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Die Kleine schlief tief und fest. Sie erwachte erst, als die Sonne schräge Strahlen in ihr Kämmerlein warf und die Vögel unter dem Dach zwitscherten und zirpten. Verwundert sah sie sich um. Wo war sie eigentlich, was war mit ihr vorgegangen? In einer Dachkammer hatte sie nie geschlafen, die Verwandten waren gewiß arme Leute, wenn der Onkel in seiner äußeren Erscheinung auch ganz vornehm aussah. Und die Tante? Frieda konnte sich nur besinnen, eine sehr umfangreiche Dame gesehen zu haben, die bequem in ihrem Lehnstuhl saß. Sie war zu müde gewesen, um Beobachtungen anzustellen. Sie wusch sich, zog sich schnell an, die langen blonden Zöpfe waren bald geflochten, die Mutter hatte sie schon früh gelehrt, sich selbst zu helfen. Sollte sie nun hinuntergehen, oder warten, bis sie gerufen wurde? Sie sah zu dem kleinen, schmalen Fenster hinaus, das sich an der Querseite der Kammer befand. Da gab es nicht viel zu sehen. Eine graue Mauer, wahrscheinlich die Wand des Nachbarhauses, erhob sich in geringem Abstand von ihrem Hause, nur ein Weg trennte beide. Die kleinen Sperlinge auf dem Dach zwitscherten ununterbrochen und erinnerten sie plötzlich an ihren kleinen Kanarienvogel. Was war nur aus ihm geworden? Sie hatte sich in der Nacht gar nicht wieder um ihn gekümmert. Sie mußte gleich sehen, wo er war. Schnell öffnete sie die Tür, da stand der mit einem Tuch verhangene Käfig einige Schritte von ihr auf dem Boden. Sie eilte darauf zu, band das Tuch ab und sah das kleine Tier in einer Ecke seines Bauers mit eingezogenem Köpfchen traurig dasitzen. Kaum erblickte der Vogel sie, so kam Leben in ihn, er hüpfte von Stange zu Stange, streckte das Köpfchen vor und ließ ein sehnsüchtiges Piepen hören.
»Ja, du sollst dein Futter haben, mein geliebtes Vögelchen.« Sein Piepen klang ihr wie ein Gruß aus der Heimat. Sie eilte zu ihrer kleinen Reisetasche und entnahm ihr die Tüte, die die gute Frau Nekel ihr geschenkt hatte, tat genügend von dem Inhalt in das Futternäpfchen, füllte das Glas aus ihrer Kanne mit frischem Wasser und ergötzte sich an dem eifrigen Picken des Vogels. Dann, als wollte er ihr danken, begann er sein Liedchen, sang so hell und frisch, wie er es daheim getan hatte, so daß ihr die Freude aus den Augen sah. »Nun habe ich doch etwas, was ich liebhaben kann«, dachte sie und konnte sich an den Hin- und Herhüpfen des Tierchens und an dem munteren zutraulichen Wesen nicht satt sehen.
»Jetzt werde ich doch wohl gehen müssen«, dachte sie. Beim Hinuntersteigen war ihr beklommen zumute. Es war alles so still im Hause, nichts regte sich.
Sie schliefen vielleicht noch, oder sollte sie einmal an jene Tür dort anklopfen? Leise und schüchtern machte sie einen Versuch. »Herein«, rief eine Stimme, worauf sie die Tür öffnete. Da saß Frau Wilms am Kaffeetisch, behaglich ihr Frühstück verzehrend in eben dem Lehnstuhl, in dem Frieda sie in der Nacht gesehen. Der Onkel war nicht sichtbar.
»Bist du da, Kind, komm näher. Was soll ich dir geben, Kaffee oder Milch?«
»Was Sie mir geben wollen, es ist mir alles recht.«
»Nun, da hast du eine Tasse Kaffee. Er wird aber zu stark für dich sein.« Sie tat noch eine Portion heißes Wasser dazu und ein klein wenig Milch, reichte ihr eine Semmel und sagte: »Nenne mich nur ›Tante‹ und ›du‹. Wir sind zwar keine nahe Verwandte, deine Mutter hat sich sonst wenig oder gar nicht um uns gekümmert, aber da du nun einmal hier bist, kannst du mich als Tante ansehen.«
»Da du nun einmal hier bist« – es klang nicht sehr vertrauenserweckend. Ob es der Tante wohl lieber gewesen wäre, wenn sie nicht mitgekommen wäre? Frieda hatte ein zartes Empfinden, es war, als ob ihr etwas im Halse steckte und ihr das Schlucken erschwerte.
»Es ist eine große Torheit, daß du ein lebendiges Tier mitgebracht hast. Wir sind nicht an sowas gewöhnt. Du mußt den Vogel in deiner Schlafkammer behalten; ich bin nervös, das Piepen und Singen würde mich umbringen.«
Als Frieda schwieg, sagte sie: »Hast du gehört, was ich sagte?« Ein leises »Ja« erfolgte. Sie war zufrieden, daß sie das Tierchen oben behalten durfte, unten würde sie nie gewagt haben, sich mit ihm zu unterhalten.
»Es kommt jeden Morgen eine Frau, die die Zimmer reinigt«, begann nun die Tante. »Du wirst dich von ihr unterweisen lassen, wie sie es macht und ihr dabei helfen. Vorerst nimm das Kaffeegeschirr in die Küche und reinige die Tassen. Später kannst du deinen Koffer auspacken und deine Sachen in Ordnung bringen.« Die Dame erhob sich schwerfällig; es schien ihr nicht leicht zu werden, sich zu bewegen. Frieda, die ein mitleidiges Herz hatte, beschloß, recht aufmerksam gegen die Tante zu sein und ihr möglichst viel abzunehmen. Sie hatte gleich Gelegenheit, als Frau Wilms einen Schlüssel fallen ließ.
Schnell sprang sie, ihn aufzuheben, was ein freundliches: »Danke, mein Kind!« zur Folge hatte.
»Das gute schwarze Kleid, das du trägst, müssen wir durch ein billigeres ersetzen, das du bei der Hausarbeit anziehen kannst, damit dies lange dein bestes bleibt. Oder bringst du noch andere Kleider mit?«
»Zwei Kleider von der Mutter sind noch da. Frau Nekel meinte, es könnte für mich etwas daraus gemacht werden.«
»Ja, wenn die Schneiderinnen nicht so viel Geld verlangten! Nun, wir müssen sehen, wie wir es am billigsten einrichten können.«
»Den Verwandten muß es recht schlecht gehen! Wenn Mütterchen das gewußt hätte! Sie glaubte, daß sie sehr wohlhabend seien«, dachte die Kleine.
Frieda zeigte sich beim Spülen des Geschirrs in der Küche recht anstellig, und als die Frau erschien, freute sie sich, noch einen andern Menschen kennenzulernen.
»Das haben Sie recht gemacht, Frau Wilms, daß Sie sich eine Kleine zugelegt haben. Es ist gleich gesellschaftlicher, wenn Herr Wilms in Geschäften fort ist.«
»Ja, Frau Benak, sie soll Ihnen helfen. Lernen Sie sie nur tüchtig an, dann kann ich Ihre Hilfe später entbehren.«
Frau Benak sah verdutzt aus. »Das Kind ist doch viel zu schwach zu der schweren Hausarbeit!«
»Es soll nicht gleich sein; für später.« »Das wollt' ich meinen«, brummte die Alte und fügte etwas hinzu, was Frieda nicht verstand. Dann ergriff sie Besen und Schrubber und wirtschaftete mit großem Eifer im Hause herum. Frieda mußte heute nur Staub in allen Zimmern wischen, bekam aber dadurch einen Einblick in das ganze Reich der Tante.
Das Haus war nicht groß, aber Eigentum der Verwandten. Links gab es drei miteinander verbundene Zimmer und eine Kammer, rechts befand sich eine große, geräumige Stube, die einem Kontor glich. Es standen drei Pulte darin und ein großer mit Schriften bedeckter Arbeitstisch, außerdem ein altertümliches Ledersofa und zwei ebenfalls mit Leder überzogene Lehnstühle. »Wische alles sorgfältig ab, aber spute dich, daß du jeden Morgen bis um 9 Uhr fertig bist, ehe die Herren kommen«, hatte die Tante gesagt. Die drei Pulte ließen darauf schließen, daß außer Herrn Wilms noch andere dort arbeiteten.
Und wirklich, als sie eben fertig war und mit dem Staubtuch aus dem Herrenzimmer kam, huschte ein dunkelhaariger Jüngling an ihr vorbei, vergaß, weil er anscheinend über das fremdartige kleine Wesen in diesem sonst öden Hause erschrocken war, das Grüßen, schwang sich auf seinen hohen Sessel und begann eifrig zu schreiben. Wieder erklang die Hausglocke, es erschien ein schon älterer blonder Herr, etwas verwachsen, der ebenfalls im Kontor verschwand. Nun, das fing doch an lebendig zu werden, wo blieb aber Herr Wilms? »Ist mein Mann heruntergekommen?« fragte die Tante, als Frieda sich anschickte, im Wohnzimmer Staub zu wischen.
»Nein, es kamen zwei junge Leute.«
»Das sind die Schreiber. Mein Mann hat Agenturen und Versicherungen, die bringen viel Arbeit.« Frieda wußte nicht, was Agenturen waren, aber so viel reimte sie sich zusammen, daß es wohl kaufmännische Geschäfte waren.
Als sie mit den ihr aufgetragenen Pflichten fertig war, durfte sie auspacken. Frau Benak war ihr behilflich, den Koffer nach oben zu bringen. Er war schwer, weil er viele Schulbücher enthielt, Kleidungsstücke gab es wenige. Mit Freuden begrüßte sie ihre Bücher und Hefte. Wo und wann würde sie hier zur Schule gehen? Die Osterferien waren schon vorüber, ob sie die Tante fragen durfte oder lieber abwartete, bis ihr etwas gesagt wurde?
Da – unter den Schulbüchern lag die von der Mutter geschenkte Bibel. Wie lieb hatte sie mit ihr gesprochen, als sie sie ihr überreichte. »Dies ist der größte Schatz, den wir haben, mein Kind, halte die Bibel wert. Gottes Wort ist die ewige Wahrheit. Es zeigt dir, was du tun und lassen sollst, es gibt dir Rat, Kraft und Trost zu allen Zeiten, es lehrt dich vor allen Dingen deinen Heiland lieben.«
Frieda schlug die Bibel auf. Da stand von der Mutter mit fester Hand geschrieben: »Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren.« Wie wenig hatte sie in den letzten Tagen an der Mutter Worte gedacht. Es war so viel Neues, Unbekanntes auf sie eingestürmt, daß sie nicht einmal gebetet hatte. Was würde wohl die Mutter sagen, wenn sie es wüßte. Das sollte von nun an anders werden, sie wollte jeden Morgen beim Aufstehen und jeden Abend beim Schlafengehen Gottes Wort lesen und zu ihrem himmlischen Vater beten. Einen irdischen hatte sie nicht mehr, auch keine Mutter, und ob sie Onkel und Tante je so lieben würde wie die Eltern, das konnte sie sich jetzt noch nicht vorstellen. Sie kam sich recht verlassen vor; wie gut, daß sie einen Vater im Himmel hatte, der sie liebte und behütete.
»Nun, Kind, du kommst ja gar nicht wieder zum Vorschein, sind die Sachen noch nicht ausgepackt? Stelle die Bücher hübsch ordentlich auf die Kommode, die Wäsche gehört hinein, die Kleider werden in den Schrank gehängt, der auf dem Boden steht.« Frau Wilms blieb im Zimmer, bis Frieda alles nach ihren Angaben besorgt hatte. »So, nun komm mit mir in die Küche, du kannst mir da helfen. Ich wollte noch eins sagen. Merke dir genau den Weg von deiner Kammer bis zur Treppe, es werden ungefähr zehn Schritte sein.« Als sie an der Treppe standen, sagte sie: »Nun schließe die Augen und sieh, ob du die Kammertür findest.« Frieda tat wie ihr befohlen, sie machte zehn Schritte mit geschlossenen Augen und griff nach der Tür. Die Tante hatte recht, sie fühlte den Drücker in der Hand. »Siehst du, es geht«, sagte sie, »also zehn Schritte von der Treppe; die Treppe hat zwanzig Stufen, das merke dir.«
Sonderbar dieses Manöver, aber es mutete Frieda wie ein Spaß an, so daß sie im Laufe des Tages, wenn sie nach oben ging, die Augen schloß, zehn Schritte zählte und dann die Kammertür erreicht hatte. Immer traf sie es nicht genau, aber sie fühlte dann an der Wand herum, bis sie die Türklinke in der Hand hatte. Der Spaß hörte auf Spaß zu sein, als die Tante abends beim Gutenachtwünschen sagte: »Ein Licht gibt es nicht, dazu sind die Lichter zu teuer. Du kennst ja deinen Weg zur Schlafkammer, weißt, wo dein Bett steht, und wirst schon hineinfinden.«
Nun erschrak das Kind. Das hatte ihr noch niemand zugemutet, im Finstern allein zu Bett zu gehen. Sogar der Onkel sagte: »Das erste Mal könntest du ihr wohl ein Licht geben«, worauf die Tante meinte: »Wilms, wir haben es doch ausgemacht, daß es so sein soll. Übrigens kennt sie den Weg schon genau, es ist besser, es finden keine Ausnahmen statt.«
Frieda ging still ihres Weges. Sie zählte zwanzig Stufen und wußte, sie war nun oben, und nach zehn Schritten hatte sie glücklich die Kammertür erreicht. Es war etwas ganz Neues, Unbekanntes, es war ihr interessant, alles ohne Licht zu finden und sich selbst in der Finsternis ins Bett zu legen. Beinahe hätte sie gelacht, als sie drin war. Sie war ein zufriedenes, glücklich beanlagtes Kind, das sich leicht in alles fand. Aber sie wollte in ihrer Bibel lesen, wie sie es diesen Morgen gelobt hatte, das war im Finstern unmöglich. »Lieber Heiland, du weißt, daß ich es nicht kann, wenn die Tage heller werden, will ich es nachholen.«
Dann sprach sie ihr Abendgebet, das konnte sie ohne Licht, darauf legte sie sich auf die Seite zum Schlaf, der heute nicht gleich kommen wollte.
Sie sah immer noch den Onkel und die Tante ihr gegenüber auf dem Sofa sitzen. Sie hatten eigentlich merkwürdige Gesichter. Der Onkel hatte einen kleinen Kopf mit einer großen Habichtsnase, die beinahe wie ein Schnabel aussah, dabei einen langen dünnen Hals. Er war sehr schlank und mager, während die Tante einen ziemlichen Umfang zeigte und ein großes, langes, starkknochiges Gesicht hatte. Der Onkel sah einem Papagei sehr ähnlich, während der Tante Gesicht an das eines anderen Tieres erinnerte. Dieser Gedanke ließ sie nicht gleich einschlafen. Ja, nun hatte sie es heraus, der Onkel sah wie ein Papagei aus und die Tante wie ein – aber es war gewiß nicht recht, wenn sie die Gesichter der Verwandten mit Tieren verglich. Sie wollte es wieder vergessen und an etwas anderes denken. Wo wohl der Onkel den ganzen Tag gewesen war, sie hatte ihn erst gegen Abend nach Hause kommen hören.
Am andern Morgen war Frieda früher auf. Sie wollte sich ihr Kämmerchen, das öde und leer aussah, recht wohnlich einrichten, einige kleine Bilder aufhängen und womöglich Blumen ziehen, vielleicht ein rankendes Gewächs um den Vogelkäfig, der am Fenster seinen Platz gefunden hatte. Das Vögelchen, das sich schon ganz behaglich und zufrieden mit seiner Lage zu fühlen schien, sang ihr schon ein Morgenlied zum Dank für das reichliche Futter, das sie ihm gespendet hatte.
Als sie hinunter kam, war der Onkel schon wieder fort, sie mußte wohl noch früher aufstehen, wenn sie ihn treffen wollte. Er kam aber schon um zehn Uhr zurück und sagte: »Nun ist es mit der Schule in Ordnung. Von morgen an besucht Frieda die höhere Töchterschule in der Lindenstraße. Kind, geh ein Weilchen hinaus, ich habe mit der Tante zu reden.«
Es wurde Frieda schwer zu gehorchen, denn die Sache mit der Schule interessierte sie über alle Maßen. Herr Wilms fand es aber besser, seiner Frau allein anzuvertrauen, daß er es durchgesetzt habe, Frieda für den halben Preis unterzubringen. Schon gestern habe er gehandelt, aber man hielt ihn allgemein für einen reichen Mann, der bezahlen konnte. Als er nun aber die Armut der kleinen Waise geschildert, und wie sie selbst sie fast umsonst behalten müßten, habe man ein Einsehen gehabt, und so komme er billiger weg, als wenn er sie in der Bürgerschule untergebracht hätte.
Er mußte sie wohl oder übel in einer höheren Lehranstalt unterbringen, da die Mutter ausdrücklich für die Erziehung ihrer Tochter eine Summe ausgesetzt hatte, die sie sich mühsam erspart hatte. Er hatte auf den Wunsch der Mutter das Geld als Vormund an sich genommen, verschwieg aber, daß er es bereits gegen hohe Zinsen ausgeliehen hatte.
»Diesen Nachmittag mußt du aber mit Frieda gehen, um sie der Schulvorsteherin vorzustellen, auch muß sie sich prüfen lassen.« So schloß er seine Rede, deren Inhalt nun der Kleinen berichtet wurde. Die war sehr froh, daß sie eine Schule besuchen durfte, kam sie doch da mit Kindern ihres Alters zusammen und fand vielleicht eine Freundin, die sie liebhaben konnte. Nach Liebe sehnte sich ihr Herz.
Frau Wilms mußte, so unangenehm es ihr war, Frieda am Nachmittag zu Fräulein Holm, der Schulvorsteherin, begleiten; die Kleine war ganz fremd in der Stadt und würde sich nicht zurechtfinden.
Frieda war erstaunt über die Größe des Ortes. In Steinfeld, ihrer alten Heimat, war es von einem Tor zum andern nicht weit gewesen; hier gab es Straßen, die länger als die ganze Vaterstadt waren. Mit Staunen sah sie an den hohen mehrstöckigen Häusern hinauf, guckte mit Entzücken in die prächtigen Läden, freute sich über die knospenden Bäume in den Anlagen und fand den Weg zur Schule einzig schön.
»Kind, bleib nicht so oft stehen, wir haben nicht viel Zeit«, mahnte Frau Wilms gelangweilt. Endlich, nach einem viertelstündigen Weg, waren sie beim Schulgebäude. Ein großer freier Platz umgab das Haus, an seiner Seite waren Turngeräte angebracht, sonst war der Platz mit Bäumen bepflanzt, die ihn im Sommer beschatteten. Fräulein Holm empfing Frau Wilms und das Kind freundlich, prüfte die Kleine und schien mit dem Ergebnis sehr zufrieden.
»Ich glaube, wir können es mit der dritten Klasse wagen; geht es nicht, muß Frieda in die vierte zurück, ich denke aber, mit ein wenig Anstrengung wird sie es schaffen!« »O ja«, sagte Frieda mit leuchtenden Augen.
»Es liegt uns sehr viel daran«, sagte Frau Wilms, »daß Frieda baldmöglichst mit der Schule fertig wird, dann muß sie verdienen.«
»Soll sie nicht später Examen machen? Ich meine, Ihr Herr Gemahl äußerte dergleichen.«
»Gewiß, sie soll soviel wie möglich lernen, um dann um so mehr zu verdienen.«
Immer sprach die Frau vom Verdienen. Als ob das die Hauptsache sei. Es gab doch auch edlere Beweggründe, Lehrerin zu werden, als nur den, Geld zu sammeln.
Als die beiden Fräulein Holm verlassen hatten, stand diese sinnend am Fenster. »Ein begabtes, anziehendes Kind. Ob sie in den richtigen Händen sein wird? Der Mann gefiel mir gestern wenig, und seine Frau heute noch weniger. Doch ich kann mich ja täuschen.«
Als sie zurückkamen, sah Frieda heute zum ersten Male das Haus von außen. Es war eine niedliche kleine Villa in der Vorstadt, mitten in einem Garten gelegen. Vor dem Hause war ein wohlgepflegter Rasen mit Blumenbeeten, der hinter dem Hause liegende Teil schien Gemüsegarten zu sein. »
O, da gibt es schon Veilchen! Darf ich sie pflücken?« rief Frieda entzückt.
»Pflücke so viele du finden kannst. Jetzt sind sie noch selten und werden gut bezahlt. Aber sieh dich vor, daß du sie nicht mit kurzen Stielen pflückst, das lieben die Käufer nicht.«
Frau Wilms ging ins Haus, während Frieda nach Veilchen suchte. Wie herrlich dufteten die kleinen Blumen, und welch eine Menge hatte der warme Sonnenschein schon zur Blüte gebracht. Da es so viele waren, ging sie schnell ins Haus, gab ihre Bücher ab und holte sich einen Korb, um die Blumen hineinzulegen. Als sie alles, was blühte, gepflückt hatte, bat sie die Tante um ein Gefäß, sie ins Wasser zu stellen. »Nein, ins Wasser kommen sie nicht. Ordne sie in der Küche, je zwanzig und zwanzig zusammen zu kleinen Sträußchen, binde sie mit diesem Garn, lege sie alle in eine große flache Schüssel und benetze sie mit Wasser. Frau Benak nimmt sie morgen mit auf den Markt und verkauft sie mir, das gibt ein schönes Geld!«
Immer wieder handelte es sich um Geld. Das schien hier die Hauptlosung zu sein.
»Darf ich dir denn nicht ein paar Sträußchen ins Zimmer stellen?« fragte Frieda.
»Nein!« war die kurze Antwort.
Frieda ging in die Küche und führte ihren Auftrag aus. Gerne hätte sie sich auch ein Sträußchen in die Kammer gestellt, aber nun wagte sie es natürlich nicht. Wenn die Tante keine wollte, konnte sie sie wohl auch entbehren.