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Am anderen Morgen erwachte die kleine Frieda schon früh. Sie kleidete sich rasch an, und da sie Frau Nekel in der Küche herumwirtschaften hörte, sich also unbeobachtet wußte, ging sie schnell nach oben. Sie wollte noch einmal die Räume sehen, in denen sie mit ihrer Mutter so glücklich gewesen war. Ob die Mutter immer glücklich war? Traurig hatte sie oft dreingeblickt, mitunter waren ihr Worte entschlüpft, die ihr, dem Kinde, unverständlich waren. »Liebe Frieda«, hatte sie einmal gesagt, »ich hätte mir dein Los anders vorgestellt, aber es ist nicht meine Schuld.« Was die Mutter gemeint hatte, war ihr nicht klar; sie hatte es bei der Liebe der Mutter so gut gehabt.
Still ging sie durch den Raum. Die schönen Bilder waren von der Wand abgenommen und standen mit der Kehrseite ihr zugewandt. Die einzelnen Möbel, der Glasschrank mit den Büchern, die Kommoden, die große Uhr, jedes Stück hatte seine Erinnerung. Nun sollte sie nichts behalten. Wessen Eigentum würden sie wohl werden?
Da ließen sich Männertritte hören. Sie schrak zusammen. Schnell trat sie hinter den großen Schrank, der den mittleren Raum des Zimmers einnahm.
»Es muß so viel wie möglich aus den Sachen herausgeschlagen werden, Herr Auktionator«, sagte eine kräftige Stimme.
»Das will ich wohl, Herr Wilms, aber Steinfeld ist eine kleine Stadt. Honoratioren gibt es nicht viele, ob von der Landbevölkerung jemand hereinkommt, ist ungewiß –«
»Kind, was tust du hier«, rief eine Stimme plötzlich neben ihr, die Frieda als die des Onkels erkannte. »Mache, daß du nach unten kommst, Kinder haben hier heute gar nichts zu tun.« Er hatte mit seinen scharfen Augen das Kind entdeckt, das sich schnell aus dem Staube machte.
Frau Nekel empfing die Kleine unten mit mütterlicher Zärtlichkeit. »Schon davongelaufen, Friedchen! Du hast noch nichts gegessen, komm, der Kaffee wartet schon lange. Der Onkel war ungehalten, daß er dich nicht fand, du solltest auf keinen Fall oben hinauf, sollst den ganzen Morgen ruhig im Zimmer bleiben. Hat er dich gesehen?«
Frieda umschlang die Alte, begann bitterlich zu weinen und rief: »Kann ich nicht bei Ihnen bleiben, liebe Frau Nekel; ich mag nicht mit dem Onkel gehen. Bitte, bitte, behalten Sie mich doch!«
Der Frau ward es selber weich ums Herz, aber sie bezwang sich und redete dem Kind zu, wie gut sie es bei den Verwandten haben würde, wie die Tante gerade wie die liebe Mutter sein und wie alles sich viel schöner gestalten würde, als sie es sich vorstellte.
Eine Stunde später stand die Kleine wieder am Fenster und sah, wie eine Menge Menschen dem Hause zuströmten und die Treppe hinaufstürmten. Es mochten wohl viele Neugierige dabei sein, denn manche kamen bald wieder heraus, um andern Platz zu machen. Laut tönte die Stimme des Auktionators, laut dröhnte es, wenn er zuschlug, und Gepolter machte es, wenn die Glücklichen, die etwas erbeutet hatten, mit ihren Sachen die Treppe herunterkamen. Frieda aber machte große Augen, wenn die schönen Stücke, die Mutters Wohnung geschmückt hatten, an dem Fenster vorübergetragen wurden.
»Da geht alles hin«, sagte sie ergeben, als Frau Nekel in die Stube kam.
»Aber es bringt schönes Geld ein, und das Geld gehört alles der kleinen Frieda.«
Diese Bemerkung machte nicht den gewünschten Eindruck. Das Kind verstand noch nicht viel von Geld und Geldeswert. Wenn es auf Frieda angekommen wäre, hätte sie lieber alles, was der Mutter gehört hatte, um der Erinnerung willen behalten.
Der Morgen wurde ihr sehr lang. Als das Getöse oben nachließ, hörte sie wieder die lauten Stimmen der beiden Herren. Bald kamen sie herunter und betraten das Zimmer. Der Onkel hatte, wie es schien, eine verdrießliche Miene aufgesetzt, er wollte jedenfalls mit dem andern Herrn allein reden, denn er rief aus der Tür: »Frau Nekel, nehmen Sie doch die Kleine eine Weile zu sich in die Küche.« Und sich an Frieda wendend: »Geh, Kind, du kannst Frau Nekel gewiß etwas helfen.«
Sehr schnell war sie draußen, und als Frau Nekel sie hier und da anstellte und sie lobte, wenn sie geschickt dabei verfuhr, wurde das kleine Gesicht ganz belebt, sie schien für den Augenblick alles zu vergessen, was das Herz bedrückte.
»Siehst du, heute mache ich dir noch ein Leibgericht, weil es der letzte Mittag ist. Nicht wahr, du vergißt mich nicht und schreibst mir einmal, wie es dir geht?«
»Ich vergesse Sie nie, Frau Nekel. Sie sind so gut zu mir. Wenn das meine Mutter wüßte.«
»Sie weiß es, Kind. Die Seligen wissen alles.« Das war ihre Ansicht, in der sie sich nicht irremachen ließ.
Die Herren hatten gar lange Beratungen. Frau Nekel deckte in der Küche den Tisch für sich und ihren Mann. Auch für Frieda war ein Platz dabei. Das alte Ehepaar aß immer in der Küche. »Das Zimmer bleibt sauberer«, pflegte die Alte zu sagen, und Frieda fand es bei diesen Leuten ganz in der Ordnung, weil es immer so gewesen. Bei der Mutter war es anders, dort war im Zimmer gedeckt worden, auch gab es silberne Löffel statt der zinnernen. Aber es schmeckte ihr bei den alten Leuten sehr gut, denn es war mit Liebe gekocht, und das macht viel aus.
Jetzt wurde die Küchentür geöffnet. »Wir sind früher fertig geworden, als ich dachte, Frau Nekel, vielen Dank für alles, auch daß Sie das Kind hier so lange verpflegt haben. Bitte, sorgen Sie dafür, daß Frieda mit ihrem Gepäck um fünf Uhr auf dem Bahnhof ist, ich werde mich um diese Zeit dort auch einfinden. Leben Sie wohl.« Sprach's und war verschwunden.
»Alter«, sagte Frau Nekel zu ihrem Mann, »kannst du dich heute nachmittag von der Arbeit ein Stündchen freimachen? Der Koffer ist halt zu schwer für mich, und ein Dienstmann kostet Geld.«
»Muß wohl«, war die Antwort. »Für die kleine Frieda tut man es schon gern. Wie wird es mit dem Bett?«
»Es soll mit Fracht geschickt werden, das können wir morgen besorgen.«
Der Onkel ging schon mit großen Schritten auf dem Bahnsteig auf und ab, als die beiden Alten mit dem Koffer ankamen. Frieda trippelte nebenher in ihrem schwarzen Hütchen und einer einfachen schwarzen Jacke. Sie trug etwas sehr vorsichtig, das mit einem Tuch verhangen war.
»Es ist höchste Zeit«, rief Herr Wilms. »Sie kommen selbst mit den Sachen, es hätte ja auch ein Dienstmann genommen werden können. Bitte, wollen Sie den Koffer im Gepäckraum abgeben, er muß sofort aufgegeben werden.« Nachdem dies geschehen, sagten die Alten der kleinen Waise Lebewohl und ermahnten sie, dem Onkel zu folgen, der schon wartend an dem eben eingelaufenen Zuge stand.
»Schnell Kind«, sagte er und hob sie in das Abteil. Dann sprang er selbst hinein, und nach kurzer Zeit brauste der Zug davon.
»Vater«, sagte Frau Nekel auf dem Rückweg zu ihrem Mann, »Vater, weißt du, das Kind tut mir leid, ich glaube, viel Liebe wird es nicht finden.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge.
»Mutter, du bist so rührsam. Die Kleine wird sich schon durchs Leben schlagen. Je härter die Jugend, desto schöner das Alter.« –
»Mein Kind, was hast du da unter dem Tuch verborgen?« fragte Herr Wilms, nachdem sie eine Strecke gefahren waren, und hob mit der Hand das Tuch ein wenig in die Höhe.
»Meinen kleinen Vogel«, sagte Frieda schüchtern; »Frau Nekel meinte, ich könnte ihn mitnehmen.«
»Ob das meiner Frau passen wird?« fügte Herr Wilms hinzu und machte ein unzufriedenes Gesicht. »Jedenfalls hätte ich erst gefragt werden müssen. Hast du denn Futter für das Tier?«
»Frau Nekel hat mir eine große Tüte mit Vogelfutter geschenkt.« Es trat eine Pause ein. Frieda dachte daran, ob wohl der Onkel oder die Tante ihr Geld geben würde, später neues zu kaufen. Sie besaß ja wenig oder gar nichts, und die Mutter, die früher für alles gesorgt hatte, war nicht mehr da. Sie konnte sich noch keine Vorstellung von ihrem künftigen Leben bei den Verwandten machen. Bis jetzt hatte sie noch große Scheu vor dem langen, etwas sauer dreinschauenden Onkel. Er sprach während der langen Fahrt kaum, nur hin und wieder machte er eine Bemerkung oder tat eine Frage.
Es dunkelte bereits. Endlich wurde ausgestiegen. Sie betraten einen Saal, der hell erleuchtet war. Reisende saßen an Tischen und verzehrten ein Abendbrot, oder sie liefen eilfertig umher, um sich Plätze zu suchen. Einige hasteten mit ihren Sachen zu einem abgehenden Zug hinaus.
»Wir haben eine Stunde Aufenthalt und wollen etwas essen«, sagte Herr Wilms, bestellte ein Butterbrot für sich und das Kind, trank ein Glas Bier dazu, zog eine Zeitung heraus und las, während Frieda dem Treiben der ankommenden und abgehenden Reisenden zusah. Der Onkel bestellte noch einmal etwas für sich und fragte: »Willst du auch noch etwas oder hast du genug?«
Jetzt meldete der Schaffner ihren Zug nach F., in dem das Unterbringen des Vogels einige Schwierigkeiten machte, da das Abteil stark besetzt war. Frieda behielt ihren Liebling ständig auf dem Schoß, bis ein Herr sagte: »Kleine, jetzt wird geschlafen, gib deinen Vogel her, ich setze ihn vorsichtig ins Netz, da steht er sicher.«
»Es ist ein Unsinn, daß das Kind den Vogel mitnahm«, brummte Herr Wilms, »überall macht es Umstände.« Frieda war dem freundlichen Herrn sehr dankbar; sie fühlte große Müdigkeit und konnte sich nun zurücklehnen und die Augen schließen. Es währte nicht lange, so senkte sich ein wohltätiger Schlaf auf ihre Lider. Sie vergaß alles Leid der letzten Tage und sah sich im Traum mit ihrer geliebten Mutter zusammen im traulichen Heim.
Nach etwa zwei Stunden fühlte sie sich an den Schultern gefaßt, eine Stimme rief: »Aussteigen, wir sind daheim.« Der Onkel hatte schon den Vogel in der Hand und behielt ihn auch, als sie über den Bahnsteig schritten. Es war dunkle Nacht.
»Gib mir deine Hand, du findest hier nicht zurecht«, sagte er. Frieda, die noch schlaftrunken war, legte vertrauensvoll ihre Hand in die des Onkels und trippelte neben ihm her in die dunkle unbekannte Welt. Es mochte zwei Uhr nachts sein, als sie sich der Wohnung des Onkels näherten. Es war ein kleines Haus in der Vorstadt, das in einem Garten lag. Zwei Fenster im Erdgeschoß waren noch erhellt.
Herr Wilms betrat den Vorgarten, gab Frieda den Vogel und suchte in seiner Tasche nach einem Schlüssel. Beim Öffnen der Haustür wurde eine starkgebaute Dame sichtbar, die ein Licht machte. »Wilms, bist du da?« rief sie. »Und dies ist die Kleine? Komm herein, mein Kind, was trägst du denn in der Hand «
Frieda setzte befangen das Bauer auf einen Tisch, der nächst der Tür stand, während die Dame ihren Gatten begrüßte. Dann zog sie die Kleine in die Stube an einen gedeckten Tisch mit den Worten: »Nun iß etwas, mein Kind, und dann ins Bett, es ist nicht gut, wenn Kinder in der Nacht reisen müssen. Aber es ließ sich nicht ändern, mein Mann muß morgen wieder an die Arbeit.«
Frieda trank mit Behagen eine Tasse Tee, sie war sehr durstig; dann aß sie ein wenig, doch fielen ihr vor Müdigkeit die Augen zu.
»Sie ist todmüde und muß gleich ins Bett«, sagte Frau Wilms, die brennend neugierig war, ihren Mann allein zu sprechen. Sie begleitete die Kleine eine ziemlich steile Treppe hinauf auf den Boden, wo an einer Seite des Hauses in einer Dachkammer ein Bett für sie bereit stand. Frieda war zu müde, um sich lange umzusehen. Sie kleidete sich schnell aus und war in wenigen Minuten im Bett. Frau Wilms sagte ihr gute Nacht, nahm das Licht und ging hinunter. Zwei Minuten später schlief Frieda tief und fest im neuen Heim.
Herr Wilms saß zurückgelehnt in der Sofaecke, als seine Frau das Zimmer betrat. »Nun erzähle«, sagte sie mit einem Gesicht, das vor Begierde brannte, Ausführliches zu hören über die Sache, die sie seit einigen Wochen sehr bewegt hatte. »Werden wir denn eine gute Pension bekommen für die Waise, die uns so unerwartet ins Haus geflogen ist?«
Er lachte bitter. »Gute Pension, mein Kind? Fast gar nichts hat Luise Senker hinterlassen, und aus den Sachen ist lächerlich wenig herausgekommen.«
»Ich denke, sie hatte wertvolle Sachen. Man hat doch immer gehört, daß sie früher ein großes Haus geführt haben. Wo ist denn das alles geblieben?«
»Wahrscheinlich verkauft. Es waren einige gute Möbel dabei, aber es wurde nicht hoch geboten, der kleine Ort hatte nicht viel reiche Käufer aufzuweisen.«
»Es ist aber doch so viel Geld da, daß wir nicht zu kurz kommen, wenn wir das Kind behalten? Du weißt, daß die Mutter schrieb, wir sollten ihr eine sorgfältige und gute Erziehung geben, damit sie sich später einmal ihren Lebensunterhalt als Lehrerin verdienen könne. Sie muß also eine höhere Töchterschule besuchen, das kostet viel Geld. Außerdem sollen wir sie nähren und kleiden«, murrte Frau Wilms unzufrieden. »Eine unangenehme Zugabe.«
»Ja, eine sehr unangenehme Zugabe«, wiederholte er, und beide Eheleute sahen sehr sauer drein.
»Sie ist nun einmal da«, seufzte Frau Wilms, »ich muß versuchen, möglichst viel Vorteil aus ihrem Hiersein herauszuschlagen. Wenn sie nur kräftiger wäre, daß ich im Haus Hilfe von ihr haben könnte!«
Beide schwiegen eine Weile, dann rief Frau Wilms plötzlich aus: »Wie mag Luise Senker nur so in Armut geraten sein?«
»Ich hörte, es hinge mit dem Chef eines großen Handlungshauses in L. zusammen. Senker war sein Teilhaber, man entzweite sich, so hörte ich, Senker trennte sich von ihm und ist, wie man sagt, sehr übervorteilt worden.«
»Sehr dumm von dem Mann, daß er sich hat übervorteilen lassen! Wie ist nur Luise Senker darauf gekommen, uns, gerade uns, das Kind zu hinterlassen, uns, die wir nie eigene Kinder hatten und gar nicht daran gewöhnt sind, Kinder um uns zu haben?«
»Wahrscheinlich, weil wir ihre einzigen Verwandten sind, und weil sie uns für reich genug hielt, die Kleine ohne Beihilfe großzuziehen.«
»Reich genug!« wiederholte die Frau spöttisch. »Wer kann sagen, daß er reich ist! Das Geld ist sehr vergänglich. Aber ich denke, Wilms, du wirst müde sein nach den Strapazen der letzten Tage. Laß uns schlafen gehen. Es ist unverantwortlich, was man sich um fremder Leute Kind für Ungelegenheiten gefallen lassen muß.« Die Eheleute gingen enttäuscht zur Ruhe. Sie hatten sich eingebildet, eine gutzahlende Erbin ins Haus zu bekommen, und fanden dafür ein armes Waislein, das auf ihre Barmherzigkeit angewiesen war.