Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.
Am Verhungern

Wenn wir immer das gleiche essen müßten, ich glaube, wir würden überhaupt nichts essen. Jedenfalls weiß ich aus Erfahrung, daß das Schrecklichste am Verhungern die Monotonie daran ist. Nichts kann dem an Ereignislosigkeit gleichkommen. Nachdem ich meine Stelle als Fremdenführer verloren hatte, begann für mich eine wirkliche Pechperiode, und ich lernte gründlich die Philosophie des Verhungerns. Ich war zu diesem Studium sehr schlecht gerüstet. Wenn ich mich in einer höheren Sphäre bewegte, würde ich sagen, daß ich einen Nervenzusammenbruch hatte. Schlicht ausgedrückt, kann ich nur sagen, daß mir Energie und moralische Kraft plötzlich vollkommen fehlten und daß ich dadurch unendlichen Widerwillen empfand irgendetwas zu tun. Unfreundliche Menschen würden es reine Faulheit nennen – aber das war es nicht. Ich hatte im Gegenteil schreckliche Anfälle von Energie; doch diese waren immer in dem Augenblick hingeschwunden, wo sich Resultate zu zeigen begannen. Stundenlang arbeitete ich große Pläne aus, und dann ließ ich sie wieder fallen. Natürlich kam es also zu nichts, und ich war bald am wirklichen Verhungern.

Das Hungern hat nur eine gute Seite: je länger es dauert, um so weniger tut es weh. Der erste Tag ist am ärgsten – denn da fühlt es das Bewußtsein am stärksten. Wenn ich jemals einen Aufruhr anzetteln wollte, so würde ich dazu nur Männer nehmen, die seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hätten. Später schwindet das Interesse.

Ich mußte mein Zimmer – in London würde man es eine Mansarde nennen – nach der ersten Woche verlassen. Ich verließ es mit fünfunddreißig Cent in der Tasche und den guten Wünschen meiner farbigen Cousine Euphemia. Ich teilte mir mein Vermögen sehr gut ein, aber es hielt nicht lange vor. New York ist eine teure Stadt. Ich konnte keinen Posten finden, und ich kannte niemand, der mir hätte Arbeit verschaffen können. Mein Freund Dempsey war dort nicht zu finden, wo er sonst stand. Was Wohlfahrtseinrichtungen betrifft, war ich lächerlich unwissend. Natürlich existieren sie dutzendweise. Falls einer meiner Leser so eine Wohltätigkeitssache einrichten will, so soll es eine für Fremde sein ohne Rücksicht darauf ob sie es verdienen, und er soll die Adresse des Wohlfahrtswerkes durch ungeheure Plakate bekanntgeben, damit es jeder arme Teufel finden kann. Man sollte ihm dort auch gar keine Fragen stellen. Ich bin gewiß, daß ein geborener New Yorker – wie in jeder Stadt ein Einheimischer – genau wüßte, wo er eine Freimahlzeit bekommen kann und daß er hundert ausgezeichnete Gründe wird vorbringen können, um sie zu bekommen. Mir war das unmöglich, und es gibt täglich Hunderte in meiner Lage. Als ich noch genug Energie hatte, um mich nach Wohltätigkeit zu erkundigen, hatte ich auch genug Energie, um Arbeit zu suchen; und als es damit vorbei war, war es auch mit dem Erkundigen vorbei. Ich hatte so von ungefähr den Einfall, mich an den englischen Konsul zu wenden. Ich ging sogar hin, doch als ich dann endlich das Haus gefunden hatte – unten an der Battery, ich glaube, an der Ecke der Whitehall-Street –, da war es so schäbig und der Eingang war so schmutzig, daß ich nicht hineinging. Das klingt sehr merkwürdig, aber es ist wahr. Es war das am dritten Tag meines Fastens, und ich glaube, mein Verstand war nicht mehr ganz in Ordnung.

Am ersten Tag, wie gesagt, litt meine Seele am meisten. Im Innern raste und stürmte ich gegen jeden, der so aussah, als habe er genug Geld bei sich für das nächste Essen. Am zweiten Tag litt der Körper. Ich hatte die fürchterlichsten Magenkrämpfe – ganz als ob ich zu viel gegessen hätte. Das war sehr ungerecht. Am dritten Tag litten Seele und Körper, nur weniger heftig. Am vierten Tag beging ich die Dummheit, etwas zu essen. Ein Banknachbar – ein Arbeiter, der sich betrunken hatte, zu einem blauen Auge gekommen war und Angst hatte zu seinem Weibe nach Hause zu gehn – schenkte mir einen Vierteldollar. Davon gab ich zwanzig Cent für Essen aus, hauptsächlich Cornedbeef. Mir wurde darauf fürchterlich schlecht – und dann wurde ich elend krank, und dann war mir wieder leichter. Für die restlichen fünf Cent kaufte ich mir Zigaretten, Marke »Hassans«, zehn Stück. Ich weiß nicht, wo sie fabriziert, aber hier ist eine unbezahlte Anpreisung: nie im Leben hat mir etwas einen solchen Genuß bereitet. Wie ein Narr rauchte ich sie alle aus, ohne an den kommenden Tag zu denken, und darnach war mir zum zweiten Male übel. Aber ich war schon darüber hinaus, mich um irgendwas ernstlich zu kümmern.

Hinter dem Battery-Park, ganz an der Spitze der Manhattan-Insel liegen die großen Stationen, von wo die Fährboote nach Brooklyn und Staten-Island und anderen Vororten abgehen. Bei einer dieser Stationen gibt es eine eiserne Galerie, die auf einer langen Stiegenflucht erreichbar ist und wo man stehen und all die Schiffe kommen und gehen sehen kann. Ich kam ganz zufällig drauf, am Tage als ich das Konsulat suchte – und ich gewöhnte mich bald daran, dorthin zu gehn und die Schiffe zu beobachten, die die englische Flagge gehißt hatten. Auf eine Flagge irgendeines andern Staates kamen drei englische, und das tat mir sehr wohl. Ich fühlte mich ganz lächerlich stolz darauf, daß es doch noch etwas in der Welt gebe, woran ich einen kleinen Anteil habe. Ich glaube, ich hätte damals meinen Anteil sehr gern in einer Pfandleihe versetzt, wenn man mir etwas dafür gegeben hätte; aber das Gefühl bestand trotzdem.

Am sechsten Tag fühlte ich mich völlig zufrieden – ich war in einem dämmrigen Traumnebel, in dem alle Dinge dieser Welt oder die der nächsten nichts mehr bedeuteten. Ich schlief auf einer Bank im Battery-Park. Es regnete ein wenig, und ich wurde naß, aber ich war zu träge, um in der Hochbahnstation Schutz zu suchen, und ich sah die »Olympic« ausfahren, folgte ihr mit den Blicken so weit ich konnte, sah sie bei Staten-Island sich im goldenen Nebel verlieren und sagte mir frohlockend, daß sie das größte Schiff der Welt und englisch sei. Dann setzte ich mir's in den Kopf, zwischen dem kleinen Park und der Küste herumzugehn, wo die Vergnügungsdampfer abfahren. Es war ungefähr zehn Uhr früh.

Die Vergnügungsdampfer sind bei warmem Wetter sehr beliebt, sie machen einander tüchtig Konkurrenz und sie alle schicken Leute aus, um die Ausflügler, die noch nicht ganz entschlossen sind, zu überreden. Ich schlenderte herum, dachte an nichts – da kam vom Wasser her ein kleiner Windstoß und etwas flog mir ins Gesicht. Ich haschte darnach, und es war eine Dollarnote. Ich sah, daß sie von einem der Billetteure herkomme, die da herumstanden, in der einen Hand Fahrkarten, die sie verkaufen wollten, und in der andern Hand Dollarbündel, um zu zeigen, wie gut ihr Geschäft gehe und wie beliebt gerade ihre Schiffe seien.

Ich glaube, wenn ich nachgedacht hätte, so hätte ich die Note behalten, aber es ist schwer, sich von der Gewohnheit instinktiver Ehrlichkeit loszumachen. Jedenfalls brachte ich die Note ihrem Eigentümer zurück. Es war das ein langer roter Jude, aber ein Ehrenmann durch und durch. Ich sah damals wie ein Straßenräuber aus. Seit einer Woche hatte ich mich weder rasiert noch gewaschen, noch war ich aus den Kleidern gekommen, und mein Gang war etwas unsicher. Doch entweder war er über meine Ehrlichkeit erstaunt oder er sah, daß ich ziemlich erschöpft sei. Er nahm sich meiner an. Er hieß mich auf eine Bank setzen und warten bis sein Dienst vorüber sei, und dann spendierte er mir ein Essen – ein vernünftiges Essen, nur eine heiße Suppe für den Anfang –, und er gab mir Gelegenheit, mich zu waschen und zu rasieren. Nebstbei bemerkt, wer meine ideale Wohlfahrtseinrichtung für Fremde gründet, soll damit freie Bäder und Waschgelegenheiten und freies Rasieren verbinden. Wie irgend jemand, der so aussieht, wie ich ausgesehen habe, schmutzig und zerlumpt und mit einem wochenalten Bart im Gesicht und mit einem schlechten Geruch – denn auch die Saubersten unter uns riechen widerlich, wenn sie eine Woche lang nicht aus den Kleidern gekommen sind –, wie so ein Mensch hoffen kann, Arbeit zu finden oder auch nur das Herz haben soll, sie zu suchen, das kann ich mir nicht vorstellen. Auch sollte man umsonst Kragen und Manschetten bekommen, und wären sie auch nur aus Papier. Nichts verbessert die Aussichten eines Menschen so sehr wie ein sauberer Kragen. Der Anzug spielt lange keine solche Rolle.

Um die Geschichte kurz zu erzählen, mein jüdischer Freund verschaffte mir einen Posten bei seiner Schiffsgesellschaft. Ich mußte auf den Ausflugsbooten zwischen den Passagieren herumgehn und Aufträge für Bier entgegennehmen. Später, während der Ferienzeit, konnte ich mich als Mixer in einer kleinen hufeisenförmigen Bar betätigen. Ich hatte eine weiße Jacke und ein glattes Gesicht und ich kaufte mir eine geckenhafte Yachtkappe, und wäre ich meinem Selbst von voriger Woche begegnet, ich hätte mit ihm nicht gesprochen. Jene Woche war die schrecklichste, die ich in New York erlebt habe und ich wünsche, daß mir nie und nirgends noch so eine zuteil wird.


 << zurück weiter >>