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Etwas Unvorhergesehenes

Frieda hatte immer gehofft, einmal von Herta Wilde aufgefordert zu werden, sie zu besuchen. Doch war es Verlegenheit oder ein bißchen böses Gewissen, sie hielt sich geflissentlich fern von ihr, es war Frieda nicht möglich, ihr nahe zu kommen.

So waren schon mehrere Wochen vergangen, da traf es sich doch einmal, daß sie sich in der Zwischenpause allein auf der Treppe begegneten.

»Was macht mein Vögelchen, Herta?«

»Der – ja der –« sie errötete sehr. Am liebsten hätte sie gesagt: »es geht ihm gut«, aber sie scheute doch die Lüge und stotterte: »Ja der – der Vogel lag vorige Woche tot in seinem Bauer. Das Mädchen, die dumme Stina, hatte vergessen, ihn zu füttern.«

»Das Mädchen!« rief Frieda empört. »Das muß man doch selbst besorgen. Du hättest ihn mir lassen sollen!« Es schellte, die Mädchen stoben auseinander in die Klasse hinein. Frieda war eine der ersten, Herta saß auf der letzten Bank. Beim Schulschluß eilte sie schnell hinaus, sie mochte nicht noch einmal den klaren Augen der kleinen Waise begegnen. Frieda sagte hinfort nichts mehr über die Sache, ein Weh blieb aber im Herzen. Nur einmal, es war kurz vor Weihnachten, fragte die Tante, ob sie bei Herta gewesen sei. Sie antwortete still und traurig: »Der Vogel ist tot; sie haben ihn verhungern lassen.«

Da schien Frau Wilms ein menschliches Rühren zu fühlen. Sie sagte: »Wir wollen heute Nachmittag einmal in die Stadt gehen, da sollst du dir die schönen Weihnachtsläden ansehen.« Es war allerdings wundervoll, die hellerleuchteten Läden mit allen Herrlichkeiten zu schauen, sie konnte sich gar nicht satt sehen, so etwas Schönes hatten sie im Städtchen nicht gehabt. Aber den Vogel konnte es ihr nicht ersetzen.

Als sie zurückgingen, wollte Frau Wilms etwas in einer fern gelegenen Straße, die Frieda noch nicht kannte, besorgen. An ihrem Ende lag ein großes Haus. Frieda wunderte sich und glaubte, es sei eine Schule. Als sie näher kam, las sie beim Laternenschein das mit großen Buchstaben geschriebene Wort: »Waisenhaus«. Sie fragte die Tante, was es bedeute. »Dort sind alle die Kinder untergebracht, die keine Eltern mehr haben.«

»Warum bin ich denn nicht dort hingekommen?«

»Wer Verwandte hat, kommt nicht ins Waisenhaus. Doch nun mache schnell, es ist schon spät, wir müssen eilen, nach Hause zu kommen.«

Dies Waisenhaus hatte fortan großes Interesse für Frieda. Da es nicht allzuweit von ihrer Schule lag – das hatte sie schon ausgekundschaftet –, so machte sie oft den kleinen Umweg und blieb vor dem Hause stehen mit prüfendem Blick, der zu sagen schien: »Wie mag es da drinnen wohl zugehen? Ob die Waisenkinder es wohl gut haben? Ob sie vergnügt miteinander sind?«

Daß das letztere der Fall war, konnte sie bald wahrnehmen. Als Schnee auf dem großen Hof lag, der das Haus umgab, tollte eine fröhliche Schar da umher mit Schlittenfahren und Schneeballwerfen. Wie gern wäre wohl Frieda dabeigewesen. Da sie längere Zeit am Tor stand und zusah, wurden einige der Mädchen aufmerksam. Sie kamen näher und fragten ob sie etwas wolle.

»Ich bin auch eine Waise«, sagte sie.

»Dann kommst du wohl nächstens zu uns?«

»Nein, wer Verwandte hat, darf nicht hinein. Habt ihr es hier gut?«

»Ja, sehr gut«, sagten sie aus vollster Überzeugung.

»Habt ihr eine warme Stube und Licht beim Zubettgehen und Aufstehen?«

»Natürlich, sonst könnten wir ja nicht sehen. Es ist alles hell und warm bei uns.«

»Sind die großen Leute immer freundlich zu euch?«

»Wenn wir folgen, ja. Wenn wir nicht gehorchen, gibt's Schelte.«

»Freut ihr euch auf Weihnachten?«

»Ja, sehr. Da gibt's brennende Christbäume und schöne Geschenke. Dann singen wir Weihnachtslieder, und der Herr Lehrer hält eine Ansprache.«

»Wer ist das kleine Mädchen?« fragte ein Herr, der wahrscheinlich die Aufsicht über die Schar hatte.

»Sie sagt, sie sei eine Waise.«

»Wolltest du auch gerne zu uns kommen, liebe Kleine?« fragte der Herr freundlich.

»Ich möchte wohl, aber ich bin bei Verwandten.«

»Nun, dann hast du's jedenfalls noch besser als bei uns, Kleine!« Er nickte ihr zu und winkte den Kindern, ihm ins Haus zu folgen.

Frieda ging nachdenklich weiter. Wer kann es ihr verargen, daß sie wünschte, sie möchte lieber keine Verwandten haben und hier unter der Schar der fröhlichen Waisenkinder leben.

Wenn sie nur ihre alte Freundin im Nachbargiebel wieder einmal sehen könnte! Einmal war sie dort gewesen, hatte aber die Türe verschlossen gefunden, nun wagte sie nicht, so bald wieder um Erlaubnis zu fragen. Es gab außer den Schulstunden so sehr viel zu tun. Die Tante hatte immer zu nähen und zu sticken für sie, und die Schulaufgaben waren auch nicht wenig. Einmal, gegen Abend, durfte sie wieder zu der alten Dame hinaufgehen.

»Es tut mir so leid«, sagte sie, »daß ich Weihnachten nicht daheim bin, meine Verwandten wollen mich gern haben, sonst müßtest du mich an einem Feiertage besuchen.«

»Glauben Sie wohl, Frau Drewes, daß es bei uns ein Christbäumchen geben wird?«

»Ich weiß es nicht, mein Kind, ich hoffe es aber.«

»Ich freue mich so sehr über die Lichter von Ihnen, Frau Drewes. Ich wüßte gar nicht, was ich ohne sie anfangen sollte.«

»Und ich freue mich immer, wenn ich abends zu Bett gehe oder morgens aufstehe, wenn ich das Kämmerlein erleuchtet sehe. Da weiß ich, daß meine kleine Freundin alles, was sie tut, sehen kann.«

»Wenn es nur nicht so kalt wäre da oben!« seufzte Frieda.

»Ich glaube, die Kälte hält nicht lange an. Denke nur immer an den schönen Frühling, der auf den Winter folgt, dann wird es besser.«

»Die Waisenkinder haben schöne warme Stuben.«

»Welche Waisenkinder?« fragte Frau Drewes.

Frieda erzählte von ihrer Entdeckung des Waisenhauses, und wie sie oft wünsche, dort sein zu dürfen. Frau Drewes schwieg, aber Tränen traten in ihre Augen. –

Als Frieda gegangen war, klopfte wieder jemand, und der gleiche junge Mann, der Frieda damals das Paket gebracht hatte, betrat ihre Wohnung.

»Guten Abend, Rolf«, sagte sie. »Es ist gut, daß du einmal kommst. Du bist lange nicht bei mir gewesen, ich bin oft recht einsam.«

»Du weißt, ich kann schwer abkommen. Der Alte schuhriegelt uns von früh bis abends.«

»Ich hatte Besuch von eurer Kleinen drüben.«

»War sie wieder einmal da?« Ein Lächeln glitt über seine Züge. Plötzlich zog er die Stirne kraus und sagte in verändertem Tone:

»Es ist unverantwortlich, wie mit dem Mädchen verfahren wird. Die Leute haben keinen Begriff, wie man mit Kindern umgeht. Ich vielleicht auch nicht, aber das weiß ich, daß die arme Kleine anders gehalten werden müßte. Ich wundere mich nur, wie sie immer lieb und gut dabei bleibt.«

»Das ist der Segen einer frommen Mutter. Sie hat mir erzählt, wie ihr Mütterchen sie zu allem Guten angehalten und wie sie ihr beim Sterben die Bibel als größten Schatz ans Herz gelegt hat. Die Mutter hat ihr gesagt, sie könnte aus der Bibel Rat für alles holen und Trost, wenn sie traurig sei. Gottes Wort gebe ihr auch Kraft, Schweres zu überwinden, sagte sie mir. Wenn sie oft nicht wüßte, wie sie recht tun solle, da fragte sie ihre Bibel, wie die Mutter sie gelehrt.«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Das ist kaum zu glauben! Sollte Gottes Wort wirklich solche Kraft haben?«

»Wenn du es doch glauben könntest, Rolf, daß wirklich im Worte Gottes eine verborgene Kraft und ein großer Segen liegt. Wohl dem, der es in der Jugend lernt, wie dieses Kind.«

Rolf sah ernst vor sich hin. »Ja, das Mägdlein beschämt uns alle. Dabei ist sie schlicht und einfach in ihrem Wesen, gar nicht, als ob sie etwas Sonderliches täte.«

»Es ist ein Segenskind«, sagte die Tante.

Ihr Neffe sprang auf und ging in der Stube auf und ab. »Lange halte ich es nicht mehr aus bei diesen Leuten, die keine andere Sorge kennen, als Geld zusammenzuscharren. Gegen alle anderen Lebensverhältnisse sind sie blind, es ist, als sei eine dicke Mauer vor ihnen aufgerichtet, daß sie nicht sehen und hören. Sobald ich Gelegenheit habe, suche ich eine andere Stelle.«

Frieda ahnte nicht, daß ihr Tun und Handeln von anderen beobachtet wurde, am allerwenigsten von den Herren in der Schreibstube.

Am Weihnachtsabend gab es keinen Baum. Frau Wilms war krank und hütete das Bett. Der Onkel war fortgegangen und kam, wie gewöhnlich, erst spät am Abend wieder. Am anderen Morgen rief die Tante Frieda an ihr Bett; sie schenkte ihr eine Schürze und einen Pfefferkuchen und erlaubte ihr auch, in die Kirche zu gehen.

Als Weihnachten vorüber war und auch der Januar sein Ende erreicht hatte, konnte Frieda schon wieder hinaussehen. Nun würde bald der Frühling kommen und mit ihm Wärme und Sonnenschein.

Zu Ostern bekam sie nicht nur gute Zeugnisse, sondern einen Preis für Fleiß und gutes Betragen. Wie würde ihr Mütterchen sich gefreut haben; hier wurde es als etwas Selbstverständliches angesehen. –

Das erste Jahr seit der Mutter Tod war nun vorüber. Es war kein leichtes Jahr gewesen, doch war es unter viel Arbeit schnell vergangen. In ähnlicher Weise lief das zweite Jahr dahin und auch das dritte. Onkel und Tante blieben, wie sie gewesen waren, ohne Interesse für Frieda und ihre Angelegenheiten. Aber die Tante hatte sich mit der Zeit an sie und ihre Hilfe gewöhnt, daß, wenn sie ihr plötzlich genommen worden wäre, sie es schwer empfunden hätte. Der Onkel kümmerte sich überhaupt nicht viel um die Kleine.

Da trat im Herbst des vierten Jahres ein Ereignis ein, das Friedas Verweilen im Hause der Verwandten ein plötzliches Ende bereitete.

Es ließen sich eines Morgens, als Frieda beim Ankleiden war, schwere Männertritte auf dem Boden hören. Es klopfte an die Kammertüre. Als sie öffnete, stand der Onkel verstörten Antlitzes da und sagte, sie müsse schnell in die Apotheke laufen, die Tante sei in der Nacht plötzlich von einem Schlaganfall getroffen worden und werde wahrscheinlich sterben.

Als Frieda mit den Arzneimitteln aus der Apotheke kam und fragte, ob sie etwas helfen könne, sagte der Onkel nur, es wäre ihm lieber, wenn sie irgendwo zu Bekannten ginge, sie sei hier im Wege. Sie bat Frau Benak, sie ins Krankenzimmer zu lassen, sie möchte die Tante gern noch sehen. Doch diese sagte: »Ach, Kind, Frau Wilms kennt dich nicht mehr, sie liegt ohne Bewußtsein.«

Schon am Abend trat der Tod ein. Es folgten traurige Tage für Frieda. Sie sagte sich immer wieder: »Was wird nun aus mir? Werde ich nun ins Waisenhaus kommen?«

Schon einen Tag nach der Beerdigung eröffnete ihr Herr Wilms, daß er sie nicht länger behalten könne. Sie sei alt genug, sich schon selber etwas zu verdienen; er wolle in der Zeitung nachsehen, ob dort eine passende Stelle zu finden sei. Er selbst werde fortan in einem Restaurant essen, Frau Benak werde ihm das Nötigste besorgen, im übrigen wolle er allein für sich bleiben.

Frieda sah wohl ein, daß sie nicht länger bleiben konnte. Sie hatte sich auch schon gegen Frau Drewes darüber geäußert, zu der sie in ihrer Not einige Male gelaufen war. Nun, da der Onkel bestimmt ausgesprochen hatte, daß er sie nicht behalten könne, ging sie wieder hinüber, um mit der mütterlichen Freundin zu bereden, was mit ihr werden sollte, sie könne doch noch keine Stelle annehmen, da sie erst Ostern eingesegnet werde.

Frau Drewes sagte ihr, daß sie in diesen Tagen viel an sie gedacht habe. Da sei ihr eine verwandte Familie eingefallen, allerdings weit von hier. Der Vetter oder vielmehr der Neffe sei Pfarrer auf dem Lande, sie wolle noch diesen Abend schreiben, ob sie Frieda in ihren Familienkreis aufnehmen wollten. Vielleicht könne sie da konfirmiert werden, und wenn sich alles so schicke, könne sie als Stütze des Hauses sich später dort nützlich machen.

Jetzt lag die Zukunft der jungen Waise wieder dunkel vor ihr. Sie wußte aber, Gott der Herr werde sie recht führen.


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