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Der Besuch in Neuburg

Nun war es im Pfarrhaus zu Buschrode still geworden. Großtante Kathinka hatte wieder ihr Heim in Neuburg bezogen, während die Tanten mit Frau Zeller und den Kindern nach der Hauptstadt zurückgekehrt waren. Frieda lernte jetzt erst richtig das Leben der Pfarrersleute mit ihrer Gemeinde kennen. Es waren gesegnete Stunden, wenn der Pfarrer einmal in der Woche Bibelstunde hielt. Da war das Haus für jedes Gemeindeglied geöffnet, wer kam, war willkommen. Die Stunden erfreuten sich einer regen Beteiligung. Mancher Bauer, der am Tag schwer gearbeitet hatte, stellte sich am Abend ein, um sich über Gottes Wort hier belehren zu lassen. Es gab kluge Leute darunter, die auf die Fragen des Pfarrers Antworten gaben, die von Nachdenken und Verständnis zeugten; sie stellten auch selbst Fragen, die den Beweis lieferten, daß die Leute in Gottes Wort zu Hause waren, und daß es bei ihnen nicht nur Verstandes-, sondern Herzenssache war. Auch die Frauen kamen gern, wenn sie ihre Tagesarbeit beendet hatten, der große Konfirmandensaal war oft gedrängt voll. Natürlich nahmen die Knaben und Mädchen, die Ostern eingesegnet wurden, immer an diesen Bibelstunden teil. Martha und Friedas Mitkonfirmandinnen versammelten sich öfters am Sonntagnachmittag im Pfarrhaus. Sie brachten ihre Handarbeiten mit, es wurde etwas Gutes gelesen, auch gesungen, was den Mädchen außerordentlich gefiel. Martha hatte eine sehr hübsche Stimme und war musikalisch, auch die Eltern liebten Musik und Gesang. Nachdem man Friedas Stimme geprüft hatte, erklärte der Pfarrer, er werde sich seines Pflegetöchterchens annehmen und nachzuholen suchen, was in dieser Beziehung an ihr versäumt worden. Der Hausherr fand wirklich noch Zeit, Frieda in der Musik zu fördern. Da sie sich als talentvolle Schülerin erwies, so machte es ihm selbst die größte Freude. Daß Friedas Dankgefühl gegen ihre Wohltäter täglich wuchs, läßt sich denken. Frau Charlotte veranlaßte die jungen Mädchen zu Krankenbesuchen im Dorf; bald gab es einer Alten etwas vorzulesen oder ihr eine Erquickung zu bringen, bald mußten sie ein krankes Kind hüten, wenn die Mutter notwendige Arbeiten zu erledigen hatte. Alle gemeinsame Arbeit machte den Mädchen Freude, ihre Herzen wuchsen immer mehr zusammen, und gerade dadurch, daß sie verschiedene Charakteranlagen hatten, ergänzten sie sich so ausgezeichnet.

»Wir wollen uns immer lieb behalten, auch wenn wir später einmal getrennt werden müßten«, sagte Martha, denn Frieda hatte erklärt, sie wolle nicht immer ihren Wohltätern zur Last fallen, sondern später auf eigenen Füßen stehen. Und wenn der Pfarrer sie auf dem Seminar ausbilden ließe, so würde sie ihre Schulden in einzelnen Raten abtragen, wozu die Pflegeeltern gelächelt und bemerkt hatten, sie solle nur vorderhand ganz ihr Kind bleiben.

Eines Morgens kam Frau Charlotte schon früh aus dem Dorf und rief den jungen Mädchen zu: »Denkt nur, die Frau Weber ist verunglückt und hat sich arg die Hand verstaucht, sie kann ihre Wirtschaft nicht versorgen, da müssen wir aushelfen. Geht miteinander und seht, was ihr helfen könnt, zu Mittag schicke ich einen großen Topf mit Suppe für die Familie.«

Gesagt, getan. Die Mädchen machten sich gleich auf den Weg. Am Ende des Dorfes lag ein kleines ärmliches Haus, dort wohnte die Familie. Schon von weitem tönte ihnen lautes Kindergeschrei entgegen. »Dort mag es gut aussehen«, meinte Martha. »Eine ganze Herde Kinder gibt es bei Webers, und wenn die Frau nichts machen kann –«

Beim Öffnen der Tür zeigte sich ein malerisches Bild. Frau Weber war eben dabei, einen kleinen Jungen zu züchtigen, der ihr immer wieder entschlüpfte, da sie nur eine Hand zur Verfügung hatte, die mit der Rute bewaffnet war. Jetzt hatte sie ihn in der Ecke, es regnete Hiebe, auf die ein fürchterliches Geheul erfolgte. Ein ganz kleines Kind saß auf der Erde und sog behaglich an einem nassen Schwamm, der den andern Kindern zum Waschen gedient haben mochte. Zwei Buben sprangen in ungemachten Betten umher, sie hatten den Augenblick benutzt, wo die Mutter mit der Züchtigung des Kleinen beschäftigt war. Ein kleines Mädchen mühte sich mit Kartoffelschälen ab, der Junge, der glücklich wieder der mütterlichen Zucht entronnen war, rannte in seinem Lauf gegen den Kartoffeltopf, die Kartoffeln purzelten heraus, und das Wasser ergoß sich über den nicht gerade sauberen Fußboden. Die erschrockenen Mädchen standen in der offenen Tür.

»Ach, du meine Güte, die Fräuleins!« rief die Frau. »Na, Sie kommen gerade recht, ach, du liebe Zeit, wie das hier aussieht! Ich bin doch sonst eine ordentliche Frau, aber was kann der Mensch, wenn er nur eine Hand hat. Emma, schnell, lies die Kartoffeln auf. Wollt ihr wohl, ihr Rangen!« Sie holte wieder mit der Hand aus und hieb um sich, denn die Jungen hatten schon begonnen, sich mit den Kartoffeln zu bombardieren. Das Kleine hatte eine an den Kopf bekommen und fing ein Zetergeschrei an.

Doch Martha hatte sich schon gebückt und es aufgenommen. Schnell steckte sie der Kleinen ein Biskuit ins Mäulchen, das sofort dem Geschrei ein Ende machte. Als die Gesellschaft merkte, daß die Kleine mit dem Mündchen wackelte, hörte das Toben auf. Neugierig kamen sie näher und sahen gespannt auf ein Körbchen, das Frieda am Arm trug.

»Verdient habt ihr nichts, denn ihr seid sehr ungezogen gewesen. Aber wenn ihr nun den ganzen Tag artig und manierlich sein wollt, sollt ihr etwas bekommen.« Sie teilte von ihren Schätzen aus, und es trat für ein Weilchen Ruhe ein.

»Es geht heute alles verkehrt«, sagte die Frau. »Daß ich fallen mußte, ist ein großes Pech.«

»Konnte denn der Mann nicht ein wenig helfen, eh' er auf die Arbeit ging?« fragte Martha.

»Der hat nichts angerührt. Wenn nicht die Frau Pfarrer gekommen wäre – ich schickte schnell die Emma –, und wenn sie mich nicht so schön verbunden hätte, dann wüßte ich nicht, was geworden wäre.«

Während sich Martha nun mit der Frau unterhielt, hatte Frieda sich still daran gemacht, die Betten in Ordnung zu bringen. Dann ließ sie sich von der kleinen Emma Kamm und Bürste bringen und glättete ihr Haar. »Sehen Sie, Frau Weber, Frieda hilft schon tüchtig mit, nehmen Sie mir die Kleine ab, ich gebe sie Ihnen auf den Schoß, mit dem linken Arm können Sie sie gut halten, dann bringen wir beide die Stube in Ordnung. Die Jungen können ein wenig hinausgehen, es ist mildes Wetter.«

»Aber auch glatt, Fräuleinchen, ich lasse heute keinen von die Kinder 'naus.«

»Sie müssen vorsichtig sein, dann fallen sie nicht.«

Ohne weiteren Einspruch zu erheben, ließ die Frau es geschehen, daß die jungen Mädchen den Buben die wollenen Mützen über die Ohren zogen und sie hinausjagten. Nun hatten sie freien Spielraum. Emma hatte die Kartoffeln aufgelesen, sie gewaschen und mit Hilfe Friedas aufs Feuer gesetzt, damit der Vater, wenn er komme, sein Mittag bereit fände. Zur rechten Zeit stellte sich Rieke mit einem großen Topf Erbsensuppe mit Speck ein. Die Kartoffeln wurden hineingeschüttet, so hatte die Familie ein gutes Mittagessen.

Martha und Frieda verließen das Häuschen nicht eher, als bis Vater Weber kam. Er war sichtlich erfreut, alles in Ordnung zu finden und versprach, seiner Frau beizustehen, so gut es ginge.

Die jungen Mädchen aber führten ihre Liebesarbeit in dem Häuschen solange durch, bis die Hand der Frau Weber wieder arbeitsfähig war. Am Nachmittag wurden die jüngeren Kinder oft ins Pfarrhaus geholt, um der Frau Ruhe zu verschaffen.

Sehr gerne machten die jungen Mädchen einen Ausflug in die nahe Stadt, es gab immer einige nötige Besorgungen und gleichzeitig wurde der Großtante ein Besuch abgestattet. Sie hatte am Marktplatz, in einem Eckhaus, eine gemütliche kleine Wohnung, die ganz wie Tante Kathinka selbst das Gepräge alter Zeit trug. Da gab es hochbeinige gepolsterte Möbel, mit geschnitzten Lehnen, antike Schränke mit Messingbeschlägen, eine alte Stehuhr, die mit volltönendem Klang die Stunden angab, und wenn sie selbst mit ihrer altmodischen Haube und der Hornbrille eifrig strickend in dem hochlehnigen Stuhl saß, so war das Bild aus alter Zeit fertig. Sie war, wenn sie auch oft die Jugend schulmeisterte, herzensgut, freute sich über jeden Besuch und machte es ihren Gästen heimisch und traulich. Wenn es daher hieß: »Morgen fährt Christian nach Neuburg, wollt ihr Mädchen mit«, blieb keine zurück.

An einem milden Märztag, der schon Frühlingsahnen brachte, sollte wieder einmal eine Fahrt nach Neuburg unternommen werden. Da erkrankte Martha leicht, so daß von ihrer Beteiligung abgesehen werden mußte. Weil aber manches Nötige besorgt werden soll, so bot sich Frieda an, allein zu gehen. Frau Charlotte war's zufrieden, wußte sie doch, daß die Einkäufe von der Pflegetochter gut ausgeführt wurden.

Frieda freute sich zudem auf den Besuch bei der Großtante. Sie saß gern bei ihr und ließ sich aus dem Schatz ihrer Erfahrungen mitteilen oder aus ihrem Leben erzählen.

Es war eine genußreiche Fahrt nach dem langen kalten Winter im Frühlingssonnenschein. Der Schnee war von den Feldern verschwunden, grüne Saaten wurden hier und dort sichtbar, die Bäume streckten und dehnten ihre Zweige der Sonne entgegen, und die Lerchen erhoben sich jubelnd in die Luft. Es war Frieda weh und froh ums Herz. Weh, wenn sie an ihr Mütterlein dachte, die einst in dieser Jahreszeit auf ihrem letzten Lager gelegen war, zum Heimgang bereit; froh, daß sie wieder eine Heimat gefunden hatte, wie sie sich's nicht lieblicher hätte träumen können. Unter diesen und ähnlichen Gedanken verging die Zeit schnell, da tauchte schon der Kirchturm von Neuburg auf, und bald rasselte der Wagen ins Städtchen. Vor Tante Kathinkas Wohnung auf dem Markt wurde gehalten, Frieda ließ sich von Christian den Korb geben, den die sorgsame Hausfrau für die Tante gepackt hatte. Er enthielt allerlei Erzeugnisse des Gartens, vor allem Gemüse, das die Tante hochschätzte. Nachdem das junge Mädchen mit dem Kutscher verabredet hatte, wann er sie am Abend abholen sollte, fuhr er weiter, um auszuspannen und seine zahlreichen Besorgungen auszuführen.

Frieda wollte sich eben mit dem Korb ins Haus begeben, da kam ihr schon das Mädchen der Tante mit den Worten entgegen:

»Die Frau Tante hörte schon den Wagen kommen, sie kennt genau das Traben der Buschroder Pferde, sie wird sich aber freuen –«

Ja, die alte Großtante freute sich sehr über den Besuch, stand schon in der offenen Tür und streckte Frieda beide Hände entgegen.

»Wo bleibt denn aber Martha? Tante Charlotte schrieb, daß ihr beide heute meine Gäste sein würdet.« Frieda berichtete, daß Martha stark erkältet sei und im Bett bleiben müsse.

»Erkältungen gab's in meiner Jugend nicht«, konnte Tante Kathinka nicht unterlassen zu sagen. »Wir waren doch abgehärteter als ihr.« Dem widersprach Frieda.

»O Tante, du hättest uns nur sehen sollen, wie wir uns in der langen Winterzeit im Schnee getummelt haben, mit welcher Wonne wir auf dem großen Teich schlittschuhliefen.«

»Schlittschuhlaufen der Mädchen war zu meiner Zeit nicht Mode. Das wurde den Knaben überlassen.«

»Aber es ist etwas so sehr Schönes und dabei sehr gesund, Tante.«

»Ich bin eine alte Frau und verstehe die Jetztzeit nicht. Aber nun geh, Kind, und mache deine Einkäufe, dann sollst du ein gutes Mittagessen bei mir haben.« Und es war vorzüglich. Darin war aber die Tante auch altmodisch, daß sie den Gästen vorlegte, und zwar so reichlich, daß es oft des Guten zu viel wurde. Die jungen Mädchen, die gewöhnlich guten Appetit mitbrachten, ließen es sich wohl sein bei der Fülle; so schmeckte es denn auch Frieda nach den Besorgungen in der Stadt.

Nach Tisch mußte die alte Dame ein Stündchen Ruhe haben. »Benutze doch lieber das schöne Wetter zu einem Spaziergang«, riet die Tante. »Die Umgebung der Stadt ist reizend, besonders nach der andern Seite hin, die du noch nicht kennst. Der See mit dem Buchenwäldchen an seinem Ufer gibt ein malerisches Bild. Du gehst aber wohl nicht gern allein?«

»Es wäre ja hübscher mit Martha zusammen, seit ich Martha habe, trenne ich mich ungern von ihr. Halte du nur ein Mittagsschläfchen in deinem Lehnstuhl, in einer Stunde bin ich wieder hier.« Sie wanderte munter durch die kleine Stadt, die in vielem dem Ort ähnelte, in dem sie mit ihrer Mutter gelebt hatte. Kinder spielten auch hier auf der Gasse, Frauen standen plaudernd zusammen oder sie schritten eilfertig aus, um dies oder jenes zu besorgen. Still und fremd ging Frieda ihres Weges. Manchmal schauten ihr einige nach und machten Bemerkungen, als: »Die kennen wir ja gar nicht«, oder, »das muß eine Fremde sein, die muß mit dem Pfarrchristian aus Buschrode gekommen sein, mir scheint's, ich sah sie auf dem Pfarrwagen sitzen.« – »Ja«, meinte eine andere, »dort sollen sie eine Fremde angenommen haben.«

Frieda kümmerte sich nicht darum und war froh, als sie das Städtchen hinter sich hatte. Hier war es still und menschenleer. Ein freundliches Bild tat sich vor ihr auf. In der Ferne glänzte durch die noch kahlen Bäume eines Buchenwäldchens ein See, sie glaubte ihn auf der Landstraße, die durch das Wäldchen führte, in einer Viertelstunde erreichen zu können. Es mußte hier im Sommer schön sein, wenn die Bäume belaubt waren und zu ihren Füßen liebliche Waldblumen blühten. Sie freute sich schon, bei dem nächsten Besuch in Neuburg mit Martha gemeinsam hierher zu wandern. Jetzt hatte sie den Wald erreicht und wandte sich seitwärts von der Landstraße ab, um zum See zu kommen, dort mußte die Aussicht herrlich sein. Dann aber wollte sie gleich umkehren, um das Kaffeestündchen bei der Tante nicht zu versäumen, die das Zuspätkommen durchaus nicht liebte.

Doch das Vordringen bis zum Seeufer wurde durch hohes Gestrüpp gehemmt, das ihr, je näher sie kam, den freien Ausblick verwehrte. Aber dort war eine Lücke, nur einen Blick wollte sie auf den hübschen See tun und dann zurückgehen. Halt, rührte sich nicht etwas hinter dem Strauchwerk?

Neugierig, was es sein könnte, schlüpfte sie schnell durch die freie Stelle, blieb aber wie gelähmt stehen, denn ein Anblick bot sich ihr, der sie starr vor Schreck machte. Ein bleicher Mann lag dort, mit blutüberströmtem Angesicht, gegen den Baum gelehnt, er war augenscheinlich tot. Ein anderer lief hin und her, als suche er etwas. Da wurde er Friedas ansichtig. Er lief auf sie zu mit den Worten: »Ein Tuch, Kind! Um Gottes willen, ein leinenes Tuch!« Mechanisch zog sie ihr Taschentuch, es sehen und es ihr aus der Hand reißen war eins. Doch noch einmal kehrte er um, faßte ihre Hand mit festem Druck und sagte: »Kind, kannst du schweigen?« Die nickte stumm. »Schweige über das, was du hier gesehen hast, versprich es!« Er sah sie mit großen dunklen angsterfüllten Augen an, und sie stammelte: »Ich verspreche es.« Dann lief er, was er laufen konnte, mit dem Tuch zum See hinunter, indem er noch einmal laut rief: »Halte dein Versprechen!«

Frieda, die zuerst wie gelähmt dagestanden, stürzte jetzt davon und rannte, so schnell sie ihre Füße zu tragen vermochten, bis sie wieder auf die Landstraße kam. Dort sah sie einen Wagen kommen, er fuhr schnell an ihr vorüber. Es war ein geschlossener Wagen, der Kutscher hieb auf die Pferde, als habe er große Eile. Sie wußte nicht, saß jemand darin oder nicht, es war ihr in diesem Augenblick alles gleich, nur fort! nur fort! Immer wieder tönten die Worte an ihr Ohr: »Halte dein Versprechen.« Nur wieder unter Menschen, zur Tante hin, das war ihr einziger Gedanke.

»Nun, Kleine, ist es denn gar so eilig, sachte, sachte!« rief eine Frauenstimme kurz vor der Stadt. Jetzt kam sie zur Besinnung; sie mäßigte ihre Schritte, und als die Frau ein Stück weitergegangen war, blieb sie stehen und legte die Hand auf ihr laut klopfendes Herz. Sie wollte sich den Schweiß von der Stirn wischen, doch erschrocken fuhr sie mit der Hand aus der leeren Tasche. Sie schauderte, zu welchem Zweck war das Tuch gebraucht! Es wirbelte ihr im Kopf, sie vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. Doch Tante Kathinka wartete, sie mußte weiter und zwang sich zur Ruhe. Sie konnte Selbstbeherrschung üben, wie wohl selten ein Mädchen ihres Alters. Wenn die Großtante hätte ahnen können, was sie da am See erlebt hatte, wie viel lieber hätte sie ihr wohl ein Buch gegeben und sie in ihrer Nähe behalten.

Ruhigen Schrittes ging sie durch die Stadt. Die Großtante stand wieder an der offenen Tür. »Ganz pünktlich«, sagte sie freundlich. »Aber Kind, wie siehst du aus! So erhitzt, als wärst du in glühender Sommerhitze gewandert. So peinlich ist die Großtante nicht, wenn jemand sich um ein Viertelstündchen verspätet. Es war wohl weiter, als ich dachte. Es ist doch ein schöner Blick auf den See, mit dem Schlößchen am jenseitigen Ufer.«

Frieda nickte stumm. Aber plötzlich brach sie in ein bitterliches Weinen aus, griff wieder mechanisch in die Tasche und fand kein Tuch. Besorgt fragte die Tante, ob ihr jemand etwas zuleide getan habe, und als Frieda den Kopf schüttelte, sagte sie vor sich hin: »Es war zu viel für das gute Kind. Erst am Morgen die frühe Ausfahrt, dann die vielen Besorgungen. Sie hätte sich ausruhen müssen nach Tisch. Wir waren allerdings früher anders, konnten mehr vertragen.«

Frieda hätte dem sicher widersprochen – jetzt aber war sie froh, daß die Großtante ihre Erregung auf Ermüdung zurückführte, und verhielt sich schweigsam. Sie beruhigte sich allmählich, trocknete ihre Tränen und bat die Tante zu verzeihen, daß sie ihr unnötige Aufregung gemacht habe. Sie trank dann mit der Tante Kaffee, war aber einsilbig und still, antwortete nicht so eingehend wie sonst auf Fragen, die die Tante stellte, so daß diese sie oft kopfschüttelnd von der Seite ansah und dachte, es müsse ihr irgend etwas Unangenehmes unterwegs zugestoßen sein, was sie nicht gern sagte. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie das junge Mädchen hatte allein gehen lassen. Es war gut, daß Christian auf dem Rückweg viel von seinen Erlebnissen in der Stadt zu erzählen wußte. Frieda mußte wohl oder übel zuhören. Sie wurde dadurch von ihren Gedanken abgelenkt und die Heimfahrt ging schnell vonstatten.

»Gustav«, sagte abends Frau Charlotte zu ihrem Mann, »kam Frieda dir nicht verändert vor? Wenn sie früher aus der Stadt kam, wußte sie fröhlich und heiter von allem Erlebten zu erzählen, heute war sie still und gedrückt, ja es schien fast, als habe sie geweint.«

»Mir ist es auch aufgefallen«, meinte der Pfarrer nachdenklich. »Sie ist selbstlos und denkt immer nur an andere, sie ist traurig gewesen, daß Martha das Vergnügen nicht mitgenießen konnte. Es ist auch möglich, daß sie unterwegs allein war, daß ihre Gedanken zu dem fernen Grab der Mutter gewandert sind. Sie wird morgen schon wieder anders sein.«

Martha schlief fest, als Frieda nach oben kam. Das war ihr gerade recht. Sie holte ihre Bibel und las den Abschnitt des Tages: »Du bist mein Fels und meine Burg, um deines Namens willen wollest du mich leiten und führen.«

Das Wort stärkte sie, gab ihr Vertrauen und Mut, es wurde stille in ihrem Herzen, wenn auch die Gedanken noch nicht gleich zur Ruhe kommen wollten. Wenn sie nur Klarheit hätte über das, was sie gesehen! War es ein Unglück oder lag eine böse Tat zugrunde? Sie befürchtete letzteres, warum hätte sonst der Herr mit den dunklen Augen ihr so energisch Schweigen geboten. Der Herr in dem feinen hellen Anzug machte einen durchaus vornehmen Eindruck, ihr stand die ganze Persönlichkeit so deutlich vor Augen, daß sie sie unter Hunderten herausfinden würde; nie würde sie diese Augen vergessen, die so angstvoll auf sie gerichtet waren. War es recht, daß sie voreilig das Versprechen gab zu schweigen? Wäre es nicht eine große Erleichterung für sie gewesen, wenn sie es den Ihrigen hätte mitteilen dürfen? Nun durfte sie es nicht, sie hatte versprochen nichts von dem, was sie gesehen hatte, zu verraten. Ihre Mutter hatte es ihr zu oft eingeprägt, daß ein gegebenes Versprechen nie gebrochen werden dürfe. Alle Lehren der Mutter aber waren ihr fest ins Herz gepflanzt, ihr Nichtbefolgen würde ihr als großes Unrecht erschienen sein. War hier wirklich ein Verbrechen geschehen, so würde es jedenfalls an den Tag kommen.

Von dem Toten oder Verwundeten hatte sie nur einen flüchtigen Eindruck. Aber es war ihr, als ob sie den Daliegenden schon früher gesehen und gekannt hätte. Aber wo? Sie konnte es nicht mehr durchdenken, der Kopf schmerzte, sie war angegriffen und müde. Wunderbarerweise schlief sie fest und ruhig, das Ereignis des Tages beunruhigte sie nicht.


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