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Er ging in sein Zimmer zurück und schüttelte den Kopf. »Ein seltsames Mädchen! Eine andere würde an ihrer Stelle begierig nach dem Reichtum gegriffen haben, der sich ihr in Aussicht stellt. Sie lehnt alles ab, will nichts damit zu tun haben, noch weniger mit mir, wie es scheint. Scheu und mißtrauisch sah sie mich an, als ob sie mich für einen Betrüger hielte. Freilich«, fügte er in seinem Selbstgespräch hinzu, »kann man es ihr nicht verdenken. Vom Onkel sind sie betrogen worden, was läßt sich da vom Neffen Gutes erwarten. Ich hoffe aber doch, wir kommen noch überein, Frau Saltino muß die Vermittlerin machen. Ein nettes Mädchen bleibt es doch.« Mit diesen Worten nahm er seinen Hut, bestieg seinen Wagen, der vor der Tür auf ihn wartete, und fuhr hinaus in seine Villa, wo er in Gottes freier Natur von den Sorgen und Lasten, die das große Geschäft mit sich brachte, aufatmen konnte.
Frieda war in tiefem Nachdenken nach Hause gegangen. Das war alles so überwältigend und unerwartet gekommen, wenn doch ihre liebe, unvergeßliche Mutter diesen Tag erlebt hätte, welche Freude für sie beide! Aber so?
Da klopfte es. Ein blonder Mädchenkopf guckte herein, schloß aber leise die Tür wieder und eilte zur Mutter. »Nun, Gretchen, kommt Fräulein Senker?«
»Mutter, sie sitzt in ihrem Lehnstuhl und weint; es ist ihr gewiß etwas Schlimmes begegnet. Sie hat mich nicht gehört, ich bin schnell weggelaufen.«
Mit Besorgnis eilte Frau Roller in Friedas Zimmer. Sie näherte sich ihr und umarmte sie sanft. »Liebes Kind, was haben Sie nur? Vertrauen Sie mir und lassen Sie sich raten.«
»Es sind geschäftliche Sachen, die der Herr mit mir verhandeln wollte. Ich soll viel Geld haben und brauch' doch nichts.«
»Sie törichtes Kind«, lachte Frau Roller. »Deshalb weinen Sie? Trocknen Sie schnell Ihre Tränen und erzählen Sie mir alles. Es muß doch irgend etwas zugrunde liegen. Umsonst bietet niemand dem andern Geld, besonders kein fremder Geschäftsherr einer jungen unbekannten Dame.«
Frieda erzählte nun Frau Roller von ihrer Vergangenheit, wußte aber mit dem ihr eigenen Taktgefühl die Sache so hinzustellen, daß der Verstorbene nicht als Betrüger erschien, sondern einem Irrtum oder einem Mißverständnis erlegen sei, und daß nun der Neffe vom Onkel auf dem Sterbebett den Auftrag erhalten habe, die Summe an die rechtmäßigen Eigentümer zurückzuerstatten. Da viele Jahre darüber hingegangen, sei die Summe angewachsen, der Herr habe es, wie er sagte, für sie verwaltet.
Frau Roller beglückwünschte Frieda und riet, die Erbschaft ja nicht törichterweise von sich zu schieben. Sie solle bedenken, daß sie nicht immer jung und kräftig bleiben würde, daß sie im Alter oder bei Krankheit wohl das Geld brauchen könne. »Und schließlich«, fügte sie hinzu, »wie viel Gutes können Sie tun, wenn Ihnen Mittel zur Verfügung stehen, wieviel Arme und Kranke gibt es, die unserer Hilfe bedürfen.«
Da leuchtete es plötzlich in Friedas Augen auf. Das war ein neuer Gedanke, der ihr bis jetzt ferngelegen hatte. Bisher war sie immer die Arme gewesen, für die andere Menschen sorgen mußten. Sie war immer die Empfangende gewesen, nun sollte sie die Gebende werden. Welch ein Glück, andern helfen zu können, sie hatte es sich immer gewünscht. »Ich danke Ihnen, daß Sie mich darauf aufmerksam machen, daran habe ich bis jetzt nicht gedacht.«
»Sehen Sie, kleine Törin, wenn ich nicht dazwischengekommen wäre, würden Sie einfach alles abweisen und Ihr Leben lang die arme Erzieherin bleiben.
»Ihre Erzieherin bleibe ich aber doch? Sie behalten mich doch, nicht wahr? Ich fühle mich so wohl bei Ihnen, und hier in der großen Stadt habe ich viel Gelegenheit, Armen und Kranken Gutes zu tun.«
Frau Roller schwieg und lächelte ungläubig dazu.
»Wollen Sie mich denn nun los sein?« fragte Frieda verzagt.
»Um keinen Preis, Liebste. Bleiben Sie, solange Sie können und wollen. Margarete und ich sind ja glücklich, Sie zur Hausgenossin zu haben, und wenn Sie in den Geschäftssachen meinen Rat gebrauchen, stehe ich Ihnen immer zur Verfügung.«
Das Gespräch mit Frau Roller diente zu Friedas Beruhigung. Wenn nur der Herr, mit dem das Geschäft abgewickelt werden sollte, ein anderer gewesen wäre! Und doch konnte sie nicht sagen, daß Herr Gruber ihr mißfiel. Er hatte, wenn er mit ihr sprach, etwas so Freundliches, Vertrauenerweckendes in seinen Zügen, in seinem ganzen Wesen. Wenn sie nur Klarheit über die Szene am Neuburger See hätte bekommen können. Doch auch die sollte kommen, früher als sie gedacht.
Einstweilen eilte es ja mit dem Geschäft nicht, hatte Herr Gruber gesagt. Sobald sie bereit sei, über die Geldverhältnisse mit ihm zu sprechen, solle sie ihm schreiben, er sei jeden Augenblick für sie da. Sie wollte jetzt ihrer Pflicht leben und vor den Sommerferien, ehe sie nach Buschrode reiste, konnten die Geschäfte dann erledigt werden. Plötzlich durchzuckte es sie freudig. Sie konnte nun ihrem Pflegevater, der durch Riedeck so große Verluste gehabt hatte, die Summe, die er in früheren Jahren für sie verausgabt hatte, zurückerstatten, sie konnte für alle schöne Geschenke mitnehmen und für die armen Familien des Dorfes sorgen. Das sollte eine Freude werden! Es war doch schließlich ganz hübsch, wenn man für andere etwas übrig hatte.
Nun war es Mai geworden. Alles blühte und duftete in den großen Anlagen der Stadt, in die Frieda mit Gretchen täglich ging. Es wurden aber auch weitere Spaziergänge unternommen, ebenso machte Frau Roller gern Ausfahrten. So waren sie auch an einem freien Nachmittag mit der Vorortbahn bis ans andere Ende der Stadt gefahren, immer weiter durch die vornehmen Vorstädte, wo es prächtige Villen mit herrschaftlichen Gärten gab. Sie stiegen an der Endstation aus und gingen in ein Restaurant, wo sie in dem hübsch gelegenen Garten Kaffee tranken. Da fiel es Frau Roller ein, daß hier in der Nähe eine Freundin von ihr wohnte, eine kranke, gelähmte Dame, die sie längst hätte besuchen müssen. Sie schlug Frieda vor, sich mit Margarete die schöne Villenstraße mit ihren wundervollen Gärten anzusehen. »Ich komme Ihnen nach einer halben Stunde etwa entgegen, wir fahren dann mit der Elektrischen oder mit einer Droschke nach Hause.«
»Bleibe, so lange du willst, Mutter«, rief Gretchen. »Ich werde mit Fräulein Senker fröhlich Zusammensein.« Sie verließen den öffentlichen Garten und begleiteten die Mutter bis zu dem Hause, wo die kranke Dame wohnte. Dann spazierten sie die schöne Straße auf und ab und bewunderten, stehen bleibend, hier und da die blühenden Sträucher und Blumen.
»Sehen Sie diesen wunderschönen Rotdorn, der dort zur Seite der Villa blüht, ich sah noch keinen von solcher Größe und Üppigkeit«, rief Margarete und eilte an das Gitter, das den Garten umschloß. Aber sie blieb an irgend etwas hängen, war es ein Nagel oder ein Dorn, ein großer Riß in dem duftigen Kleid war die Folge. Traurig hob sie das Röckchen in die Höhe und sagte: »Sehen Sie nur, Fräulein Senker, was machen wir nun?«
»Kann ich dem Fräulein behilflich sein?« sagte eine ältere einfach gekleidete Frau, die gerade dabei war, in der Nähe des Tores einen Blumenstrauß zu schneiden. »Wenn Sie eintreten wollen, will ich Ihnen gern den Riß zunähen.«
»Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Frieda. »Aber stören wir nicht?«
»Der Herr, dem die Villa gehört, ist in der Stadt und kommt erst am Abend wieder. Ich bin seine Haushälterin.« Mit diesen Worten öffnete sie das Gartentor und ließ Frieda und ihre Schülerin herein. »Kommen Sie mit ins Haus, kleines Fräulein, ich nähe Ihnen den Riß schnell zu.«
Sie machte gegen Frieda eine Handbewegung, auch näherzutreten. Die mochte nicht das Haus eines Fremden ohne weiteres betreten und meinte, sie würde sich, wenn es erlaubt sei, den schönen Garten näher ansehen. Die Frau verschwand mit der Kleinen, und Frieda wanderte von Beet zu Beet, den Blumenflor bewundernd.
Da stand plötzlich ein Mann vor ihr und schnitt an den Rosen. Die Gestalt kam ihr bekannt vor. Hatte sie sie nicht in früheren Jahren tagtäglich gesehen, die etwas verwachsene Gestalt, wo nur gleich? Jetzt wußte sie es! Im Hause des Onkel Wilms; es war Herr Richter, den sie immer mit seiner Mappe hatte ins Kontor gehen sehen. Sollte es wirklich der Herr Richter sein, der ihr von seiner Tante das Paket Lichter als Weihnachtsgeschenk gebracht hatte?
Er, der gebückt gestanden hatte, erhob sich jetzt. Sie erschrak. Da war die große Narbe auf der Stirn und das eine Auge! Es war nicht natürlich, das war ein Glasauge! Sie näherte sich ihm, bat um Entschuldigung und erzählte kurz die Veranlassung zu dem Eindringen in diesen Park.
Er stutzte, als sie zu reden anfing. »Wie ist mir«, sagte er, und strich mit der Hand über die Stirn, »die Stimme kommt mir so bekannt vor, und wenn ich das Fräulein ansehe, so nehme ich bekannte Züge wahr, sollten wir uns schon einmal begegnet sein?«
»Erinnern Sie sich der kleinen Frieda bei Onkel und Tante Wilms? Ich bin Frieda Senker.«
»Wie ist es möglich, daß ich Sie noch wiedersehe?« rief er voll Staunen. »Wie oft haben meine Gedanken sich mit Ihnen beschäftigt, immer habe ich gedacht, was wohl aus Ihnen geworden sein könnte. Und nun steht die ehemalige kleine Frieda als stattliches schönes Fräulein vor mir.« Er äußerte seine Freude so unverhohlen, daß Frieda über die Anhänglichkeit ganz gerührt war. Aber wie kam er hierher? Eine Flut von Gedanken stürmte auf sie ein. Er stand vor ihr, den sie für tot gehalten hatte. Aber daß er der Verwundete war, den sie damals gesehen hatte, das war ihr auch klar.
»Sie sehen mich an, ich bin sehr verändert. Ein unglücklicher Wurf hat mich so entstellt. Jahrelang habe ich darunter gelitten, bis die Erlösung kam. Jetzt bin ich geborgen, bin in den besten Händen.« Darauf erzählte er unaufgefordert das Erlebnis am Neuburger See, ohne jedoch Saltinos Namen zu nennen, und sagte, wie viel er seitdem gelitten habe. »Aber«, fuhr er fort, »seit Herr Gruber sich meiner angenommen hat, seit er meine Schwester als Haushälterin und mich als Hausverwalter und zeitweise als Privatsekretär angestellt, habe ich mein gutes Auskommen, lebe in gesunder Luft, so fehlt es mir an nichts.«
Gern hätte Frieda nach diesem und jenem noch geforscht, hätte Aufklärungen aller Art von ihm gewünscht, aber da kam das Fräulein Richter mit Margarete aus dem Hause, und gleichzeitig erschien Frau Roller am Tor und spähte unruhig umher. Zudem war Frieda erschrocken, als sie hörte, wem die Villa gehörte. Sie fürchtete, dem Herrn hier begegnen zu können. Darum eilte sie, nachdem sie Herrn Richter die Hand geschüttelt und seiner Schwester gedankt hatte, mit Gretchen der Mutter entgegen.
»Sie sehen ja aus, als hätten Sie ein Erlebnis gehabt«, sagte Frau Roller lächelnd, als sie Friedas erregtes Gesicht sah. »Was bedeutet der Besuch in dieser Villa?«
Gretchen unterbrach die Mutter, indem sie von ihrem Mißgeschick berichtete, und Frieda erzählte, daß sie in dem älteren Herrn dort einen früheren Bekannten getroffen habe. Dann kam die Elektrische herangesaust. Man stieg ein, und in der Gesellschaft anderer Passagiere wurde das Privatgespräch unterbrochen.
Aber Frieda wurde von seltsamen Gedanken beunruhigt. Es schien ihr nun klar, daß Herr Gruber ein Unrecht, das er an Richter begangen, dadurch sühnen wollte, daß er ihn und die Schwester ins Haus genommen hatte. Von einem Dritten, der beteiligt war, wußte sie nichts, nur diese beiden hatte sie am See gesehen. Die Szene, die sie im Laufe der Jahre beinahe vergessen hatte, trat jetzt wieder deutlicher vor ihre Augen. Sie mußte, sobald sie Veronika sah, sie fragen, ob sie wisse, was es für eine Bewandtnis mit Herrn Richter gehabt habe. Aber sie wollte vorsichtig sein, vielleicht ahnte die auch nicht, auf welche Weise der Mann sein Auge verloren habe.
Schon am folgenden Nachmittag klopfte es bei ihr. Veronika erschien mit dem Ausruf: »Liebste, bist du mir böse, schon seit Wochen hast du dich nicht sehen lassen. Oder bist du krank gewesen?«
»Keines von beiden«, erwiderte Frieda. »Ich werde dich bald einmal besuchen.«
»Zur Strafe sollst du schon morgen abend kommen, und zwar zu einer kleinen Gesellschaft.« Frieda versicherte, sie komme lieber einmal allein, aber Veronika bat sehr, sich morgen nicht auszuschließen. Es seien einige sehr liebenswürdige Familien da, denen sie eine Einladung schuldig sei; so mußte Frieda wohl zusagen.
Geschickt brachte sie das Gespräch dann auf Herrn Richter, erzählte, wie sie ihn früher gekannt und ihn nun zufällig wieder getroffen habe. »Aber er hat sich verändert«, sagte sie, »er hat eine große Narbe auf der Stirn und ein Glasauge.«
Jetzt war es an Veronika zu berichten.
»Immer wollte ich dir etwas ausführlich erzählen, aber ich fand nie den Mut. Mein Saltino ist an allem schuld! Ich erzählte dir schon in der Pension davon, nun sollst du die ganze Geschichte wissen.« Sie erzählte haarklein den ganzen Sachverhalt, Frieda hörte atemlos zu.
»Ein Glück«, fügte Veronika hinzu, »daß Herr Gruber dabei war, nun konnte mein Mann schleunigst einen Wagen holen, während Gruber bei dem Verwundeten blieb.« Dann lobte sie ihren Chef, der so edel an ihnen allen gehandelt hatte, über alles. »Du weißt, liebe Frieda, ich mochte wenig von Religion hören, auch mein Mann nicht. In Herrn Gruber ist uns wahres Christentum entgegengetreten. Wer so handelt, wie er gehandelt hat, wer so lebt, wie er lebt, wer sich so gegen seine Angestellten und Arbeiter verhält wie er, der muß aus einer Quelle Kraft schöpfen, die nicht von dieser Welt ist. Er hat es selbst meinem Mann gesagt, daß diese Quelle Gottes Wort ist. Daraus holt er sich täglich Rat und Kraft zu allem, was er tut und unternimmt. Seit mein Mann täglich mit Herrn Gruber verkehrt, spüre ich immer mehr den guten Einfluß, den er in jeder Beziehung auf ihn ausübt. Und wem verdanke ich wohl meine Sinnesänderung?« Sie sah Frieda mit liebevollen Blicken an und fügte hinzu: »Ja, gute Menschen haben großen Einfluß auf ihre Umgebung.«
Dann erzählte sie noch so viel Rühmenswertes und Gutes von dem Chef des Geschäftshauses, daß Frieda ihn von der Stunde an in ganz anderem Lichte sah als bisher. Sie war von Hochachtung erfüllt von dem, den sie bisher mit einer gewissen Scheu und mit Mißtrauen betrachtet hatte.