Augen macht – rote Schweinsäuglein –, Gladys, das Elefantenmädchen.

Man soll nicht glauben, daß diese armen Skizzen Anspruch erheben, als »Amerika-Impressionen« zu gelten, oder daß sie behaupten, ein Panorama von New York zu sein oder irgendein Ausschnitt daraus oder überhaupt irgend etwas anderes als ein Stückchen Gehsteig, auf den die Blicke des Vagabunden fielen, als er auf der Suche nach Zigarettenstummeln darübertrottete.

Ihm ist nicht das allbesiegende Gehirn zu eigen und das allgewahrende Auge, das eine Nation in die Grenzen eines einzigen Buches komprimieren kann, wie es jene englischen Dichterfürsten taten, die zu literarischen Zwecken von Zeit zu Zeit den Ozean kreuzten, ein königlicher Besuch. Kein gemästetes Kalb wurde jemals für den verlorenen Vagabunden geschlachtet; keine Straßen seinethalben beflaggt; keine herrschaftlichen Häuser öffneten sich bei seinem Kommen. Er stand nur möglichst weit vorne in der hochrufenden Menge, dankbar, wenn er – von ferne – schnell und verschwommen gewahren konnte: die Züge, die Seelenharmonie des großen Mannes. Für ihn gab es keine Feste und Gäste, kein Speisen und Preisen. Er durfte nicht, während Tausende hingerissen an seinen Lippen hingen oder über den Schöpfungen seiner gesegneten Feder Tränen vergossen, den Geist des amerikanischen Volkes erörtern, die Grundzüge des amerikanischen Gesellschaftslebens, die Aussichten der amerikanischen Literatur oder, das Köstlichste von allem, sein eigenes Selbst und seine unsterblichen Werke, betrachtet im Lichte amerikanischer Tantiemen. Niemand kann eindringlicher als der schäbige Vagabund die Unverschämtheit erkennen, die ihm – mit seinem armseligen Bißchen Stimme – diese »Ährenlese aus der Gosse« ausrufen heißt. Man gestatte wenigstens, zu seinen Gunsten daran zu erinnern, daß er sich seiner Grenzen bewußt ist; daß er weiß, daß sein Blick von unten und nicht von oben ist. Ferner möchte er für sich anführen, daß sein Gesichtspunkt, wenn er auch unbedeutend und gemein ist und weder Wunsch noch Anspruch hat literarisch zu sein, doch ehrlich ist.

O. M. Hueffer.


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