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Am Nachmittag läutete es kurz. Er schloß grade einen Brief an Irene.
Das ist Bienle! dachte er, denn es war die Art ihres Läutens. Er hatte starkes Herzklopfen bekommen. Es pochte ganz kurz, er rief herein und stand bewegungslos in einem Winkel seines Zimmers, wie sie eintrat und dann auf der Schwelle stehn blieb. – Nun, fragte er nach einer kleinen weile, warum kommst du denn nicht ganz herein? und schritt selber auf sie zu. – Ich wollte nur sehn, ob du da bist, sagte sie, und sah zum Fenster. – Dann gab sie ihm die Hand, sah wieder zum Fenster, und darauf mit einem verirrten Lächeln auf sein Gesicht. – Was ist denn? Was hast du denn? Du bist ja so zerstreut? – Sie schüttelte den Kopf. – Doch, Bienle; du kommst mir vor, als ob du mir irgend etwas verheimlichtest! Ist etwas geschehn? – Sie schüttelte abermals den Kopf und dachte: Ich schäm' mich halt. – Dann sei doch so wie sonst! Du hast mir ja nicht einmal einen Kuß gegeben! Sie wurde ein wenig rot, dann hielt sie ihm die Lippen entgegen. Enzio schloß die Augen und dachte: warum können Irene und Bienle nicht eine einzige sein!
Jetzt mußt du mir von dir erzählen, wie es dir die ganze Zeit gegangen ist, sagte er nach einer Pause; – komm, setz dich mit mir ins Sofa.
Sie setzte sich neben ihn. Es fiel ihm ein, daß er gewohnt war, den Arm um sie zu legen, daß sie dies auch jetzt erwarte, und nach einem leichten Schwanken tat er es.
Erzähl du lieber, von deiner Krankheit! – Ach, das ist eine lange Geschichte, und entsetzlich. Das will ich dir lieber nicht erzählen. – Weshalb denn nicht? Ich habe mich so sehr gebangt! – Nein, ich mag nicht. – Sie sah still vor sich hin. – Oder ja, wenn du es durchaus hören möchtest – – und er begann zu erzählen. Irene – sagte er – – du weißt doch, wer Irene ist? Ich habe dir, glaube ich, früher von ihr erzählt. – Sie nickte eifrig, ahnungslos über die Bedeutung dieses Namens, voller Angst, daß jetzt das Schreckliche kommen würde, das ihm beinah das Leben gekostet hätte. Dann erzählte er es allmählich, mit allen Einzelheiten, sie faßte seine Hand, die Tränen liefen lautlos über ihr unbewegliches Gesicht.
Er entwarf ein Bild von Irene, als sei sie ein so heldenhaftes Mädchen, wie man es fast gar nicht glauben könne: Du bist auch sehr mutig, Bienle, aber so mutig wie sie bist du doch nicht! Ich sage dir: was die alles schon getan hat! Wärst du wohl auch soweit aufs dünne Eis gelaufen? – Sie schüttelte den Kopf: Ich hätte schon viel zu viel Angst gehabt, du könntest einbrechen. – was willst du damit sagen? – Sie wollte gar nichts damit sagen, sie sprach nur aus, was sie dachte, ohne dabei heimlich irgendeinen Vergleich mit Irene zu machen. Aus Enzios Erzählungen hatte sie sogar eine Sympathie für dieses Mädchen, nur weil sie seine Jugendfreundin war.
Er hörte aber jetzt gar nicht mehr auf, von ihr zu reden, und das Bienle wurde immer stiller. Von seinem Unfall sprach er längst nicht mehr, er entwarf ein glühendes Bild von ihr. – Du sagst ja nichts mehr, Bienle, langweilt dich das, was ich dir erzähle? – Sie sagte nein, er sprach weiter, und schließlich wußte sie alles, was auch später noch geschehen war, obgleich er nicht den Willen gehabt hatte, soviel auszusprechen. Aber irgend etwas trieb ihn vorwärts.
Wollen wir nicht ein wenig spazieren gehn? fragte sie endlich, – es ist hier so drückend warm und ich bin heut noch viel zu wenig an die Luft gekommen. Enzio war sofort bereit. Seine Stimmung war leichter geworden; daß er dies alles dem Bienle sagte, erschien ihm notwendig, jetzt, wo die Hauptsache ausgesprochen war. Spielend – so glaubte er – hatte er ihr alles beigebracht, was dabei seine Absicht war, wußte er nicht. Er hatte nur das unbestimmte Gefühl, als sei die Zukunft jetzt nicht mehr so verbaut wie früher, als würde sich alles nun von selbst gestalten, ohne daß eine Änderung des früheren eintrat.
Draußen auf der Straße redete er weiter von Irene. Dann sprach er plötzlich von Pimpernell: Die wird wahrscheinlich herkommen! Ich mag sie nicht, aber sie ist ein ganz nettes Mädchen, man muß immerzu über sie lachen, und du wirst sie auch sehr komisch finden. Sie ist ziemlich hübsch, aber weißt du, wie sie aussieht? So: Er zog die Nase hoch und machte ein besonderes Gesicht. Bienle lachte, und alles, was sie langsam zu bedrücken begonnen, erhielt für einen Augenblick eine Erleichterung, in der unschuldigen Freude mitlachen zu dürfen über dies Mädchen, das ihrem Glück nicht gefährlich war. – Erzähl noch mehr von ihr! bat sie instinktiv, und Enzio sprach von ihrer Begegnung in Irenes Zimmer: Du hättest sehen sollen, was sie für eine Verbeugung in die Luft machte, um Irene recht zu kränken, aber der ist das egal! Damit war er wieder bei ihr angelangt, und jetzt zeigte er dem Bienle auch das Täschchen, das sie ihm in den Koffer hatte legen lassen. – wo gehn wir hier denn? fragte er aufblickend – hier sind wir doch noch nie gewesen.
Sie waren in einer halbbebauten Straße der Vorstadt. Drüben stand ein Haus, ganz für sich allein, die glatten, rohen Backstein-Seitenwände zeigten, daß es auf Nachbarn berechnet war, die noch nicht existierten: Rechts davon lag grauer Himmel, links grauer Himmel, in dem Milchgeschäft des Parterres war eine Glasscheibe zerbrochen und mit Lumpen verstopft, die obern Geschosse waren alle kahl, nur auf einem Fensterbrett des ersten Stockes stand draußen in der Kälte ein erfrorener Blumenstock.
Wir können auch rechts herumgehn, dann kommen wir bald aufs freie Feld! sagte Bienle. Sie wandten sich einer Nebenstraße zu, die eigentlich keine war. Auf der einen Seite standen Baracken, auf der andern war das freie Land; darauf lagen Überreste von Stiefeln, Stücke von rostigem Blech, Kochtöpfe ohne Boden. Trostlos war dem Bienle dieser ganze Spaziergang. Immer dachte sie: weshalb ist er nur zurückgekommen! Ganz still lief ihr zuweilen eine Träne aus dem Auge, die sie heimlich fortwischte.
Nun erzähl mir auch von dir! sagte Enzio, ich spreche ja immer ganz alleine. Sie bemühte sich, in ihrer Erinnerung Dinge zu finden, die ihn interessieren würden, er warf auch mehrmals ein paar Bemerkungen ein, aber sie fühlte bald, wie sein Geist abirrte. Schließlich verstummten sie beide, blieben stehn und sahn ohne Gedanken einem struppigen Hunde zu, der dort auf dem Felde herumschlich, bald hier, bald da, und selbst nicht zu wissen schien, was er wollte.
Laß uns umdrehn, ich möchte gern nach Hause, sagte Bienle.
Er wollte fragen, weshalb sie schon nach Hause wolle, aber er fühlte selbst den Grund. Sie wandten sich zurück, und nun waren beide schweigsam.
Wie sehr hatte sie sich auf seine Rückkehr gefreut! Alle Tage hatte sie gezählt, für jeden einen Bleistiftstrich gemacht, als sie erfuhr, in einer Woche sei er wieder da, und mit festlich-wachsender Freude diese Striche immer weniger werden sehn, da sie jeden Tag den letztvergangnen durchkreuzte. Und wie fieberhaft hatte sie für ihn gearbeitet, daß er alles schön und gemütlich fände zu Hause. Davon hatte er kaum ein Wort gesagt. Ob er es gar nicht bemerkt hatte? war nun alles zwischen ihnen aus?
Er konnte dieses dumpfe Schweigen endlich nicht mehr ertragen.
Bienle! sagte er, sei doch nicht so sonderbar, was hast du eigentlich?
Sie versuchte zu lächeln, ihre kindlichen Brauen hoben sich leise, als dächte sie über einen Rätselvers nach, den er ausgesprochen, dann sah sie wieder grade aus, ohne zu antworten. Sie kämpfte mit sich selbst. Aber was sollte sie ihm sagen,?
– Was hast du eigentlich? fragte er abermals, sicherer gemacht, in einem ungeduldigeren Ton. Und das, was sie hätte sagen können, brachte sie nun erst recht nicht über ihre Lippen.
Sie schritten eine Zeitlang wieder schweigend nebeneinander her. – Ich werde fabelhaft arbeiten, von nun an! sagte er nach einer Pause von neuem, ich bin sehr zurückgekommen in der letzten Zeit. – Sie antwortete nicht. – Das heißt nicht, fuhr er fort, daß wir uns weniger sehn werden – oder vielmehr doch – – oder nein – – das hat ja damit nichts zu tun, nur grade jetzt, grade diese Tage – – ach, Bienle, du weißt nicht, in was für einer Verfassung ich bin! – Doch, sagte sie leise. – Verstehst du das wirklich? fragte er lebhaft, sogleich mit wärmerem Gefühl, weißt du, jede Stimmung muß man ausklingen lassen, und du mußt doch verstehn, daß meine Gedanken noch wo anders sind! Bedenk, daß ich erst einen einzigen Tag von zu Hause fort bin. Ganz genau so ist es mir gegangen, als ich heimfuhr und dich verlassen hatte. Da war ich krank vor Sehnsucht nach dir und wollte keinen andern Menschen sehn. Siehst du, ähnlich geht es mir jetzt auch, nur natürlich ist alles nicht so schlimm und wird schneller vorübergehn. Aber das mußt du doch selbst sagen: Wenn ich jetzt ganz rasch das alles vergessen würde, was ich zuletzt erlebt habe, dann müßte ich ein gefühlloser, undankbarer Mensch sein! – Bienle horchte auf. – Nimm an, du selbst wärest Irene gewesen, dann wärest du doch gewiß sehr traurig, wenn ich um eines andern Mädchens willen dich gleich wieder vergessen hätte. – Bienle sah aufmerksam ins Leere. Ihrer rechtlichen Seele machten diese letzten Worte Eindruck. – Sie muß ein sehr liebes Mädchen sein! sagte sie. – Das ist sie auch! rief Enzio freudig, Gott sei Dank, daß du das aussprichst. Ich hatte schon gedacht, du wärest eifersüchtig! Dazu, Bienle, ist absolut kein Anlaß. Ich habe sie sehr gern, natürlich, und wenn ich dich nicht hätte, noch viel lieber. Aber du stehst mir am allernächsten, das weißt du doch, wie? – Sie antwortete nicht. – Weißt du das nicht? – Sie schwieg noch immer und sah grade aus. – Bienle! – Er blieb stehn. – Bienle, sieh mich einmal an! Ich habe dich gefragt: Weißt du das nicht? Glaubst du das nicht? – Sie zuckte ein klein wenig mit den Schultern. – Sieh mich doch an! – Sie tat es, und vor ihrem blauen graden Blick kehrte er nun den seinigen ab.
Auf einmal erschien er sich abscheulich und hartherzig. Er fühlte im Untergrund seiner Seele, daß alles, was er gesagt hatte, doch nur nutzlose Quälerei war, nur eine Art Durchringen zu dem alten Zustand zurück, daß er nicht anders konnte, als ganz zu ihr zurückfinden, und daß es besser war, diesen Schritt scheinbar leichter zu tun, ohne die Zwischenstufen, die für sie beide grausam waren und die frühere Unbefangenheit nur hinauszögerten. Er legte seinen Arm um sie, aber sie fühlte, daß es nicht die alte, echte Zärtlichkeit war, und erwiderte sie nicht. Wann kommst du zu mir? fragte er, unter ihrem Hause. – Sie zuckte die Achseln: Ich weiß nicht. – Sein Herz krampfte sich zusammen: Dies Ganze ist ja gräßlich! stieß er hervor; es ist, als wenn irgend etwas Entsetzliches zwischen uns getreten wäre! Du bist ganz anders, als du früher warst! – Du doch auch. – Ich? Nein! Es ist mir schrecklich, daß ich vorhin so dummes Zeug geredet habe. Ich war wie besessen; das ist aber schon vorbei; ich mußte alles nur loswerden, und das ist nun geschehn. Wann kommst du? Morgen? – Morgen kann ich nicht. – Übermorgen? – Sie antwortete nicht. – Also ich erwarte dich ganz bestimmt übermorgen! – Leb wohl, ich muß jetzt hinauf. – Mußt du wirklich schon hinauf? Was mußt du denn? – Ich muß für den Abend kochen. – Backst du wieder einen Pflaumenkuchen? mit einem Ei darin? so fragte er, und suchte seinen Worten einen leichten, fröhlichen Ton zu geben, der eine scherzhafte Anspielung an frühere Erlebnisse enthalten sollte, so, als wenn diese Zeit nun wieder da sei. Sie sah ihn mit einem ganz flüchtigen Lächeln an, das ihm ans Herz ging. Dann sagte sie ihm Adieu. Er sah ihr nach, in seinem Innern zerrte und schmerzte es. Es wird alles wieder so wie es war! murmelte er im Fortgehn, es muß alles wieder so werden, ach Gott, was habe ich aber auch für eine furchtbare Dummheit gemacht! warum mußte ich ihr soviel erzählen! – Er malte sich aus, wie alles ganz anders hätte sein können; wenn er ihr geschrieben hätte, mit welchem Zug er ankam, dann hätte sie ihn von der Bahn abgeholt, sie wären zusammen in seine Wohnung gegangen, dort hätte sie ihn überrascht mit allen ihren kleinen, liebevollen Arbeiten, und von vornherein wäre nur Glück und Wärme zwischen ihnen gewesen.
Am festgesetzten Nachmittag saß Enzio zu Haus und ward mit jeder Viertelstunde unruhiger. Er ging im Zimmer umher, rückte alle Bilder grade, spielte zwischendurch ein paar Takte auf dem Klavier, lauschte, ob nicht die Glocke ertönen würde, bis endlich kein Zweifel mehr bestehn konnte, daß sie nicht mehr kam. Weinend warf er sich aufs Sofa. Hatten sie seine Worte so sehr im Innersten getroffen? Er überlegte, was er ihr gesagt hatte, soweit es ihm im Gedächtnis war, und jetzt kam es ihm noch viel grausamer und härter vor. Und doch war er erbittert auf sie, und in dieser Erbitterung begann er einen neuen Brief an Irene zu schreiben, in dem er ihr abermals versicherte, wie traurig er sei, daß er nun wieder fort wäre; nur daß seine Worte noch leidenschaftlicher waren als im ersten Brief. Dann aber zerriß er ihn plötzlich und rief: Ich denke ja immerzu an Bienle, wie kann ich denn da an Irene schreiben! Er warf das Papier beiseite, dann stützte er wieder die Stirn in seine Hände; schließlich spielte er mit den Veilchen, die vor ihm auf dem Tische standen. – Und noch immer habe ich ihr kein Wort gesagt über all das Liebe, was sie mir getan hat! Aber jetzt weiß ich, was ich tue: ich schreibe ihr einen Brief, Irene kriegt ja sowieso schon einen!
Für wie undankbar mußt du mich halten – so schrieb er – daß ich noch kein Wort gefunden habe, um dir zu danken für deine Liebe und das, was du in meiner Abwesenheit für mich getan hast, Bienle; aber dein Zettel mit dem Gutenachtgruß hat an meinem Herzen gelegen, in der ersten Nacht, wo ich wieder in meinem Bette schlief. – Hier hörte er für einen Moment mit Schreiben auf und dachte: ja, aber auch Irenes Zettel lag an meinem Herzen! Soll ich das nun hinzufügen? Das wäre nur wieder eine Erinnerung, eine Fortsetzung der Quälerei! Ist es unaufrichtig, wenn ich ihr das jetzt verheimliche? Aber ich muß es doch, es bleibt mir nichts andres übrig! Und an Irene habe ich doch auch kein Wort von Bienles Zettel geschrieben! aus genau demselben Grund! – Er schloß mit der leidenschaftlichen Versicherung, daß sich sein Herz ganz zu ihr zurückgefunden habe. Dann kuvertierte und adressierte er den Brief. Er suchte nach einer Marke in seiner Mappe. Wie? lag da immer noch der erste Brief an Irene? Hatte er vergessen, den abzuschicken? Sein Gefühl gab ihm ein, ihn zu verbrennen. Aber dann dachte er: ich muß ihr doch schreiben! Und was soll ich ihr sonst sagen, außer dem, was ich geschrieben habe? Spricht es nicht genau das aus, was ich empfinde? Und erwartet nicht Irene einen solchen Brief? Soll ich mich jetzt künstlich mit einem neuen quälen, wo der alte rein und selbstverständlich geschrieben ist? Jetzt würde etwas Unaufrichtiges hineinkommen, das habe ich vorhin gesehn, und wie ich diesen hier schrieb, meinte ich alles so wie es dasteht. Es ist nur ein Zufall, daß er noch nicht fort ist! Eigentlich hätte ihn längst die Post! Es ist eine vergessene Handlung, die ich jetzt nachhole!
Er trug sie beide hinab zum Kasten. Im letzten Moment überlegte er sich aber, daß es besser sei, dem Bienle den Brief persönlich zu übergeben. Es hätte am Ende doch unabsehbare Folgen haben können, wenn er in unrechte Hände geriet. So löste er sie beide, wie er sie in seiner rechten Hand getragen hatte, voneinander, um nur Irenes zu befördern. Welch sonderbarer Zufall! dachte er, als er die Adresse noch einmal besah: Habe ich des Bienles Brief nicht recht gelöscht? Und grade ihren Vornamen nicht? – Er hatte sich in Spiegelschrift auf Irenes Adresse abgedrückt, und zwar so, daß die beiden Mädchennamen aufeinanderfielen. Das erinnert mich an irgend etwas Ähnliches in der Musik ... dachte er, und auf einmal wußte er es. Es war wie der Übergang von einer Tonart in eine andere: Die Bezeichnungen ändern sich, und derselbe Ton, weiterklingend, festgehalten, erhält durch enharmonischen Wechsel eine neue, selbständige Bedeutung.
Soll ich nun noch einmal hinaufgehn und den Brief umkuvertieren? Dann würde ich ihn wahrscheinlich noch einmal lesen und womöglich nicht abschicken.
Des Abends spät pfiff er bei Bienle. Ihr Zimmer war dunkel. Aber fast als wenn sie hinter dem Fenster gestanden und auf Enzio gewartet hätte, öffnete es sich und sie sah herab, im Nachtkleid, wie es schien. Er hielt die Hand mit seinem Briefe hoch.
Nun muß sie sich erst anziehn! dachte er in Mitleid. Oder würde sie etwa überhaupt nicht mehr herabkommen?
Sie war früher da, als er dachte, in einem langen dunklen Mantel, der ihr fast bis auf die Füße ging. Du hast einen Brief für mich? fragte sie. – Ja! Ich habe dir einen Brief geschrieben. Ich wollte ihn erst in den Postkasten werfen, dann dachte ich, es sei sicherer, ihn dir selber in die Hand zu geben, denn er ist zu wichtig, als daß ihn andre lesen dürften. – Gib, sagte sie mit tonloser Stimme. – Was hast du denn? – Seine Gedanken waren weit entfernt von dem, was sie dachte. – Mich friert nur, ich war schon längst im Bett. – Hast du kein Kleid unter dem Mantel an? – Nein, nur mein Nachtgewand. – Sie nahm den Brief und sagte: Leb wohl – – so furchtbar traurig, daß er dieses doch nicht begriff. Er wollte ihr noch etwas sagen, aber sie war schon von ihm fortgegangen und wandte sich langsam in den Hof zurück. Er sah, wie ihr heller Arm sich aus dem Mantel löste und über ihr Gesicht zu streichen schien.
Sie dachte nicht anders, als in diesem Brief stünde ein letztes Lebewohl, als habe Enzio sich plötzlich entschlossen, alle Beziehungen mit ihr abzubrechen, was hätte er ihr auch sonst schreiben können? Und diese späte Abendstunde! Sie hatte schon im Schlaf gelegen, in ihren Traum hinein war sein Pfiff an ihr Ohr gedrungen; im selben Moment war sie wach, mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett gesprungen und ans Fenster geeilt.
Wie sie jetzt wieder oben war, in ihrem kleinen Stübchen, legte sie den Brief vor sich hin, und hatte nicht den Mut, ihn zu öffnen. Und in ihrem einfachen Sinn dachte sie: Er hat sich nicht einmal Mühe gegeben, ihn ordentlich zu löschen!
Schon lange hatte sie sich heimliche Vorwürfe gemacht, daß sie schlecht gehandelt habe gegen Enzio. Es fiel ihr ein, daß sie sich doch früher so fest vorgenommen hatte, alles, was die Zukunft bringen würde, zu ertragen. Sie selber hatte ihm gesagt, es sei ausgeschlossen, daß sie sich jemals heirateten; sie wußte, was die Zukunft bringen würde, und jetzt, wo es noch gar nicht so weit war, wo nur aus der Ferne eine leise Andeutung herüberklang, hatte sie sich bereits schwach und häßlich gezeigt. Aber war denn das so schlimm gewesen, daß Enzio hierauf seine Freundschaft mit ihr abbrechen mußte? War er noch böser, deshalb, weil sie heut nachmittag nicht zu ihm kam? Wahrscheinlich hatte er geglaubt, sie selber wolle nichts mehr von ihm wissen. – So war es wirklich. Enzio wußte nicht, daß es sein eigenes Wesen war, das sie wie in einem Winkel hielt, genau wie am ersten Nachmittag, als sie auf seiner Schwelle stehen blieb.
Jetzt öffnete sie den Brief endlich beim Schein ihrer kleinen Kerze, und konnte zunächst kaum fassen, was sie da las. Sie fühlte sich glücklich und erlöst – – und doch war alles Erlebte und alles Eingebildete noch so stark in ihr, daß sie in ihrem innersten Herzen nicht so froh war, wie sie zu sein glaubte. Es war einmal etwas zwischen ihn und sie getreten, und es schien unmöglich, dieses so schnell zu beseitigen, als wenn es nie vorhanden gewesen wäre.
Er empfand dasselbe, als sie am nächsten Nachmittage zu ihm kam. Trotz aller wiederkehrenden Herzlichkeit blieb ein Rest von Befangenheit zwischen ihnen.
Jetzt fand er auch mündlich die Worte, um ihr noch einmal zu danken für alles, was sie sich in seiner Abwesenheit für ihn ausgedacht hatte; er führte sie zu dem gestickten Deckchen, und sagte, das müsse nun sein ganzes Leben nachts neben ihm liegen. Ihren Gutenachtgruß hatte er sich über sein Bett geheftet, und den wollte er ebenfalls stets neben sich behalten; niemand sollte je erfahren, von wem er stamme. Er schwieg etwas befangen, als sie bei diesem Wort »niemand« mit einem langsamen Seitenblick bis zu seinem Kinn hinaufsah. Und dann die Veilchen! sagte er, sie sind inzwischen halb verwelkt, aber ich habe die schönsten herausgesucht und in ein Glas für sich gestellt! Jetzt ist alles so wie früher; mir ist, als wäre ich gar nicht fortgewesen!
Als sie ging, schwebte ihm eine Frage auf der Lippe. Aber er scheute sich, sie zu tun. Auch die nächsten Male sprach er sie nicht aus, bis sie sich, wenn sie einander Lebewohl sagten, an den Händen hielten und sich in die Augen sahn. In beider Augen stand die Frage, schüchtern und sich sammelnd in dem Blick des andern. Dann war auch die letzte Spur ihrer Entfremdung hinweggetilgt, und sie glaubten sich nie so lieb gehabt zu haben. Enzio überschüttete sie mit Zärtlichkeiten, die er so lange nicht mehr gekannt hatte, und sie selber hielt ihn so fest an sich, als wolle sie ihn nie mehr lassen. Und zum allererstenmal stieg ein Gedanke in ihr auf, der ihr eine süße Ruhe brachte. Das Leben war dunkel und lag als Frage vor ihr, aber in diesem Gedanken war ein Hall, eine Beglückung über alle Trennung hinaus. Und wenn sie einmal fühlte, daß ihre Wege wirklich auseinandergingen, dann war der Zeitpunkt da.
Von diesem Tage an war sie von einer heitern, ausgeglichenen Ruhe; sie schien reifer, sanfter geworden, ohne von ihrer Kindlichkeit verloren zu haben. Enzio bemerkte dies, ohne zu ahnen, welche Gedankengänge von Glück und Verzicht zugleich sie dahin brachten.
Irene antwortete ihm bald auf seinen Brief. Sie schrieb anders als früher: Sie habe Sehnsucht nach ihm, die ersten Tage habe sie immer gemeint, er könne nicht abgereist sein, bis sein Brief gekommen wäre, der ihr dann wieder so geklungen hätte, als sei er noch da.
Alles, was sich langsam in ihm zu setzen begonnen, ward wieder aufgerührt, wie soll nur die Zukunft werden! dachte er immer und immer wieder; gegen eine von beiden muß ich doch unaufrichtig werden! Oder ist es möglich, daß man zwei Mädchen auf einmal liebt? Warum sollte es nicht möglich sein? Ich fühle an mir selbst, daß es so ist. Aber einmal muß doch die Entscheidung kommen! Oder liebe ich Irene bereits schon nicht mehr so sehr? Diese Frage bedrängte ihn oft. Er fühlte sich, dann tief melancholisch, aber schließlich dachte er: Was hilft es, über Dinge nachzugrübeln, wo jedes Grübeln unnütz ist!