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Die beiden Mädchen standen am Grabe ihrer Mutter. Es war am Abend vor Friedas Abreise. »Die Trennung wird mir diesmal besonders schwer«, sagte sie.
»Mir wird sie vielleicht schwerer als dir«, antwortete Martha. »Du kommst in eine große Stadt, wirst viel Neues sehen und hören. Frau Roller sprach schon davon, daß sie dich in Konzerte und Vorträge führen wolle. Ich bleibe allein mit meinem Kummer um die geliebte Mutter zurück.«
»Du hast aber die schöne Aufgabe, deinem Vater alles zu sein. Du mußt auch versuchen, deine Mutter im Dorf zu ersetzen. Du hast viele Pflichten hier, während ich doch immer das verwaiste Kind bleibe, das sein Brot bei fremden Leuten essen muß.«
»Sage das nicht«, rief Martha. »Du könntest, wenn du wolltest, immer bei uns bleiben. Ich gäbe was darum, wenn du jetzt noch einwilligtest.«
»Das wäre töricht, Martha. Wir können nicht in die Zukunft sehen, wissen nicht, wie lange Gott deinem Vater das Leben schenkt. Er hat bis jetzt so gütig für mich gesorgt, es wäre unrecht, wollte ich noch länger Wohltaten annehmen. Aber ich werde immer wieder bei euch einkehren und euer Haus stets als meine Heimat betrachten. Wir haben gute und böse Zeiten miteinander durchgemacht, sind aber durch das alles immer enger miteinander verbunden, besonders aber seit dem letzten Sommer.«
Martha weinte leise, während Frieda sich bückte, hier und da auf dem Grabe etwas ordnete und frische Blumen aus dem Pfarrgarten drauflegte. Dann wandte sie sich wieder an Martha.
»Sei getrost, Martha. Du kannst täglich zum Grab deiner Mutter gehen, kannst es schmücken und in Ordnung halten. Ich habe mein Grab mit elf Jahren verlassen müssen und habe nie die Mittel gehabt, etwas dafür zu tun. Aber es soll nun mein erstes sein, dafür zu sparen. Und wenn ich etwas beisammen habe, dann reise ich nach Steinfeld, wo meine Mutter begraben liegt, und sorge dafür, daß sie ein würdiges Denkmal bekommt.«
»Dann begleite ich dich, und du zeigst mir das Haus, wo du mit deiner Mutter gewohnt hast, die Stätte, wo du gespielt hast –«
»Gewiß, das tue ich.« Diese Aussicht belebte die Mädchen. Sie spannen die Gedanken an eine solche Reise auf dem Heimweg noch weiter aus.
»Ob du wohl in L. noch Anklänge an die früheste Kindheit finden wirst?«
»Mitunter, wenn ich stark nachdenke, taucht in meiner Erinnerung ein großes Haus mit breiten Treppen auf. Dort müssen wir gewohnt haben, als mein Vater noch lebte. Aber große Häuser wird es viele dort geben, und da ich weder Straße noch Nummer weiß, so wird es wohl nie entdeckt werden, es hat ja auch keinen Zweck. Hauptsache ist, daß ich Frau Roller genüge, und daß ich meine Pflichten Margarete gegenüber voll und ganz erfülle. Ich schreibe dir, Martha, du mußt versprechen, mir auch regelmäßig Nachricht von allem zu geben, was sich bei euch ereignet.«
So redeten die Mädchen auf dem letzten Wege, den sie miteinander machten. Am Abend gedachte der Pfarrer in der Andacht besonders seines Pflegekindes und befahl es dem treuen Heiland.
Am nächsten Morgen hielt Christian schon früh mit dem Wagen vor der Türe. Martha wollte Frieda bis Neuburg begleiten. Sie kehrten beide noch bei der Großtante ein. Auch hier dankte Frieda für alle Liebe, die ihr von der Tante entgegengebracht war. Dann ging es an den Bahnhof, wo schon Christian mit den Sachen wartete. Er reichte Frieda beim Abschied die Hand. »Von meinetwegen«, schmunzelte er, »hätten Sie immer in Buschrode bleiben können, ich hätte nichts dawider gehabt, und die auch nicht.« Er zeigte auf seine Braunen, die Frieda streichelte. Wie oft hatte sie den Pferden ein Stückchen Zucker oder sonst etwas Gutes gebracht. Nun wurde es aber Zeit. Sie löste schnell eine Fahrkarte, besorgte den Gepäckschein und stieg in den schon haltenden Zug, nachdem sie Martha noch einmal gebeten hatte, nicht so traurig zu sein, sie würde bald wiederkommen. Noch ein letzter Händedruck aus dem Abteil, ein Winken, dann setzte sich der Zug in Bewegung. Bald brauste er dem fernen Ziel entgegen.
Lang war die Fahrt. Frieda kam durch kleinere und größere Städte, es ging durch Wälder und Felder, bis endlich am Abend die Lichter der großen Stadt auftauchten. Jetzt hielt der Zug. Ein hell erleuchteter großer Bahnhof. Eine Menge Menschen wogten hin und her. Es wollte ihr fast schwindlig werden, als sie so allein unter der Masse dahinschritt. Die Anschrift der Dame hatte sie. Nun galt es, eine Droschke zu erreichen, ihr Gepäck zu versorgen und dann weiter.
Als sie aus der Halle trat, stand ein Diener in Livree am Eingang. Er musterte sie und trat dann höflich auf sie zu. »Fräulein Senker?« fragte er. Erstaunt nickte Frieda. Mit den Worten: »Frau Roller schickt mich«, ergriff er Tasche, Reisedecke und Schirm und geleitete sie zu einer schon bereitstehenden Droschke. Dann bat er um den Gepäckschein, besorgte die Sachen mit großer Schnelligkeit, schwang sich zu dem Kutscher auf den Bock, dann rasselte der Wagen davon.
Es war für Frieda eine Beruhigung, nicht ganz allein zu sein. Es ging durch endlose Straßen, über große Plätze, bis sie endlich in einer vornehmen Straße vor einem großen Gebäude haltmachten.
Oben im ersten Stock war alles hell erleuchtet. Sie sah hinauf. Wirklich, da tauchte Margaretens Gestalt am Fenster auf. Also dort oben würde ihre künftige Heimat sein. Der Diener schritt mit den Sachen voran und klingelte. Da wurde schon die Tür geöffnet. Gretchen fiel ihrer neuen Lehrerin um den Hals und jubelte: »Wie freue ich mich, daß Sie da sind, liebes Fräulein Senker.« Auch Frau Roller streckte ihr beide Hände entgegen und begrüßte sie herzlich. »Margarete konnte es gar nicht mehr erwarten, bis der Herbst kam, der Sie uns bringen sollte. Es ist nur gut, daß Sie da sind.«
Der freundliche Empfang tat Frieda sehr wohl. Doch hatte sie sich alles nicht so reich und vornehm gedacht, da Frau Roller im Kurort wohl einen feinen, aber durchaus einfachen Eindruck gemacht hatte.
Margarete führte sie dann in ihr Zimmer, das wohnlich und sehr gemütlich eingerichtet war. Auch hier brannte überall Licht. Frau Roller liebte es, die ganze Wohnung erleuchtet zu sehen. Es war Frieda, als sei sie schon seit langem hier zu Hause. Mutter und Tochter begegneten ihr mit solcher Herzlichkeit, daß sie sich abends mit dankbarem Gefühl zur Ruhe legte, froh, daß ihr eine anscheinend so gute Stelle ohne sonderliche Bemühung zugefallen war.
Es gab allerdings auch hier wie überall Schwierigkeiten zu überwinden. Frieda mußte an Margarete beim Unterrichten einen ganz andern Maßstab anlegen als bei gesunden Schülerinnen. Sie war leicht erregt und zum Weinen geneigt, wenn etwas nicht ging, wie es sollte. Das Kind bekam zuweilen Weinkrämpfe, die Frieda erschreckten, und die besorgte Mutter ließ sie nach solchen Anfällen im Bett, so daß der Unterricht tagelang ausfiel. Das war für Frieda, die immer vorwärts strebte, nicht sehr ermutigend. Sie glaubte, daß ein Spaziergang in frischer Luft oft von besserer Wirkung sein würde als das Liegen. Doch als sie eines Tages diese Überzeugung gegen die Mutter aussprach, war sie entschieden gegen eine solche Lösung, und Frieda sagte nichts mehr. Gretchen war von Charakter ein gutes Kind und ließ sich gut beeinflussen. Ihre Liebe zu Frieda war groß und blieb es auch dann, wenn sie genötigt war, strengere Saiten aufzuziehen. Die Kleine hatte, da sie die Schule nicht besuchte, wenige Freundinnen; dadurch war Frieda sehr gebunden, da sie sich auch außerhalb der Stunden viel mit dem Kinde beschäftigen mußte. Aber Frau Roller sorgte dafür, daß Frieda an dem, was die große Stadt in wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung bot, teilnehmen konnte. So erfreute sie sie oft durch Konzertkarten oder besuchte mit ihr Vorträge, die für Frieda von Interesse sein konnten. An solchen Tagen kam eine ältere Verwandte zu der Kleinen.
Als es Gretchen in letzter Zeit recht gut gegangen war, erklärte die Mutter einmal am Morgen, sie habe drei Konzertkarten, heute dürfe die Kleine sie begleiten. Frieda dachte an Martha. Wie gern hätte sie auch ihr diesen Kunstgenuß gegönnt; sie würde einen sehr einsamen Winter daheim im stillen Pfarrhaus haben.
Als sie am Abend den großen hellerleuchteten Saal betraten, war schon ein großes Publikum versammelt. Ein berühmter Violinspieler trat auf. Frieda sah sich um. Eine auserlesene Gesellschaft umgab sie. Einige bekannte Damen nickten zu Frau Roller herüber, andere, die in ihrer Nähe saßen, begrüßten sie leise. Das Konzert begann.
Alles lauschte atemlos und zollte nach Beendigung des Spiels lauten Beifall. Bei der nun eintretenden Pause erhoben sich einige Herren in den ersten Reihen und verließen den Saal. Sie gingen dicht an Frieda vorüber, die am Ende einer Bank saß. Der eine der Herren, eine elegante Erscheinung mit dunklen Augen, sah sie scharf an und stutzte. Es war fast, als ob er sich erinnerte, sie schon einmal gesehen zu haben. Zögernd ging er weiter. Frieda hatte diesen unbekannten Fremden wohl erkannt, dem sie heute zum drittenmal in ihrem Leben begegnete. Also L. war seine Heimat. Der Gedanke an ihn machte sie unruhig, sie konnte selbst nicht sagen warum. Dann dachte sie an die zweite Begegnung, wo er so ritterlich für die Damen gesorgt hatte. Es war ihr, als fühle sie noch den energischen Händedruck und hörte seine Worte: »Es wäre ja Unsinn, wollten Sie hier sitzen bleiben.« Gerade in diesem Augenblick gingen die Herren wieder an ihr vorüber und setzten sich an ihren Platz. Das Konzert nahm seinen Fortgang, alles lauschte, nur Frieda mußte ihre Blicke nach dem Herrn richten, der ihr schräg gegenüber Platz genommen hatten. In diesem Augenblick wandte der Bekannte sich auch um, so daß ihre Blicke sich begegneten. Nun sah Frieda nicht wieder hinüber, sie war aber sicher, daß er sie wiedererkannt hatte.
Als das Konzert vorüber war, stand der Diener an der Ausgangstür und geleitete die Damen an eine Droschke, die er für sie besorgt hatte.
»Kannten Sie den Herrn, Fräulein Senker, der uns schräg gegenüber saß?« fragte Frau Roller, als sie im Wagen Platz genommen hatten. »Er zog ja den Hut vor Ihnen, als er eben an uns vorüberging.«
»Das habe ich nicht gesehen«, sagte Frieda errötend.
»Aber ich habe gesehen, daß er sich im Saal einige Male nach Ihnen umsah, als müsse er Sie kennen.«
»Kennen kann man eigentlich nicht sagen«, meinte Frieda und berichtete nun, daß dieser Herr im vorigen Jahr bei einer großen Schneeverwehung, als der Zug steckengeblieben war, ihr und andern Frauen Hilfe geleistet habe, indem er sie mit einem Schlitten weiterbeförderte. Sie wisse aber nicht, wie er heiße, noch woher er stamme.
»Ich erinnere mich auch nicht, ihn je gesehen zu haben, jedenfalls gehört er aber den guten Kreisen der Stadt an.« Damit war die Sache für Frau Roller, nicht aber für Frieda erledigt. Ihre Gedanken beschäftigten sich von da an mehr mit dem Fremden, als sie es wollte. Wenn er wirklich in der gleichen Stadt wohnte, so würde er ihr vielleicht doch noch öfter begegnen, vielleicht erführe sie seinen Namen und bekäme Aufklärung über die traurige Szene am Neuburger See. Sie würde sich sehr freuen, wenn das Vorurteil, das sie damals gegen ihn fassen mußte, sich als falsch erwies. Der Herr hatte, wenn man ihn näher ins Auge faßte, gar nicht das Aussehen, als ob er jemand mit Bedacht Böses zufügen könnte.