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Zweites Kapitel.
Obdachlos

In drei Hauptstädten – Paris, London, New York – habe ich Hunger gelitten, aber nie in meinem Leben war ich so deprimiert, als da ich neulich wieder einmal nach den Kaianlagen kam und dort von dem absurden neuen System hörte, das man jetzt anwende. Einen Menschen aus behaglichem Schlummer aufwecken und ihm eine Marke für das Obdachlosenasyl geben – denn das tut man dort jetzt, wenn ich richtig verstanden habe – heißt soviel, als das Hungern zu einem Unsinn machen und uns alle auf das gemeine Niveau eines Kleinkrämers bringen.

Was das Schlafen bei Mutter Grün betrifft, steht London in Hinsicht auf gute Eignung nicht viel hinter New York zurück. Für Paris war ich nie eingenommen – es ist für einen friedlichen Menschen zu voll von Abenteuern. Es gibt mindestens ebenso viele trübe Kerle in London oder New York wie in Paris, aber sie sind meist nur Gelegenheitshascher. Der Pariser Apache dagegen ist ein Sportsmann. In jeder englisch sprechenden Stadt gibt es wohl an die zwanzigtausend Nachtvögel, die einem wegen eines Schillings die Gurgel abschneiden könnten; aber dieser Schilling ist für sie dabei etwas Wesentliches. Ohne ihn ist man bis auf rohe Spässe vor ihnen ganz sicher. Aber der Pariser mordet aus reiner »joie de vivre«. Für ihn ist man nur ein Jagdobjekt, und der Inhalt der Taschen kommt nicht weiter in Betracht. Ich weiß, daß am Boulevard de Clichy ein Mann um drei Uhr früh ermordet worden ist, wobei es sich um eine Schachtel Zündhölzer handelte. Wenn man sich vorstellt, was für eine Sorte Zündhölzer man in Paris bekommt, so ist dieser Vorfall besonders bezeichnend.

Verglichen mit, sagen wir, Madison-Square in New York, habe ich die Kaianlagen in London recht deprimierend gefunden. Die Leute, die dort schlafen, scheinen ihr Elend nicht vergessen zu können. Sie haben kein Glück und sie sind auf dem Hund; und darüber wollen sie nicht stolz sein. Es kann sein, daß die Straßenbahnzüge, die dort die ganze Nacht vorbeifahren, die Sache etwas besser gemacht haben, indem sie ein bißchen Leben und Lärm hineinbringen. Aber gleichzeitig haben sie die Chancen, zu einem wirklich erfrischenden Schlaf zu kommen, vermindert, hauptsächlich deshalb, weil die Strecke so dumm angeordnet ist, daß einem die Ratterkästen der Straßenbahn in kaum einem halben Meter Entfernung am Kopf vorüberdonnern. Außerdem ist dort die Polizei überflüssig amtseifrig – vielleicht weil sie dicht unter den Augen von New-Scotland-Yard ist. In New York ist das viel besser eingerichtet.

Es gibt in New York drei sehr gute Schlafplätze für Obdachlose: Madison-Square, Union-Square und City-Hall-Park. Sie sind, wie Perlen an einem Rosenkranz, in gehörigen Abständen den Broadway entlang aneinandergereiht, so daß man, wenn man an dem einen Platz Langweile bekommt, bis zum zweiten nicht weit zu gehen hat. Es gibt selbstverständlich noch andere Möglichkeiten, zum Beispiel Bronx-Zoo, von dem ich schon berichtet habe, Central-Park oder die Battery. Aber sie sind zu weit vom Zentrum und deshalb unbequem gelegen. Der Central-Park wieder ist zu lebhaft – fast so arg wie der Hyde-Park –, und er hat etwas geradezu Vorstadtmäßiges. Ich persönlich würde ebenso gern draußen auf einer Wiese schlafen.

Jeder von diesen meinen drei Lieblingsplätzen hat seine besonderen Vorteile. Bei allen dreien sind die Bänke richtig konstruiert und die Lehnen stehen im gehörigen Winkel. In gewisser Hinsicht sind sie besser als die auf den Kaianlagen, wo man, wenn man gerade einen Ecksitz bekommt, eine höchst unangenehme und abschüssige Armlehne aus scharfem Metall vorfindet, die dem Ellbogen sehr zuwider ist. Andrerseits ist die Konstruktion der Londoner Bänke dem Kreuz gut angepaßt – die New Yorker ist es nicht. Was die Bänke in Paris betrifft, so hätte man ebensoviel Aussicht auf Komfort, wenn man versuchen wollte, auf einem Grabstein zu schlafen.

City-Hall-Park ist lebhaft. Union-Square ist ruhig, Madison-Square ist aristokratisch gedämpft. In City-Hall-Park liegen die Redaktionen der Zeitungen und darum ist er am besten geeignet für eine Nacht, in der man nicht schläfrig ist und Bedürfnis nach Amüsement hat. Mein Lieblings-Standquartier sind die Bänke, die rings um den Brunnen, gegenüber dem Hauptpostamt, stehen. Bei heißem Wetter wimmelt der Park von Buben, die das Bassin als Freibad benützen, gewöhnlich vollkommen bekleidet – soweit man es so nennen kann – hineinspringen und nette kleine Plänkeleien mit der nicht allzu amtseifrigen Polizei haben. Die Ostseite von Union-Square ist still, und schön bepflanzt. Sehr empfehlenswert, wenn man wirklich müde ist. Madison-Square hat aus gewissen Gründen Anziehungskraft für Leute, die bessere Tage gesehen haben. Mein letzter Banknachbar dort war ein englischer Baron und näselte, daß es seine Art hatte. Alle drei Orte sind offen und frei, ohne ärgerliche Gitter und Tore, von starken Bogenlampen gut beleuchtet, mit Trinkwasser und Waschgelegenheit ordentlich versehen, womit es sonst im allgemeinen in New York abscheulich schlecht bestellt ist. Alle drei liegen an Hauptlinien der Straßenbahn und so sind sie heiter, ohne aufdringlich zu sein.

Die Gesellschaft ist entzückend. Lauter Optimisten. Ich habe dort mit einem silberhaarigen Patriarchen, der etwa 75 Jahre alt war, gesprochen. Er sagte, er habe seit zehn Jahren in keinem Bett geschlafen, und ich glaubte ihm. Doch sein ganzes Gespräch drehte sich um die Frage, welche Lage für eine Motorfabrik die beste sei. Er hatte eine Erfindung gemacht (und hatte sie in der Tasche), ein vollkommen neues System für elektrische Zündung – ich bin kein Fachmann in diesen Dingen –, und als ich ihn verließ, rechnete er gerade die genaue Zahl an Millionen aus, die er verdient haben würde, wenn die Fabrik auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung angelangt wäre. Jedermann dort hat den einen oder anderen Plan und ist gerne bereit, dich daran teilhaben zu lassen. Das letzte Mal, als ich in Union-Square schlief, wurde mir eine Teilhaberschaft an einem solchen Plan angeboten, der, wie ich glaube, tatsächlich etwas auf sich hatte. Einige Stationen der Hochbahn im oberen Stadtviertel liegen hoch über den Straßen – besonders in der Gegend von Cathedral-Parkway – und man erreicht sie von der Straße aus durch lange eiserne, gedeckte Stiegenhäuser, die fast Tunnels gleichen. Die Idee meines Nachbars war nun, eine geschlossene Gesellschaft von drei Personen zusammenzustellen, wovon zwei in diesen eisernen Tunnels Passanten, unter besonderer Bevorzugung von Betrunkenen, anhalten sollten, während der Dritte den Aufpasser mache. Die Arbeitszeit wäre von Mitternacht bis vier Uhr früh gewesen, und es waren glänzende Einkünfte in Aussicht. Ich nahm das Angebot nicht an – tatsächlich, bevor ich Zeit hatte, es mir recht zu überlegen, bekam ich ein zweites, das mir noch mehr zu versprechen schien, aber schließlich nahm ich auch dieses nicht an. In den Kaianlagen dagegen habe ich ein solches Angebot nie bekommen; und seit man daraus eine Art Dependance des Obdachlosenasyls gemacht hat, darf ich dort nichts mehr erhoffen.


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