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Erstes Kapitel.
Ein Baby im Zoo

Ich bin, im Grunde genommen, kein Babyanbeter. Es sei zugegeben, daß sie nach dem gegenwärtigen Stand unserer Entwicklung notwendig sind – doch sie haben mir immer eher im Abstrakten als im Konkreten anbetungswert geschienen, und obwohl ich hoffe, daß ich bei einem Schiffbruch meinen Platz im Rettungsboot gerne allen Babies oder jedem einzelnen, das man hineinwerfen wollte, abtreten würde, so bin ich doch nicht ganz sicher, daß mein Motiv reiner Ritterlichkeit entspränge. Lieber tot, möchte ich denken, als (sagen wir) mit sechs Babies im Umkreis von fünf Metern.

Immerhin, es gibt Babies und Babies, und ich gestehe dankbar, daß ich in einer sehr schweren Krise meines Lebens die Erhaltung, wenn nicht meiner gesunden Vernunft, so doch meines geistigen Gleichgewichts, tatsächlich einem ganz jungen Baby verdanke. Es war ungefähr zwei Monate alt und lebte still und für sich im »Bronx«, dem zoologischen Garten von New York.

Ich war damals arg auf den Hund gekommen und empfand es recht übel. Ich gewöhnte mich daran sehr bald, dank teils diesem Baby, teils einem Polizeimann, wie Sie gleich hören werden: aber anfangs fühlte ich mich sehr einsam, und das ist die böseste Erscheinungsform von Pechhaben. Ich möchte glauben, daß für einen Engländer New York die schlechteste Stadt ist, die er für diesen Zweck wählen könnte. Ich habe in anderen Hauptstädten, Paris, Berlin, Rom und so weiter, meine Erfahrungen gemacht, aber keine von diesen Städten hat mich mit solcher Einsamkeit erfüllt. Ich persönlich hätte nicht sehr viel gegen Verhungern, Eingesperrtwerden oder sogar, möchte ich sagen, gegen das Hängen, solange die Gesellschaft gut ist. Nun erwartet man in Paris oder Berlin gar keine Gesellschaft, weder gute noch schlechte. Die Leute sprechen eine andere Sprache, sehen das Leben anders an. Unter ihnen einsam zu sein, ist nur natürlich, wie man es in einem Wald oder in der Steppe wäre. Ich zweifle nicht, daß einem New Yorker London ebenso einsam schiene wie mir New York. Ich bin aus Cockney, und wenn es dazukäme, daß ich in diesem Stadtkreis, der einen Radius von sechs Kilometern hat, verhungern sollte, so könnte ich zur Not immer einen Bekannten finden, der im gleichen Augenblick das gleiche mitmachte, und wir könnten zusammen vergnügt und fröhlich sein und unsere Eindrücke teilen, während wir die Nasen gegen die gleichen Küchenfensterscheibe preßten. Das könnte ohne Zweifel auch ein New Yorker Vagabund in New York. Und es überkam mich ein jäher Schreck, daß in einer Stadt, wo mit geringen Unterschieden meine eigene Sprache gesprochen wurde und wo die Leute so ähnlich wie die Leute meiner Heimat aussahen und dachten und sich benahmen, daß ich da niemanden, durchaus niemanden hatte, mit dem ich mein fehlendes gutes Mittagessen hätte teilen können.

Ich will damit nicht sagen, daß ich in New York niemand gekannt habe. Damals muß ich mindestens ein halbes Dutzend Leute gekannt haben und davon einige, wenn auch nicht intim, so doch gut genug, um von ihnen, mit Aussicht auf Erfolg, das Geld für meine Rückreise nach England zu verlangen. Ich bin dessen nicht ganz sicher, denn ich hab es nie versucht, aber ich nehme an. Übrigens hätte ich es einmal beinahe doch versucht. Der Mann, an den ich dachte, hatte ein Bureau, draußen in der Fifth-Avenue, ungefähr Nummer dreißig. Dreimal, glaub ich, vielleicht auch öfter, nahm ich mir einen Anlauf, um ihn zu besuchen. Ich hatte damals eine billige Schlafstelle an der Nordseite des Central-Park gemietet – und man kann sich nicht vorstellen, was für einen weiten Weg ich zu gehen hatte. Das erste Mal nahm ich mir wirklich das Herz, ihn zu sehen, wir verbrachten ein angenehmes Plauderstündchen, er fragte mich, wie es mir gehe, und ich ertappte mich dabei, daß ich ihm ganz unwillkürlich sagte, ich denke fortwährend daran, die Fifth-Avenue aufzukaufen, und ich wolle dort einen Palast errichten lassen, wenn ich erst Zeit finden könnte, einen Architekten zu wählen. Ich versuchte, auf den Kern der Sache zu kommen, und sooft mir das im Umkreis eines halben Wörterbuches gelungen war, wurde meine Zunge scheu, warf mich ab, galoppierte ohne mir zu gehorchen davon, um die Ecke und aus Gesichtsweite. Schließlich gab ich es auf und beschloß, es für den nächsten Tag zu lassen, denn es gab immerhin die Möglichkeit, auf der Straße eine Brieftasche mit einer Million Dollar zu finden, und in diesem Fall hätte ich natürlich meinen Bekannten ganz unnötig bemüht.

Nun, ich habe keine Brieftasche gefunden, und am nächsten Tag in aller Morgenfrühe machte ich mich wieder auf, um meinen Bekannten zu besuchen. Es gelang mir, mich zu veranlassen, in den Lift zu steigen und in das Bureau zu treten, aber er war nicht da. Ich sagte, ich würde am Nachmittag wiederkommen, und das tat ich auch, und wieder brachte ich mich in den Lift. Aber als ich oben ankam, da konnte ich mich nicht dazu zwingen, durch die Türe zu treten, und so schlenderte ich ein bißchen auf dem Korridor herum, und dann fuhr ich wieder hinunter. Das nächste Mal scheute ich schon, als ich nur den Lift betrat, und da wußte ich, daß es keinen Sinn hätte, und wenn ich auf diesem Wege Geld bekommen wollte, es jemand anderer für mich versuchen müßte.

Ich möchte nicht näher erklären, warum ich gerade damals so auf den Hund gekommen war, aber ich will genau den Augenblick bestimmen, wo ich ein richtiger Vagabund wurde. Es war an dem Abend, als ich von jenem Bureau nach Hause zurückkam. Es war ungefähr sieben Uhr und ich machte mir eine Schale Tee auf dem Gasofen, als Frau Isaacs hereinkam, zum Zwecke einer kleinen geschäftlichen Unterredung. Sie war eine sehr gutherzige Person, und ich bin fest überzeugt davon, ich hätte sie ganz gut wieder herumkriegen können, wenn ich nur ordentlich versucht hätte. Sie gab mir auch keine richtige Kündigung, denn so ziemlich am Anfang des Gespräches sagte sie, sie hätte mir nur deshalb solange getraut, weil ich ein Engländer sei – na und dergleichen.

Ich glaube wahrhaftig, sie meinte es auch so – sie hat freilich nie in England Zimmer vermietet – und da gab es also für mich nur eine einzige Möglichkeit. Sie ließ mich die eine Nacht noch dort schlafen, und am Morgen gingen wir daran, abzuschätzen, was die Koffer und Kleider und Gebrauchsgegenstände, die ich noch besaß, denn wert seien. Sie war viel zu großmütig; die Sachen waren wahrscheinlich schrecklich wenig wert, aber die Unterhandlungen endeten mit der größtmöglichen Befriedigung beider Teile. Wir schieden als die besten Freunde, und ich hatte drei Dollar und keinerlei Verpflichtungen. Wenn es sich darum handelt, jemandem Geld schuldig zu sein, das man nicht zahlen kann, so möchte ich viel lieber einen Amerikaner, und vor allem einen amerikanischen Juden, zum Gläubiger haben als einen Engländer. Es kann sein, daß ich da besonderes Glück gehabt habe, aber soweit meine Erfahrung reicht, sehen diese Menschen ein, daß man deshalb kein Schwindler zu sein braucht, weil man in der Klemme ist, und daß man auch mit den härtesten Worten aus einer leeren Tasche kein Geld holen kann. Frau Isaacs zum Beispiel war durchaus bereit, mich mit Sack und Pack ziehen zu lassen, falls ich ihr nur versprochen hätte, zu bezahlen, sobald ich in der Lage wäre. Aber das konnte ich nicht annehmen, denn ich sah nicht die geringste Möglichkeit vor mir, jemals zu Geld zu kommen und danach, was sie gesagt hatte, wollte ich nicht, daß sie Schaden habe. Außerdem konnte ich nicht einsehen, wozu mir Koffer und Handtaschen gut wären, wenn ich nicht hätte, wohin damit.

An diesem Morgen machte ich die Bekanntschaft des Babys.

Bevor ich ein Vagabund geworden war, ging ich sehr gern in den Bronx-Zoo. Ich hatte Gefallen an den wilden Tieren, die Gartenanlagen waren bezaubernd schön, ich pflegte mit lieben Freunden hinzugehen, und alles in allem hatte ich sehr angenehme Erinnerungen an diesen Ort. So ging ich denn, unter dem ersten Anprall der Erkenntnis, was eigentlich diese drei Dollar für mich bedeuteten, in den Bronx-Zoo. Ich hatte dafür keinen bewußten Grund. Mein Geist war für eine Zeitlang wie gelähmt, und ich glaube, daß ich ganz automatisch zur Hochbahn ging und meine Karte löste und einstieg und ausstieg und in den Zoo eintrat. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, daß ich hingegangen bin, oder wie, oder weshalb. Es war ein leuchtend klarer Tag, ich schlenderte ziellos herum, freute mich der Sonne und dachte an nichts, als ich plötzlich ganz aus der Nähe ein Seufzen hörte. Es war das der allermelancholischeste Seufzer, den ich je gehört, als sei sein Grund, daß jemand die Last der ganzen Welt auf den Schultern zu tragen hätte. »Ooohhh!« klang es und verschwamm in unendlicher Traurigkeit. »Ooohhh!«

Jemand fühlte sich schrecklich elend, das war klar. Wer dieser Jemand war, hatte ich keine Ahnung. Ich stand auf der Spitze eines kleinen Hügels, wo vier Wege zusammentrafen. Ich konnte unbehindert rund um mich in jede Richtung sehen, aber da war keine lebende Seele zu erblicken, Mann, Weib oder Kind, Hund, Katze oder Elefant. Gerade hinter mir war eine Bank unter einem Baume, und ich bückte mich, um dort dieses geheimnisvolle Elend zu suchen. Während ich noch gebückt dastand, hörte ich es wieder, womöglich noch melancholischer als vorher. Diesmal kam es von hinten, und ich fuhr herum, als ob ich Angst hätte, daß mich jemand auf den Kopf schlagen wolle.

In einem Winkel, den zwei von den Pfaden bildeten, befand sich ein niedriger Drahtkäfig, dreieckig und ungefähr so groß wie ein kleines Zimmer. Das Drahtnetz war nur ein paar Fuß hoch und oben offen, enthielt also offenbar kein sehr wildes oder flinkes Tier. In der Mitte war ein kleiner runder zementierter Teich und daneben, mit dem Rücken zu mir, eine niedere viereckige Holzhütte. Offenbar kamen aus dieser die Seufzer. Mir schwebte vor, daß ich einen sterbenden Millionär finden würde, den Strolche beraubt und sterbend hier zurückgelassen hätten, und der mit seinem letzten Atem mich als seinen Befreier segnen und mir eine Börse mit mehreren Millionen Inhalt in die Hand drücken würde. Ich spähte in die Hütte, aus der gerade wieder ein Seufzer drang.

Es war keineswegs ein Millionär. Es war ein Seelöwenbaby, und es war sehr unglücklich, weil es einsam war. Ich erkannte das sofort, denn sofort als es mich erblickte, kam es aus seiner Hütte hervorgewatschelt und gebärdete sich ausgelassen. Wenn man sich vorstellen kann, wie ein schwarzer Schlafsack, aus Wachstuch gemacht und schlecht gefüllt, sich ausgelassen benimmt, so weiß man, wie das aussah. Es hatte ein altes, altes Gesicht, viele hundert Jahre alt, und es hatte eine schimmernde Glatze, und es hatte einen Backenbart und einen tüchtigen Schnurrbart, und es war wirklich froh, mich zu sehen. Ich glaubte zuerst, es sei vielleicht hungrig, aber es hatte einen genügenden Vorrat Futter. Es war nur unglücklich und einsam und sehnte sich nach seiner Mama und fühlte sich schrecklich klein und unbedeutend in einer großen feindlichen Welt, die es nicht verstehen konnte, und es war krank vor Sehnsucht mit jemandem zu sprechen. Auch ich war in einem ähnlichen Zustand, und so wurden wir sofort Freunde, und niemals hatte ich einen wahreren Freund oder einen, der mich mit unfehlbarerer Freude begrüßte oder aufrichtiger betrübt gewesen wäre, wenn ich ihn verließ. Es war das auch keine Liebe durch den Magen, denn niemals gab ich ihm etwas. Er wieder dachte nie daran, mir etwas anzubieten – sonst hätte ich es mit Freuden angenommen. Ich nannte ihn Chris, nach einer ehemaligen Freundin, denn ihre Augen hatten viel Ähnliches.

Wir konnten niemals ganz entscheiden, wer von uns mehr zu leiden hätte. Chris hatte mehr Nahrung als er brauchte und ich Freiheit. Er sehnte sich zurück nach den großen Wogen und Eisbergen, und ich hätte viel darum gegeben, wenn mir jemand meine regelmäßigen Mahlzeiten gebracht hätte. Unsere Einsamkeit teilten wir.

Chris wußte nie, wie viel er mir bedeutete – er gab mir etwas, woran ich denken konnte außer an meine eigenen Leiden. Ich arbeitete mindestens fünf Pläne aus, ihn zu entführen und im Hudson in Freiheit zu setzen. Ich hätte es auch getan, wäre ich sicher gewesen, daß er durch diese Veränderung gewinnen würde. Aber damals erkannte ich, daß es ärgere Dinge gibt in dieser Welt als eine sichere Stellung mit einem dazugehörigen sicheren Einkommen, auch wenn es bedeutete, an ein Schreibpult gefesselt zu sein oder einen runden Leib einer vierkantigen Hütte anzupassen, und so unterließ ich es. Manchmal, auch heute noch, tut es mir leid, daß ich nicht den Mut dazu hatte. Chris war zart, wie mir der Wärter sagte, und man hatte wenig Hoffnung, ihn großzuziehn; und so glaube ich, daß er heute tot ist und jenseits aller Leiden. Er war sehr gut zu mir, das war er.

Solange meine drei Dollar vorhielten, strich ich im Zoo herum. Das Wetter war strahlend und warm; im Park und in der Waldung rundum gab es reichlich Schlafgelegenheit und den größten Teil des Tages verbrachte ich im Gespräch mit Chris – in einer Art dämmrigem Tagtraum, ganz ohne Gedanken, nur in dem dunklen Gefühl, daß es da nichts Besonderes zu tun gebe, noch einen besonderen Grund, etwas zu tun. Aber ungefähr am vierten Tage begann ich meine Lage genauer zu überblicken. Chris hatte mir gezeigt, daß ich nicht das einzige Wesen auf der Welt sei, das seine Mühen habe, und nach und nach kam es mir zu Bewußtsein, daß meine Lage wirklich viel besser wäre als seine, denn was immer er versuchen wollte, er konnte seinen Leiden nicht entgehen, und ich, wenn ich nur versuchen wollte, ich konnte es. Ich wartete bis Montag, denn am Sonntag waren schrecklich viele Leute im Zoo, und wir hatten sehr wenig Gelegenheit zu Privatgesprächen. Am Montag sagte ich ihm vorläufig Lebewohl und er ermutigte mich so gut er konnte, und als ich den kleinen Hügel hinunterschritt, stand er auf seinem Schwanz, an das Gitter gepreßt, sah mir nach und rollte den Kopf von einer Seite auf die andere, gleichsam als wollte er mir mit dem Taschentuch winken.

Es mag lächerlich sein, daran zurückzudenken, aber es sah ganz merkwürdig einem Abschied unter Freunden ähnlich. Einst, wenn ich sehr reich bin, werde ich mich wieder nach dem Bronx-Zoo begeben – und wenn dann Chris noch am Leben ist, werde ich ihn kaufen, ihn irgendwohin in die arktische Zone bringen und ihm da die Freiheit anbieten. Ich glaube allerdings nicht, daß er sie annehmen wird.

Ich fuhr mit der Hochbahn bis zur »Battery«, denn es war so billig und ich wußte, daß dort das Ende des Geschäftsviertels von New York sei, wo ich mich um eine Stelle als Ladengehilfe oder dergleichen umsehen mußte, denn große Ansprüche durfte ich nicht machen. Der Anblick der Schiffahrtbureaux am Bowling-Green brachte mich auf den Gedanken, ob ich nicht am klügsten täte, als mittelloser Rückwanderer nach England zurückzufahren. Aber dieser Einfall erschien mir irgendwie nicht im rosigsten Licht, besonders wenn ich an Chris dachte. Ich konnte keine Arbeit finden – das ist nicht überraschend, wenn man bedenkt wie schäbig ich aussah und wie unbestimmt meine Fähigkeiten waren.

Diese Nacht schlief ich auf einer Bank des Union-Square.


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