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Abermals sollte Gruber enttäuscht werden. Herr Schneeberger konnte ihm nur sagen, daß er die Besitzung von Herrn Wilms gekauft habe, weil dieser zu seinem Bruder nach Amerika habe gehen wollen. Von einem Kinde, das bei ihm gewesen sein solle, habe er nicht gesprochen, auch keine Andeutungen gemacht.
Wo mochte die kleine Senker wohl stecken? Nach dieser letzten Auskunft mußte Gruber wohl ihre Entdeckung einem glücklichen Zufall überlassen. Planlos in der Welt herumreisen konnte er deswegen nicht. Er wollte das, was der hinterlassenen Tochter der Frau Senker zukam, treu verwalten. Sollte sie sich nicht finden oder auch schon gestorben sein, so konnte das Geld milden Stiftungen zugute kommen.
Heute gab es nun hier noch andere Sachen, die ihm am Herzen lagen, zu erledigen. Er hatte die beiden Männer, Saltino und Richter, zufällig bei seinem Freund, der ein Gut in der Nähe von Neuburg hatte, kennengelernt und war nun merkwürdigerweise in diesen traurigen Konflikt mit verwickelt. Es sollte vielleicht ein Zufall sein, daß er Saltino in dieser fremden Stadt wieder treffen mußte. In tiefes Nachdenken versunken, ging er durch die Straßen. Plötzlich erhellten sich seine Züge. Rasch betrat er das Hotel, bestellte sich ein Zimmer, ließ Kaffee und Zigarren nach oben bringen und ordnete an, wenn ein junger Herr nach ihm frage, ihn auf sein Zimmer zu bringen.
Er hatte sich eben eine Zigarre angezündet, da klopfte es. Saltino erschien mit dem Ausruf: »Wer sich das so gemütlich machen kann! Ich kann mir schon lange nicht mehr ein Zimmer in einem so feinen Gasthof leisten.«
»Nun, da lassen Sie sich's bei mir einmal wohl sein, Saltino. Da, nehmen Sie eine Zigarre und nun setzen Sie sich zu mir und erzählen mir von allen Ihren Sorgen und Kümmernissen. Es tut gut, sich einmal alles ordentlich herunter zu sprechen.«
Saltino, der immer mehr Vertrauen zu Gruber faßte, sagte ihm zunächst, daß er schon mehrere Jahre verlobt sei. Es sei ein liebes Mädchen, das traurige Familienverhältnisse habe. Die Mutter sei früh gestorben, der Vater, ein Beamter, sei wenig zu Hause, mit der zweiten Frau des Vaters, ihrer Stiefmutter, verstände sie sich gar nicht; da habe sie sich entschlossen, Lehrerin zu werden, habe ihr Examen bestanden und verdiene sich schon seit einigen Jahren ein gutes Gehalt. Aber die Hälfte opfere sie ihm, damit er seinen Verpflichtungen Richter gegenüber nachkomme. Ursprünglich habe sie gedacht, sich ihre Aussteuer zu verdienen, aber unter diesen Umständen sei ans Heiraten gar nicht zu denken. Nun leide er besonders darunter, daß er sie mit in sein Unglück hineingezogen habe. Das mache ihn so traurig und verzagt.
Gruber ließ ihn ruhig ausreden. »Ich habe auch mancherlei Schweres, worüber ich nicht sprechen kann«, begann er. »Aber solche Sorgen wie Sie, lieber Saltino, habe ich bis jetzt noch nicht. Im Gegenteil, ich bin, daß Sie's nur wissen, seit dem Tode meines Onkels ein reicher Mann. Er hat mich zum Alleinerben eingesetzt. Somit sehe ich mich im Besitze eines großen, ausgedehnten Geschäftes. Die Stelle des ersten Buchhalters war bis jetzt von einem alten Herrn besetzt, der schon bei meinem Onkel arbeitete. Nun hat er mir kürzlich gesagt, daß er zum Herbst die Stelle aufgeben wolle. Wenn Sie mir Ihre Zeugnisse bringen wollen und Lust dazu haben, könnte ich Sie vielleicht anstellen. Ich würde Ihnen ein gutes Anfangsgehalt geben, das von Jahr zu Jahr steigt. Es ließe sich davon schon mit einer jungen Frau, die zu wirtschaften versteht, leben.«
In Saltinos Gesicht ging eine merkwürdige Veränderung vor. Er streckte Gruber beide Hände entgegen und sagte tief aufatmend: »Da wäre mir allerdings eine große Sorge genommen; ich habe bis jetzt nur eine Stelle mit mäßigem Einkommen gehabt, dann der Abzug für Richter – es war oft eine verzweifelte Lage.«
»Sie haben aber doch dem armen Richter Ihren Unmut nicht entgelten lassen?«
Saltino sah beschämt zu Boden. »Heute allerdings kam es zu heftiger Aussprache. Er reizte mich –«
»Saltino, sehen Sie sich vor«, sagte Gruber warnend. »Bedenken Sie, daß Sie gerade diesem armen Mann, der durch Sie unglücklich geworden ist, die größte Liebe und Nachsicht schuldig sind.«
»Er ist aber zu bitter, zu feindselig. Er weiß doch, ich habe es ihm immer wieder beteuert, daß ich den unglückseligen Wurf nicht mit Absicht getan –«
»Hat denn der Mann jetzt einen Beruf?«
»Er sagte, diesen Morgen sei ihm gekündigt, weil er das nicht zu leisten vermag, was von ihm verlangt wird.«
»Der Arme! Er ist sehr zu beklagen. Wo wohnt er? Ich werde ihn heute noch aufsuchen.«
Saltino erbot sich, Gruber zu begleiten. Nachdem sie wegen der zum Herbst frei werdenden Stelle verschiedenes besprochen hatten, machten sie sich auf den Weg. Es war ein warmer Sommerabend. Auf den Straßen der Stadt wogte eine Menge auf und ab, die Elektrischen, die zur Stadt hinausfuhren, waren voll besetzt, viele strebten nach auswärts gelegenen Lokalen, um dort etwas Erfrischung nach der Schwüle des Tages zu suchen. Gruber hätte es wohl auch lieber getan, aber bei ihm ging immer die Pflicht vor Vergnügen.
»Nun, wohin führen Sie mich?« fragte er seinen Begleiter, als dieser ihn von einer Straße zur andern brachte und zuletzt in einen Stadtteil einbog, der eng und finster mit seinen hohen Häusern einen melancholischen Eindruck machte. Endlich in einem kleinen Gäßchen machte er halt. Die Straße hieß im Volksmund ›Die Finstere‹ und führte ihren Namen mit Recht.
»Hier ist es«, sagte Saltino beklommen, »zwei Treppen hoch wohnt der Mann.« Ein paar schmutzige Kinder hockten auf der Türschwelle; sie wichen scheu beiseite, als man Miene machte einzutreten. Eine unordentliche Frau sah unten neugierig aus der Tür und fragte nach ihrem Begehr.
»Wir wollen zum Herrn Richter nach oben.«
»Der hat heute einmal wieder seinen Koller«, sagte die Frau, »er hat den ganzen Tag geschimpft, die arme Schwester kann einem leid tun; ich möchte nicht seine Pflegerin sein.« Saltino wurde dunkelrot. Er fühlte, daß der Zorn des Unglücklichen mit ihm in Zusammenhang stand. Gruber bemerkte das Erröten, sah ihn ernst an und stieg schweigend die steile Treppe hinauf. Es dunkelte schon; wenigstens in dem Vorraum, der nur ein kleines Fensterchen hatte, konnte man nichts mehr unterscheiden.
Man klopfte. »Laß niemand herein, ich will keinen heute mehr sehen«, rief eine barsche Stimme. Darauf wurde die Tür ein klein wenig geöffnet. Eine feine weibliche Stimme sagte: »Ist da jemand? Mein Bruder ist nicht zu sprechen.«
»Ein Bekannter von früher möchte Herrn Richter sprechen«, sagte Saltino.
»Die Stimme kenne ich«, rief es von drinnen. »Ich habe nicht Lust, mich noch einmal aufzuregen, ich bin nicht zu sprechen sage ich –«
Das Mädchen hatte unterdes eine kleine Lampe angezündet und kam mit scheuem, furchtsamem Gesicht heraus. »Bitte«, bat sie dringend, »gehen Sie wieder, mein Bruder kann keinen Besuch mehr empfangen, am wenigsten von Ihnen, Herr Saltino.« Sie sah ihn vorwurfsvoll an.
»So bleiben Sie zurück, lassen Sie mich allein gehen«, bat Gruber leise. »Liebes Fräulein, ich komme in guter Absicht, bin ein alter Bekannter Ihres Bruders, lassen Sie mich zu ihm, ich bitte Sie. Ich muß morgen mit dem Frühzug weiter und möchte so gern diesen alten Bekannten wiedersehen.« Der Mann, der im Zimmer im Lehnstuhl saß, horchte auf und sagte vor sich hin: »Die Stimme kenne ich, wo habe ich sie doch gehört –«
Der Fremde stand schon bei ihm, hatte seine Hand ergriffen und sagte mit freundlicher, gewinnender Stimme: »Wir sind am Neuburger See zusammen gewesen, ich habe Sie verbunden, als Sie der traurige Unfall traf, und habe Sie mit ins Krankenhaus gebracht. Können Sie es mir verdenken, daß ich mich einmal nach Ihnen umsehen möchte, da ich jahrelang nichts von Ihnen gehört habe?«
»Es ist auch gut, man hört nichts von mir. Es wäre besser gewesen, der Wurf hätte mich tödlich getroffen, dann wäre ich aller Qualen enthoben gewesen.«
»Das wäre für Ihren Freund hart gewesen.«
»Nennen Sie ihn nicht mehr meinen Freund, er hat Kummer und Elend über mich gebracht, und das Geld, das er mir als Entschädigung geben muß, das wirft er mir hin, als ob ich ein Bettler sei. Ja, heute erklärt er mir kurz und bündig, daß er von jetzt an nur die Hälfte zahlen könne. Ich kann mein Amt als Schreiber nicht mehr versehen, das einzige Auge, das mir geblieben ist, ist überanstrengt worden, ich bin ein Krüppel, der am besten täte, er mache seinem Leben je eher –«
»Halt, nicht weiter«, unterbrach ihn Gruber. »Was Ihnen auferlegt ist, müssen Sie in Geduld und Ergebung tragen.«
»Das hat mir eine alte Tante, die hier in der Stadt wohnte und vor längerer Zeit gestorben ist, auch gesagt. Sie hat mir von Gottes Güte und Barmherzigkeit viel vorgepredigt, aber ich habe bis jetzt nichts davon erfahren«, war die bittere Antwort.
Gruber schwieg und sah sich in dem Raum um. Es war ein ärmliches kleines Zimmer, nur mit dem Notdürftigsten ausgestattet. Er sah auf den Mann, der verwachsen und vornübergebeugt im Lehnstuhl saß. Die große Narbe auf der Stirn erinnerte ihn an die klaffende Wunde, die er damals verbunden hatte. Über die Augen hatte er einen Schirm. Es war ein großes Elend, wenn man bedachte, daß der Mann noch in seinen besten Jahren stand und sich durch die Welt hätte schlagen können, wenn er seines Auges nicht beraubt gewesen wäre.
»Er soll Gottes Güte und der Menschen Liebe erfahren.« Das sagte Gruber sich in dieser Stunde. Dann setzte er sich zu ihm, sagte, daß es nicht von ungefähr sei, daß er gerade heute hier Saltino treffen mußte, Gott habe es so gefügt. Seine Not solle ein Ende haben, er dürfe nicht in diesem finsteren Winkel sein Leben vertrauern, er solle wieder Gottes Sonne leuchten sehen, innerlich und äußerlich. Sobald als möglich solle er hier fort. Er habe für viele Menschen Arbeit, es würde sich auch für ihn etwas finden lassen.
Es war, als ob sich etwas löse von der Brust des gequälten Mannes. Er richtete seinen Kopf auf und lauschte den Worten Grubers, die sich wie Balsam auf sein wundes Herz legten. Endlich stieß er hervor: »Ich will ja gern leiden, was mir auferlegt ist, aber die Not, Herr, die Not ums tägliche Brot ist so schwer zu tragen. Meine arme Schwester näht für Geld auf der Maschine und versorgt unsern ärmlichen Haushalt, auch sie hat die Not oft mit mir geteilt, und ich habe sie gequält mit meiner Unzufriedenheit, mit meinem Groll gegen Saltino –«
»Der muß ein Ende haben, lieber Richter. Ich meine es gut mit euch beiden. Gott hat mich mit Glücksgütern gesegnet, ihr beide sollt daran teilhaben. Aber ihr müßt euren Groll fahren lassen. Saltino hat auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen, es soll ihm auch künftig besser gehen. Aber aller Zorn muß aufhören, Richter. Wir drei wollen fortan in Liebe und Eintracht miteinander leben, uns Liebes und kein Leides tun. Schlagen Sie ein.«
Er reichte ihm die Hand, die Richter erregt ergriff.
»An mir soll's nicht liegen«, sagte er zaghaft, denn er wußte noch nicht, wie und wo ihm geholfen werden sollte. »Was wird aber mit meiner Schwester?« fragte er stockend.
»Wo Sie bleiben, bleibt sie auch. Doch ich muß gehen, Saltino wartet draußen auf mich. Ich werde Ihnen nächstens durch einen Brief Nachricht geben.« Er drückte ihm die Hand, ermahnte ihn, sein Vertrauen auf Gott zu setzen und auf seine Hilfe zu hoffen.
Draußen wartete Saltino mit Ungeduld. »Das war eine lange Unterredung«, meinte er, »darf ich denn nun auch noch hineingehen, oder ist es dem Herrn nicht angenehm?«
»Heute lieber nicht mehr«, bat die Schwester, »er hat schon mehrere schlaflose Nächte hinter sich. Wenn Sie, wie ich vorhin schon zu Ihnen sagte, lieber morgen noch einmal hereinsehen wollen –«
»Gewiß, gern, ich bleibe noch bis morgen abend. Sagen Sie ihm, er solle den vollen Betrag des ihm schuldigen Geldes von nun an pünktlich bekommen, wir wollen uns künftig als Freunde ansehen. Das verdanken wir alles diesem Herrn.«
Das Mädchen sah Gruber mit dankbarem Blick an. »Gott lohne es Ihnen«, sagte sie einfach.
»Ihre Lage soll jetzt besser werden. Sie sind die längste Zeit in diesem finstern Winkel gewesen.« Verwundert sah sie den fremden Herrn an, der ihr wie ein Engel des Lichtes erschienen, sie ahnte, daß ihnen bessere Tage winkten, neue Hoffnung belebte ihr Herz.
Gruber hatte von seiner Reise nicht das gehabt, was er erwartet hatte. Es war eine große Enttäuschung, daß er seinen Verpflichtungen gegen die Witwe oder nun gegen ihre Tochter nicht nachkommen konnte, und doch war sie nicht unnütz gewesen, war sogar von großer Wichtigkeit. Er mußte es als eine Fügung Gottes ansehen, daß er gerade jetzt, wo die Verbitterung und der Groll der beiden gegeneinander den höchsten Grad erreicht hatte, als Vermittler dazwischentreten und durch seinen Reichtum nach beiden Seiten hin segenspendend wirken konnte. Darüber freute er sich, und das ließ ihn fröhlich die Rückreise antreten.
Schon nach einigen Tagen kam ein Schreiben, daß Richter und seine Schwester sich sobald als möglich nach L. begeben sollten. Es sei eine Stelle da, die der junge Mann würde ausfüllen können. Eine Postanweisung mit einer namhaften Summe traf gleichzeitig zur Begleichung aller Unkosten ein.
Da beugte der schwergeprüfte Mann sein Haupt, faltete die Hände und stammelte: »Tante Drewes, du hast doch recht gehabt: wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten.«