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Veronika

»Karla, deine Pedanterie mußt du ablegen, das ertrage, wer kann«, seufzte Klotilde.

Sie bewohnten jetzt ein Zimmer zusammen und waren diesen Nachmittag beide zu einer Geburtstagsfeier bei einer bekannten Familie eingeladen. Schon zum dritten Male hatte Karla ihr Haar aufgelöst und es immer wieder von neuem geflochten und aufgesteckt; alle Ermahnungen Klotildens, sich zu beeilen, fruchteten nichts. »Es sitzt nicht, wie es sitzen muß, gehe du allein, wenn du nicht warten kannst.«

Da guckte Martha zur Tür herein. »Noch nicht fertig?« fragte sie. »Es hat schon drei geschlagen.«

»Karla sollte nicht so peinlich sein, sie sitzt schon fast eine Stunde an ihrem Haar und wird nicht fertig, es ist ermüdend anzusehen«, seufzte Klotilde.

»Komm, ich will dir helfen«, rief Martha freundlich.

»Wenn du das wolltest; der Scheitel will nicht gerade werden!«

»Gern!« Und die hilfsbereite Martha, die sehr geschickt war, hatte Karla in kurzer Zeit so hübsch gerichtet, daß sie ganz begeistert ausrief: »Ihr Buschroder Mädchen könnt auch alles. Frieda ist stets gefällig und zur Hilfe bereit und du nicht minder. Ihr seid die Besten in unserer Pension.« Martha wies das Lob von sich und meinte, die beste sei doch Veronika. »Veronika ist nur so zurückhaltend und hält sich gewöhnlich abgesondert von uns.«

»Das kommt, weil sie allein wohnt, auch weil sie wegen ihres baldigen Examens so eifrig studiert.«

»All euer Studieren, Singen und Klavierspielen nützt euch nichts, ihr vergeßt doch alles wieder«, sagte Klotilde weise. Sie ärgerte sich, daß sie nicht für die Beste in der Pension angesehen wurde, was sie bis jetzt immer geglaubt hatte.

Frau Meiler, die bald merkte, daß das Verhältnis zwischen Klotilde und Karla eher schlechter als besser geworden war, erzählte ihrem Manne eines Abends, daß sie mit Friedas und Marthas Einverständnis eine andere Einrichtung getroffen habe. »Die Mädchen sollen fortan alle miteinander das Schlafzimmer teilen. Die Buschroder üben entschieden einen guten Einfluß auf die andern aus, sie sollen mir helfen, weil sie wohlerzogene, gut gesinnte Mädchen sind.«

»Dann prophezeie ich in nächster Zeit Revolution, wenn nicht Krieg! So verschiedene Elemente zusammen!«

»Es kommt auf einen Versuch an. Jetzt sind dauernd Häkeleien und Eifersüchteleien; eine findet dies Zimmer hübscher, die andere jenes, diese beiden passen nicht zusammen, die dritte mag nicht allein schlafen.«

»Du willst doch nicht Lina, diesen Unband, wieder mit den andern zusammenbringen?«

»Sie hat sich in letzter Zeit mehr zusammengenommen; ich sehe nur Vorteile für sie, wenn sie mit den Buschrodern mehr zusammenlebt, das kann aber nur sein, wenn sie nicht nur unten bei uns miteinander verkehren, da geben sie sich nicht ganz, wie sie sind.«

»Lina doch gewiß. Sie gibt sich offen mit allen ihren Untugenden vor jedermanns Augen.«

»Ich denke auch, Frieda und Martha werden sie mehr zur Ordnung anhalten.«

»Versuche es mein Kind. Ich fürchte, es wird dir nicht gelingen.«

Es erhob sich ein großer Sturm. Einige erklärten sich dafür, einige dagegen. Frieda und Martha hatten, als Frau Meiler ihnen davon gesagt, innerlich einen kleinen Kampf zu bestehen. Sie mußten manches aufgeben, doch hatten sie sich willig gefügt. Klotilde und Karla waren außer sich, daß Lina wieder in ihre Mitte sollte, in diesem Punkt waren sie einig. Die glücklichste war jedenfalls Lina, der das Alleinsein gar nicht behagte und die sich von ganzem Herzen nach Geselligkeit sehnte.

»Kinder, ihr sollt sehen, ich werde die tugendhafteste von euch allen sein. Ich rühre nichts von euren Sachen an und werde nach Kräften auf Ordnung halten. ›Lerne Ordnung, übe sie; Ordnung spart dir Zeit und Müh', Ordnung ist das schönste Ding, Lina acht es nicht gering‹«, sang sie und ging davon.

Veronika als ältere Seminaristin blieb natürlich für sich. Als Neunzehnjährige hatte sie das Vorrecht, allein zu schlafen.

Frau Meiler hatte richtig geurteilt.

Die Mädchen erzogen sich untereinander. Versah Lina etwas, so waren aller Augen auf sie gerichtet; sie wurde von der Gesamtheit getadelt und gescholten, so daß sie wirklich anfing, sorgsamer zu werden; Karla mußte sich wegen ihrer Pedanterie oft auslachen lassen, ebenso Klotilde wegen ihrer weisen Bemerkungen. Bei Martha und Frieda gab es auch etwas zu rügen. Gewiß hatten sie auch kleine Angewohnheiten, die die andern sehr schnell entdeckten und in harmloser Weise ans Licht zogen. Wollte jemand empfindlich sein, wurde er ausgelacht, und schließlich löste sich alles in Heiterkeit auf.

Die Folge war, daß Frieda, die bis dahin gewöhnlich ein ernstes Wesen gezeigt, still und verschlossen gewesen war, unter der Schar auflebte und mehr aus sich herausging. Sie wurde lebhafter, munterer, sah auch frischer aus, die eckigen Formen rundeten sich. Sie war seit ihrer Konfirmation sehr gewachsen, so daß jemand, der sie damals gesehen hatte, sie jetzt kaum würde wieder erkannt haben.

Unter den Mädchen war sie fröhlich und guter Dinge. Doch kamen auch Stunden, wo sie voller Ernst oft am Fenster stand. Das Übermaß an Liebe, das ihr von den Pflegeeltern dargebracht wurde, besonders die geldlichen Opfer drückten sie. Wenn Zahlungen an die Pension geleistet wurden, wenn sie das Schulgeld erhielt oder um kostspielige Bücher bitten mußte, alles das belastete sie sehr. Sie hatte viel Stolz, wäre am liebsten niemand zur Last gefallen und mußte nun sehen, welche Mittel zu ihrer Ausbildung erforderlich waren. Es dauerte mindestens noch zwei Jahre, bis sie zum Examen zugelassen wurde, dann erst konnte sie daran denken, den Pflegeeltern allmählich alles abzutragen, was sie in ihrer Güte an ihr getan hatten. Sie ahnte nicht, wie glücklich die waren, daß ihr eigenes Kind in ihr eine Freundin gefunden hatte. Martha war kein fester Charakter und ließ sich leicht beeinflussen. Die Eltern hatten sehr bald erkannt, daß Friedas Einfluß auf Martha günstig war. Dies schätzten sie mehr als das, was sie für die Pflegetochter opferten.

Eben dachte Frieda an die Buschroder Pfarrersleute, auch an die alte Dame im fernen F. dort oben im Giebel des Nachbarhauses, der sie im Grunde alles, was sie jetzt war und hatte, verdankte, da wurde die Tür zu ihrem Zimmer heftig aufgerissen. Lina kam herein, diesmal nicht singend und lachend, sondern recht betrübt.

»Nun, Lina, was hat's gegeben?« fragte Frieda.

»Etwas ganz Schlimmes. Ich habe Marthas Uhr zerbrochen!«

»Wie kommst du denn dazu? Du sollst doch nicht Sachen anrühren, die dir nicht gehören!«

Sie beichtete, daß Martha sich umgezogen habe, ehe sie zur Klavierstunde gegangen sei, und die Uhr abgelegt habe. Sie müsse sie in der Eile vergessen haben. Es sei eine besonders hübsche Uhr, sie habe sie genauer ansehen wollen, da sei sie ihr aus der Hand gefallen, das Glas sei zerbrochen, die Uhr stehe. Sie fürchtete sich vor Marthas Zorn, besonders aber vor Frau Meiler, die ihr gesagt hatte, sobald sie den Mitpensionärinnen Sachen beschädige, müsse sie wieder allein schlafen. Das sei zu schrecklich und Frieda möge ihr doch raten, was zu tun sei.

»Ich kann dir nichts weiter sagen, als daß du dein Unrecht bekennst. Einen anderen Rat weiß ich nicht.«

»Könntest du mir nicht helfen, ohne daß Frau Meiler etwas erfährt.«

Frieda schwieg eine Weile. »Da kommt Martha«, sagte sie. »Wo ist die Uhr?«

Lina hatte sie in der geschlossenen Hand und zeigte sie. Man hörte Martha eilig in das allgemeine Schlafzimmer gehen. Gleich darauf erschien sie mit verstörter Miene im Studierzimmer. Atemlos erzählte sie, ohne auf Linas Anwesenheit zu achten, daß sie ihre Uhr aus Versehen habe liegen lassen, nun sei sie gestohlen.

»Gestohlen ist sie nicht«, sagte Frieda ruhig. »Lina hat Unglück gehabt.« –

Lina stand da mit einem kläglichen Gesicht, in der Hand die Uhr. »Ob ich mir das nicht hätte denken können!« Und nun ergoß sich über die Schuldige ein Strom von Zornesworten, die man bei der freundlichen Martha gar nicht erwartet hätte.

»Ich will sie gleich zum Uhrmacher bringen und alles bezahlen –«

»Damit ist mir nicht gedient, ich brauche die Uhr.«

»Ich wüßte einen Ausweg«, mischte sich nun Frieda hinein. »Ich gebe dir meine Uhr, Martha, bis deine fertig ist, und dann sprechen wir nicht weiter darüber.« Lina warf ihr einen dankbaren Blick zu, während Martha verlegen sagte: »Dann hast du ja keine!«

»Ich behelfe mich einige Tage so«, meinte Frieda freundlich, »und Lina ist von nun an vorsichtiger, nicht wahr, Lina?« Statt aller Antwort umarmte sie Frieda leidenschaftlich. Dann bat sie um ein Kästchen, die Uhr hineinzulegen, und stürzte hinaus.

»Sie wird sie wohl auf der Treppe noch einmal hinwerfen«, grollte Martha. Lina klopfte bei Frau Meiler an, bat um Urlaub zu einer Besorgung und beichtete ihr, was sie eigentlich nicht wollte, freimütig die ganze Geschichte.

Frau Meiler sagte nicht viel. Wo sie offenes Bekenntnis fand, konnte sie nicht streng sein. Wahrheit ging ihr über alles. Hier, wo alles hätte verschwiegen bleiben können, freute sie sich über Linas Wahrheitsliebe. Das war das Beste an dem Mädchen. Sie hoffte, daß diese kleine Szene, wie so manche andere, die sie in der Stille beobachtet hatte, Lina nach und nach zu einem ordentlichen, bedachtsamen Mädchen machen würde.

Als die jungen Mädchen am Abend ins Schlafzimmer kamen, waren die Decken von allen Betten genommen und mit einer Ordnung zusammengelegt, als ob Karla es getan hätte. An Linas strahlendem Gesicht erkannten sie die Täterin.

»Sie wird noch«, sagte Karla und ging an ihren Waschtisch. »Lina hat sich mit Ruhm bedeckt«, fügte sie hinzu.

»Es wird nicht lange dauern, so wird es wieder eine große Geschichte geben«, fügte Klotilde weise hinzu.

Daß diese große Geschichte diesen Nachmittag schon passiert war, verschwiegen die Buschroder, was den beiden einen dankbaren Blick von Lina eintrug.

Allmählich lebte man sich untereinander ein, und der Geist des Hauses gewann die Oberhand, unmerklich, aber still wurden die Mädchen beeinflußt, auch Klotilde und Karla, die am wenigst liebenswürdigen, konnten sich diesem Einfluß auf die Dauer nicht entziehen.

Veronika hielt sich von den übrigen sehr zurück. Frieda war die einzige, mit der sie gern einmal zusammen war, aber in letzter Zeit schien sie auch diese zu meiden. Eines Tages ging sie in ihrem Zimmer auf und ab, aus Lessings »Nathan der Weise« lernend, da klopfte es. »Darf ich eintreten? Aber ich störe«, sagte Frieda, »ich komme ein andermal.«

»Bitte komme. Ich werde noch fertig mit dem Monolog, den ich morgen aufsagen soll. Was gibt es?«

»Man sieht dich jetzt so wenig. Du entziehst dich unserm Kreis mehr als recht ist. Das zu viele Studieren tut's auch nicht –«

»Dir wird alles leichter als mir, Frieda, und ich muß es bis Michaelis zwingen. Ich muß.«

Frieda sah sie traurig an. »Du schließt dich zu sehr ab, Veronika, du solltest mit uns fröhlich sein, es arbeitet sich dann um so besser.«

»Ja, mit dir wäre ich gern öfter zusammen, auch mit Martha. Die Lina belustigt mich, sie ist mir nicht gerade sympathisch, aber auch nicht unangenehm. Die beiden andern sind unausstehlich –«

»Sie haben auch ihre guten Seiten, lerne sie nur erst gründlich kennen. Man darf nicht nach oberflächlicher Bekanntschaft urteilen.«

»Du hast recht. Es wird mir schwer, mich mit fremden Menschen einzuleben. Und überdies –« sie schwieg und machte ein trauriges Gesicht.

»Nun? Du wolltest noch etwas sagen –«

»Lieber nicht. Es ist besser, ich trage meine Sorgen und Nöte allein.«

»Zuweilen ist es besser, wenn man sich ausspricht. Ich habe früher auch manches verarbeiten müssen. Seit ich mit Martha zusammen bin, sprechen wir über alles, was wir gemeinsam erleben.«

»Es gibt aber auch Dinge, die man nicht mit andern besprechen kann, die schwer zu tragen sind.«

Frieda nickte. »Dann will ich nicht weiter in dich dringen. Entschuldige nur, daß ich dich beim Lernen gestört habe.«

Sie wollte die Stube verlassen. Da rief Veronika sie zurück. »Komm, Frieda, ich muß mein Herz einmal ausschütten. Du bist freilich erst sechzehn, aber du bist für deine Jahre reifer und verständiger als manche Zwanzigjährige. Da kann die nun bald Zwanzigjährige wohl ein vertrauliches Wort mit dir reden.«

»Ich will mich aber durchaus nicht in dein Vertrauen drängen –«

»Das hast du nicht getan. Ich rief dich ja zurück. Komm, wir setzen uns ans Fenster, und ich erzähle dir von meinen Sorgen.«

»Ich habe manches Schwere erlebt. Meine Mutter ist früh gestorben, mein Vater traf eine andere Wahl. Ich verstand mich nicht mit meiner zweiten Mutter, gewiß lag die Schuld auch an mir. Den Vater führte sein Beruf viel auswärts, er kümmerte sich kaum um mich. Da beschloß ich, mir einen Beruf zu wählen, der mich selbständig machte. Ich bin nun schon mehrere Jahre auf dem Seminar, wollte erst Ostern Examen machen, aber die Notwendigkeit, je eher je lieber etwas zu verdienen, hat mich bestimmt, mich schon für Michaelis zu melden. Ob mir's gelingt, weiß ich nicht.«

»Du willst also dann gleich eine Stelle annehmen?«

»Ich muß. Es sind Verhältnisse eingetreten, die mich zwingen.« Frieda hätte sich mit diesem, was Veronika ihr anvertraut, begnügt. Aber Veronika hatte sich vorgenommen, jetzt alles zu sagen. Sie kämpfte noch ein wenig mit sich, plötzlich ergriff sie Friedas Hand und sagte: »Frieda, ich bin verlobt!«

Da konnte Frieda doch einen Ausruf des Staunens nicht unterdrücken. »Und dann willst du Examen machen, willst eine Stelle annehmen?«

»Mein Verlobter ist ein prächtiger Mensch, in meinen Augen der beste. Aber wir haben alle unsere Fehler und Schwachheiten. Er neigt zur Heftigkeit und läßt sich da zu Handlungen hinreißen, die ihm nachher bitter leid sind. Nur so viel will ich dir sagen, Frieda, daß er sich durch seine Heftigkeit etwas hat zuschulden kommen lassen, wodurch er in große Geldnöte gekommen ist. Ich will ihn unterstützen und tue das mit Freuden. Mehr kann und darf ich dir nicht sagen, mein Saltino würde es mir nie verzeihen. Aber sein Bild will ich dir nächstens einmal zeigen. Ich weiß, du kannst schweigen, sonst hätte ich es dir nicht anvertraut.«

»Ich werde nichts verraten«, sagte Frieda ruhig. Veronika ahnte nicht, wie es in dem Kopf ihrer jungen Freundin von allerlei unruhigen Gedanken wirbelte. Sie hätte jetzt gehen müssen, aber sie zögerte noch, als möchte sie noch etwas sagen.

»Nun, Kleine, hast du auch noch etwas auf dem Herzen, was du mir anvertrauen möchtest?«

»Du sagtest erst, Klotilde und Karla wären dir unausstehlich. Möchtest du sie nicht ein wenig näher kennenlernen? Sieh, wir leben doch einmal hier zusammen, sollen uns liebhaben –«

»Kleine Törin, man kann nicht alle Menschen lieben.«

»Wir sollen es aber, Gottes Wort gebietet es uns.«

»Man kann sich nicht immer nach Gottes Wort richten.« Frieda sah sie traurig an. »Meine selige Mutter hat mir geraten, es zur Richtschnur meines Glaubens und Lebens zu machen. Ich habe immer seine Kraft erfahren, wenn mir etwas schwer wurde.«

Veronika sah nachdenklich aus. »So sprechen Meilers auch. Von dem Geist dieses Hauses fühle ich mich angezogen, das muß ich der Wahrheit gemäß gestehen. Ich war früher in einer anderen Pension, da gab's diese Ansichten nicht. Auch zu Hause nicht.«

»Wie schade!« sagte Frieda. »Dann bin ich sehr bevorzugt, weil ich eine fromme Mutter gehabt habe, die früh meine Hände falten und mich beten lehrte. Wie dankbar muß ich sein!«

»Du goldenes Herz, von dir kann man lernen.« –

»Freut euch des Lebens,
weil noch das Lämpchen glüht,
pflücket die Rose,
eh' sie verblüht«,

trällerte eine Stimme auf dem Korridor.

»Wie mich dies ewige Singen stört, wie oft ist es ihr schon verboten«, rief Veronika.

»Wir wollen versuchen, es ihr abzugewöhnen. Sonst ist es ja hübsch, daß Lina immer fröhlich ist –«

»Meine Herrschaften, das Abendbrot ist angerichtet.« Lina steckte vergnügt den Kopf zur Tür herein. »Heute noch gar keine Dummheiten gemacht, ist das nicht bewunderungswürdig. Was für eine vollkommene Tochter wird meine Mutter finden, wenn sie kommt. Gar nicht wieder zu erkennen!«

Beide Mädchen erhoben wie auf Verabredung drohend den Finger. »Nur nicht zu früh gejubelt«, rief Veronika. Beide folgten lachend dem Ruf zum Abendessen.

Frieda lag noch lange wach. Sollte der Verlobte von Veronika wohl im Zusammenhang stehen mit ihrem Erlebnis? Dann würde sie ihn kennen, diesen Herrn mit den großen dunklen Augen, der so angstvoll nach ihrem Tuch griff, um es dem Sterbenden, wie sie glaubte, aufzulegen. Ob er wirklich gestorben war? Dann stände es ja schlimm um den andern, der ihn tödlich verletzt haben mußte. So gingen die Gedanken hin und her.

Doch schon am folgenden Tag folgte die Aufklärung. Veronika winkte ihr hereinzukommen und zeigte ihr, wie sie versprochen, das Bild ihres Verlobten. »Gott sei Dank«, dachte Frieda, »er ist es nicht.« Es war ein ganz anderes Gesicht als das, was ihr vorschwebte, auch erwähnte Veronika beiläufig, daß ihr Verlobter blond sei und graublaue Augen habe.


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