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Drittes Kapitel.
Diebsküche

Wenige Dinge waren für mich ein klarerer Beweis für die Überlegenheit des Menschen über die Tiere, die nie Gottes Herrlichkeit werden anschauen dürfen – ich nehme Chris aus, weil er mein Freund ist –, als meine eigene Anpassungsfähigkeit an die Umstände. Angenommen, man bringt einen Löwen in die arktische Zone, so bin ich gern bereit, zu glauben, daß er, nach vier bis fünf Generationen, Fell, Klauen und Skelett eines Polarbären bekommen haben wird oder irgend so einer Bestie, die ihm halbwegs ein Muster abgeben kann auf seinem Entwicklungspfade zur Tauglichkeit. Die Menschheit, wenn ich mich selbst als Beispiel annehmen darf, würde in vier bis fünf Tagen dahin gelangt sein. Als ich von Frau Isaacs und meinem Koffer Abschied nahm, hatte ich all die Vorurteile der Menschen, die geboren sind zu klingeln, und wissen, daß andere dazu bestimmt sind zu hören und zu gehorchen. Es war wahrhaftig nicht zum erstenmal, daß der böse Wolf sich vor meinem Kamin hingekauert hatte, aber diese früheren Erlebnisse waren dadurch unterschieden, daß sie nichts Endgültiges waren, daß in jedem einzelnen Fall die feste Hoffnung blieb, der Wolf werde früher oder später, durch Güte oder Gewalt, vertrieben werden können. Aber als ich auf einer Bank des Union-Square saß, kam es mir ganz widerwärtig zu Bewußtsein, wie anders der Fall diesmal sei. Das Schicksal, dem ich bisher eine lange Nase gemacht hatte, schien nun dazu aufgelegt zu sein, sich seinerseits über mich lustig zu machen. Nicht länger durfte ich klingeln; ich war nicht einmal in der Lage, auf Klingelzeichen gehorchen zu dürfen. Nicht nur, daß ich hungrig war, ich sah auch eine ewige Magenleere vor mir. Ich war nun in allem Ernst der Vagabund geworden, auf den ich mich manchmal hinausgespielt hatte.

Binnen drei Tagen hatte ich mich ganz unbewußt den neuen Lebensbedingungen angepaßt. Aus einem neuen Gesichtswinkel, mit neuen Augen sah ich auf eine neue Welt. Nicht länger war ein Polizeimann für mich der Leibgardist meiner Bürgerlichkeit. Er war zum Riesen Corcoran geworden, zum Herrn unheimlicher Kräfte, um so schrecklicher, als deren Grenzen mir unbekannt waren. Nicht länger waren glatte Gesichter und saubere Wäsche etwas Normales. Sie waren zu abstrakten Idealen geworden, die man nur von ferne erschauen konnte, aber keine Wirklichkeit hatten. Ich lungerte auf meiner Bank, als sei ich dazu geboren, als hätte ich da seit Jahrhunderten gelungert, als hätte ich diesseits des blauen Zimmers, von dem uns Maeterlinck erzählt hat, niemals etwas anderes getan. Da war es, daß der Versucher – ich bin sicher, er würde sich gern so nennen hören – zu mir kam.

Kaum eine Stunde, nachdem mir die Sache mit der Hochbahn und den verspäteten Passanten angeboten worden war, wurde ich mit der Diebsküche bekannt. Ich saß am Ende der Bank, nahe der Zentralbogenlampe. Ich saß so, um besser lesen zu können – eine alte Zeitungsnummer, einen Artikel, der von den Millionen handelte, die für einen berühmten blauen Diamanten gezahlt worden waren, von dem es hieß, daß er seinem Besitzer Unglück bringe, und der neulich weiterverkauft worden war. Da nun fand mich der Versucher. Es war ein kleiner Mann, von schäbiger Eleganz, und er sagte, er sei ein Engländer. Dann setzte er sich neben mich auf die Bank – es war etwas nach drei Uhr früh –, und wir schwatzten zusammen, wie man das auf den Bänken von Union-Square tut, ohne formell vorgestellt zu sein. Er fragte mich verschiedene Dinge. Er fragte mich, ob ich ein Engländer sei, und ob ich in der Klemme sei, und ich sagte, ich sei beides. Dann fragte er mich, ob ich Lust hätte, etwas Geld zu verdienen, und ich sagte, es gebe nichts, wozu ich mehr Lust hätte, außer etwa mir welches schenken zu lassen. Dann fragte er, ob ich an einer Universität studiert habe, und ich sagte, ja, doch an keiner englischen Universität, sondern nur an einer deutschen. Darüber war er etwas enttäuscht, das merkte ich, und so erzählte ich ihm, ein Vetter von mir sei auf der Universität Oxford, und ich hätte schon oft Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Das heiterte ihn wieder beträchtlich auf, und er sagte, wenn ich mit ihm bis Second-Avenue gehen wollte, so würde sich mir der Weg lohnen. Ich hatte meine eigene Gesellschaft schon herzlich satt, und so ging ich gern.

Wir kamen zu einer Schankwirtschaft. Wir gingen durch den »Familien-Eingang« in eine Art Foyer, das voller Spiegel war, und durch einen dieser Spiegel, der durch keine Fugen verriet, daß er eine Türe sei, traten wir in ein kleines Privatzimmer. In diesem befanden sich zwei Damen und zwei Herren, und mein Freund, der Versucher, stellte mich einem der Herren, dessen Name Birmingham war, vor. Herr Birmingham war, was man in New York einen »Beinahe-Gentleman« nennt, und zwar so sehr beinahe, daß man bei künstlichem Licht den Unterschied kaum merken konnte. Er war auch ein guter Junge, denn als er mich fragte, was ich trinken wolle, und ich sagte, ich würde lieber etwas zum essen haben, so war er darüber gar nicht böse und ließ einen kalten Aufschnitt kommen und Gurken und Omeletten und dergleichen, und ich war sehr froh, als ich das bekam. Inzwischen stellte er mich seinem Freund vor, der O'Fallon hieß, und der zu beduselt war, um ganz überzeugend zu wirken, und er stellte mich den beiden Damen vor, die nur Kosenamen besaßen und die aus irgendeinem Grund, sobald ich zu ihnen zu sprechen begann, zu lachen anfingen, bis sie beinahe platzten. Die eine von ihnen war recht hübsch, und beide waren viel mondäner angezogen, als gerade unbedingt notwendig war. Jedenfalls waren sie sehr nett zu mir und sagten, ich sei ein »Tschapperl« oder so etwas Ähnliches, ich konnte das Wort nicht verstehen, doch da sie so viel über mich lachten, nehme ich an, daß es ein Kompliment war. Auch auf Herrn Birmingham schien mein Äußeres Eindruck zu machen und er gab meinem Versucher zu verstehen, er glaube, ich tauge. Dann fragte er mich, was ich denn wäre, und ich sagte, ein Abstinenzler, was gar nicht wahr war, nur glaubte ich, es sei gut, wenn ich es sage; und die beiden Damen wollten sich vor Lachen ausschütten, und dann sagten sie, ich sei großartig.

Herrn O'Fallon schien ich aus irgendeinem Grunde nicht zu gefallen. Er war ein mürrischer Mensch, der die ganze Zeit vor sich hinbrummte, und schließlich winkte ihm Herr Birmingham, er solle mit ihm aus dem Zimmer gehn, und ich blieb allein mit Trupper (so hieß mein Verführer) und mit den beiden Damen. Auch Herr Trupper schien nicht sehr zufrieden mit mir zu sein, glaube ich. Er flüsterte mir zu, ich sollte mich in acht nehmen und es ihnen nicht zu schwer machen, oder etwas in der Art. Die Damen hörten nicht auf zu lachen. Sie waren sehr fröhliche Seelen.

Als Herr Birmingham zurückkam, ging er sofort auf den Kern der Sache los. Er begann mich über meine bisherige Laufbahn zu befragen und über meine Aussichten für die Zukunft, was ich so unwahrheitsgemäß beantwortete, als nur bei so geringer Vorbereitung möglich war. Dann fragte er mich, ob ich schon je daran gedacht hatte, mich mit »Bunco-steering« und »Greengoods-game« zu befassen.

Bunco-steering ist eine Art Bauernfang und besteht darin, daß man irgendeinem ganz fernstehenden und ahnungslosen Fremden seine Bekanntschaft aufdrängt, auf irgendeine Weise sein Vertrauen so sehr gewinnt, daß er einem all seine Wertgegenstände übergibt, mit denen man dann verschwindet. In allen großen Seebadhotels, wo viele Amerikaner verkehren, ist dieser Trick zu Hause. Denn aus irgendeinem Grund sind die Amerikaner die einzigen, die darauf hineinfallen. Ich weiß nicht warum.

Das Green-goods-game (oder der »Grüne-Noten-Trick« – die nordamerikanischen Banknoten sind grün) besteht darin, daß man behauptet, man habe falsches Geld zu verkaufen, und zwar Personen gegenüber, die mehr Habgier als Ehrlichkeit besitzen. Natürlich erklärt man, sie zu sehr günstigen Bedingungen beliefern zu können. Zehn Cent für einen Dollar ist, glaube ich, usuell. Ebenso natürlich hat man gar keine falschen Banknoten zu verkaufen, und man lockt seinem Kunden einfach nur Geld heraus. Das Geniale an dieser Sache ist, daß das Opfer, das da in etwas Kriminelles verwickelt ist, nicht wagt, einen verfolgen zu lassen, sondern daß man bei einigem Glück mittels Erpressung noch weitere Zahlungen aus ihm herausholen kann. Es versteht sich, daß Aussehen und Benehmen tugendhafter Unschuld zu diesen beiden Tricks vonnöten ist, und so fühlte ich mich durch den Antrag des Herrn Birmingham durchaus geschmeichelt.

Die Moral von dem Ganzen sei, fuhr er fort, daß ich von Natur zu diesen beiden Unternehmungen – besonders zu der ersten – berufen sei, da ich groß und dick und blond und blauäugig sei, mit einem blöden Gesicht und ausgesprochen schafsmäßigem Ausdruck. Der sei ihm sofort aufgefallen. Ich entgegnete, ich habe von diesen Tricks gehört, aber ich sei mit den Details nicht ganz vertraut. Er erklärte sie mir sorgfältig und fügte hinzu, ich könnte bald eine sehr geachtete Stellung einnehmen, wenn ich mich damit befassen wollte. Anfangs müßte ich mich mit einer geringeren Rolle begnügen, indem ich den Aufpasser abgebe, während der Trick im Gange sei, und mich mit den Gesichtern der »Geheimspitzel« vertraut machen, die gefährlich sein könnten. Man könnte dabei, sagte er, in einer Woche mehr »Marie« machen, als ich sonst hoffen dürfte, in einem Jahr zu verdienen, vorausgesetzt, daß ich es überhaupt zuwege brächte, in New York etwas zu verdienen. Nur eines müßte ich mir merken und immer wieder merken: Gehorsam, Gehorsam und nochmals Gehorsam!

Ich bin nicht ganz sicher, ob ich den Vorschlag nicht angenommen hätte, wären nicht die Damen dabei gewesen. Aber es kam mir so vor, als ob man von mir erwarte, daß ich mit ihnen auf freundlichem Fuße verkehren werde, und dazu hatte ich keine Lust. Auch hegte ich Zweifel, ob ich je mit Herrn O'Fallon wirklich befreundet werden könnte. So sagte ich denn, ich wollte mir die Sache vorerst ein wenig überlegen. Ich sagte es mit einiger Schüchternheit, denn ich hatte schon die Vision (die hauptsächlich aus dem Genuß von Schundliteratur herstammte), daß man mir »Hände hoch!« zurufen und mich durch einen Schlag auf den Kopf betäuben werde, um mich dann durch eine Falltür, die sich irgendwo hinter dem Kamin öffnen würde, in den Kanal zu werfen. Nichts dergleichen geschah. Herr Trupper blickte so drein, als ob es ihm sehr leid täte, und Herr O'Fallon, als ob er sehr froh sei, und die beiden Damen lachten, bis ihnen die Farbe von den Augenbrauen fiel, und Herr Birmingham sagte, er könne meine Gefühle sehr gut verstehen, und ich könne ihn jeden Abend hier sprechen, falls ich mich entschlossen habe. Dann schüttelten wir uns der Reihe nach die Hände, und ich ging.

Das war meine einzige richtige Erfahrung, die ich mit der Verbrecherwelt New Yorks machte, und ich fühle selbst, daß das herzlich wenig ist. Hätte es da nur ein Losungswort gegeben oder ein paar Schwüre und Androhung unausbleiblicher Rache, falls ich zum Verräter werde, es hätte mir selbst viel besser gefallen. Aber nichts dergleichen gab es, nicht einmal einen Revolver habe ich zu sehen bekommen, keine Masken, nein, wahrhaftig, keine von den gehörigen, romantischen Requisiten des Verbrechens. Mein Freund Dempsey, der als Polizist doch etwas davon verstehen muß, sagte mir später, da ich es ihm erzählt, Herr Birmingham sei wahrscheinlich mit einem Stadtrat verschwägert und eine Hand mit einem höheren Polizeioffizier, und wenn ich versucht hätte, ihn zu verraten, hätte ich eins auf den Kopf bekommen können, aber nicht von der Verbrecherbande, sondern von einem Polizeileutnant in der Wachstube. Nun ja, Dempsey ist etwas zynisch und hat vielleicht übertrieben. Ich weiß nur, daß das meine Einführung in die Verbrecherwelt war, und ich kann nichts dafür, daß es nicht sehr romantisch ist.

Ich hatte nichts zu bedauern, denn ich hatte dabei ein ordentliches, wenn auch schwerverdauliches Mahl herausgeholt, und das hatte ich damals schrecklich nötig.


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