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Manchem wurde es leicht, Gott warf ihm die Musik in den Schoß. Mozart, Schubert! Die wußten gar nicht, was es heißt, ein Kunstwerk mit Schmerzen gebären! Ja, ja, auch er hatte Schmerzen, Wehen durchzumachen, schlimmer wahrscheinlich noch als seine Frau am heutigen Tage! Viel schlimmer sogar! Ihm ging es wie Beethoven, der so unendlich schwer geschaffen hatte und der doch der Größte war. In der Art des Schaffens hatte er Ähnlichkeit mit Beethoven, wenn er auch wußte, daß er mit ihm verglichen nur ein Zwerg war.

Er stand im Dunkel auf, tastete nach dem Weine und trank im Stehen ein Glas nach dem andern, bis die Flasche leer war.

Und mein Thema? dachte er, soll ich nun mein Thema fallen lassen, weil ein anderer vor mir ein ähnliches erfunden hat? Weil die Musiker sagen können: Das hat er gestohlen? Nun grade, nun erst recht nicht! Ich will schon zeigen, was ein selbständiger Kopf aus einem selbständigen Einfall machen kann, der nur mit einem andern auf gleichem Boden gewachsen ist!

Er drehte wieder an dem Lichtknopf, daß das Zimmer von neuem hell ward, und ging auf seine Partitur zu:

Mag sie doch schlecht sein! Ich mache eben Besseres!

Sein Blick, noch halb verachtend, ging schon wieder in Aufmerksamkeit über: was er da grade ansah, war nicht so schlecht, nicht ganz in Grund und Boden zu verdammen! Gute Ansätze waren überall vorhanden, aber jetzt wollte er einmal das Ganze einer wirklichen, erbarmungslosen Kritik unterziehen.

Er begann die ersten, vollen, einleitenden Akkorde anzuschlagen. – Nicht übel! Dies Schwanken zwischen zwei nicht verwandten Tonarten war geistreich, originell! Aber in reinen, leisen Posaunen instrumentiert, würde es noch besser wirken, viel eindringlicher. Er spielte weiter, und mehr und mehr vergaß er, daß er kritisieren wollte.

Wie falsch und übertrieben war doch sein gänzlich vernichtendes Urteil gewesen! Er begann sich an seinen eignen Tönen zu berauschen. Da gab es Stellen, allerdings, die blieben dürr und unsympathisch, aber wenn ihm nichts Besseres einfiel, so hoben sie um so mehr das Folgende. Unwillkürlich griff er einzelne Stimmen in Oktaven, brach er feste Akkordganze in brandende Harfenarpeggien, hörte er Trompeten anstatt der vorgeschriebenen Hörner; allmählich ging sein Spiel über in eine freie Phantasie. Und nun kam ein ungezügeltes, uferloses Schwelgen in rauschend süßen Kadenzen, bis die Musik schließlich übergehen zu wollen schien in eine vorläufig noch fragwürdige Attacke. Immer wieder ertönten pathetisch aufsteigende, vorbereitende Passagen, in immer dringlicherer Stärke, da er gar nicht wußte, wie es weitergehen sollte – und plötzlich schwieg das Klavier, wie verdutzt; die letzten Töne verklangen unter seinen ratlosen Händen. Dann war Totenstille um ihn her.

Halb beschämt starrte er auf die Tasten, und dann in die Dunkelheit der Zimmerwinkel. Ihm war, als müsse dort jemand sitzen, der ihn ansah mit steinernem Gesicht. Er lauschte.

Auf einmal drehte er sich auf seinem Stuhl zurück und blickte nach der Tür. Es klopfte ziemlich stark, dann öffnete sie sich und eine Frau im Pflegerinnenkostüm stand auf der Schwelle: Herr Kapellmeister, sagte sie, ich möchte doch aus Rücksicht auf Ihre Frau Gemahlin bitten, daß Sie etwas leiser spielen! Wir hören es durch alle Türen!

Der Kapellmeister erhob sich, und wie er jetzt aufrecht im Zimmer stand, fühlte er einen leichten Schwindel. Mit einem vollen, halb sanften, halb, leeren Blick aus seinen feuchten, blauen Augen sagte er: Sie haben recht, liebe Frau! Diese Musik klang mir selbst abscheulich in den Ohren, und da sie uns allen nur zum Kummer dient, so ist es wohl das beste, sie verschwindet ganz und gar. Damit ergriff er das Heft und riß es durch. Aber mittendrin durchfuhr ihn der Gedanke: was mache ich denn da? Halb war es doch Phantasie, vorhin! – Die Pflegerin sagte jetzt, seine Frau wünsche ihn zu sehen. – Ach so, ganz recht! nickte er und folgte ihr sofort. Er fühlte die Wirkung des Weines in sich und wußte gleichzeitig, daß er niemand etwas davon merken lassen dürfe, daß jetzt alles darauf ankomme, fest und sicher zu erscheinen. Geben Sie mir das Licht! sagte er, ich will Ihnen leuchten, ich kenne meine Räume besser als Sie! Und er schritt voraus, ohne irgendwo anzustoßen, sein Gang war sicherer, elastischer als sonst. Halt! sagte sie endlich, wo wollen Sie denn hin? Hier ist doch die Tür! – Der Kapellmeister stand einen Augenblick wie im Nachsinnen, dann legte er seine Hand auf die der Frau, welche bereits die Türklinke leise gefaßt hielt, und sah ihr eine Zeitlang in die Augen. Dann sprach er: Sagen Sie mir eines, liebe Frau: Kann man auch das Kind schon ansehn? – Sie nickte beruhigend. – Nein, so meine ich es nicht, wie Sie zu glauben scheinen! Ich möchte fragen: Ist der Anblick nicht gar zu erschreckend? Sie müssen bedenken: Ich bin darauf gefaßt, ein junges Menschenkind zu sehen, das sein Leben mir verdankt, und in dem ich schon Ähnlichkeiten mit mir selbst zu finden hoffe! Wenn ich statt dessen so ein kleines Äffchen sähe, das gar nicht wie ein Mensch aussieht, wissen Sie: haarig und wie aus Pergament, oder violett und aufgedunsen – – es gibt solche Fälle, nicht nur im Tierreich – – mir kommt da eine Erinnerung aus meiner Kinderzeit, aus dem zoologischen Garten. Stellen Sie sich vor: Ich gehe da ganz harmlos, setze nur immer Schritt vor Schritt, so wie man eben als Junge tut, wenn man die netten, possierlichen Tierchen sehen will, nicht wahr – –

Die Frau, unterbrach ihn etwas ungeduldig und flüsterte noch schnell: Treten Sie leise ein und seien Sie ganz behutsam!

Da war er auch schon drinnen. Ich sehe nichts! murmelte er beunruhigt. Dann aber unterschied er sogleich die Gestalt seiner Frau, und er ließ sich sanft und vorsichtig auf dem Bettrand nieder, Caecilie! sagte er leise und blickte ihr mit stummer und eindringlicher Zärtlichkeit in die Augen. Sie lächelte ganz schwach und bewegte ein wenig ihren rechten Arm. Er nahm und streichelte ihn leise, diesen Arm, der so schlank und fest, so voll und gedrungen war in seiner Form, viel männlicher als sein eigner, über den sie früher manchmal so gelacht hatte, wie war sie jetzt verändert! War das dieselbe zierliche Caecilie, die sonst so herzlich, so kurz und klingend lachen konnte? Die noch gestern früh, als er ihr dringend riet, sich niederzulegen, ihm sorglos antwortete: Mein Kind, ich glaube, du bist verrückt? – Die Wärterin machte ihm ein Zeichen. Er erhob sich leise von seinem Platz, trat zu dem kleinen Wagen und sie schlug die Vorhänge zurück, lüftete das Deckbett, so daß er auch den umwundenen kleinen Leib und jetzt auch die nackten, zarten Füße zu sehen bekam. Da versank er in innige Bewunderung, faltete die Hände und sah das Kindchen an, als wäre es der Heiland. So stand er minutenlang, und als ihn die Wärterin endlich bedeutete, er möchte nun hinausgehn, nickte er ihr langsam, mit inbrünstigem Blicke zu, als höre er in ihren Worten etwas ganz, ganz anderes. Und wie sie ihm wieder hinausleuchten wollte, sagte er leise: lassen Sie, lassen Sie, meine liebe Frau, Sie sind sowieso schon viel zu gütig gegen mich!

Dieses Kind, o dieses Kind! murmelte er schmachtend, indem er langsam wieder zu seinem Zimmer zurückschritt – und diese sonderbare, mystische Ruhe da drinnen! Mir war, als säße ich wie in einer Gondel, die ganz von selber vorwärts ging, durch ein stilles, tiefes Gewässer! –

Wie er wieder in sein Zimmer trat, starrte er einen Moment wie geistesabwesend auf die zerrissene Partitur, die noch an derselben Stelle lag, wo er sie hingeworfen hatte. Merkwürdig! dachte er, wenn das nun ein Tier wäre, so hätte es sich wahrscheinlich in meiner Abwesenheit in irgendeinen Winkel verkrochen! wo wäre sie wohl jetzt? Er bückte sich und hob sie auf; und wie er wieder aufrecht stand, dachte er: in was für einer sonderbaren Stimmung bin ich denn? Macht das der Wein, oder liegt es an allem zusammen? – Er öffnete ein Fenster und beugte sich eine Zeitlang in die kühle Nachtluft. Dann trat er zurück, bemerkte, daß er das Heft noch immer in der Hand hielt, und dachte: Etwas muß doch nun damit geschehn! Und dann sprach er laut: Heute, an dem Geburtstag meines Sohnes, will ich in mich gehn und den Abend mit einem Opfer beschließen. Er ging zum Ofen, öffnete die kleine Tür und hob die Hand. Aber dann zögerte er wieder, wer verbürgt mir denn, so dachte er, daß ich morgen nicht die gräulichsten Gewissensbisse empfinde, daß mir all das vernichtete Zeug nicht auf einmal viel besser erscheint, nachdem es nicht mehr da ist? Und ist es nicht von vornherein ganz unvernünftig, irgend welche Spuren unseres Ringens – mag es nun zu Gutem oder Üblem führen zu vernichten? Sind sie nicht unter allen Umständen wenigstens Dokumente unseres Strebens? Mir fällt ein Ausweg ein: Dies Werk soll leben und doch tot sein! – Er schritt zum Schreibtisch, wickelte um die Papiere sorgsam einen Umschlag, versiegelte ihn und schrieb darauf: Nach meinem Tode uneröffnet zu verbrennen.

Dann ging er zu Bett, und sein letzter Gedanke war: wenn ich mein Leben noch einmal beginnen könnte, so wie dieses Kind jetzt, aber mit der Erinnerung an mein eigenes, – würde ich wohl später noch einmal denselben Beruf erwählen? – Undeutliche Orchestermusik klang in ihm, zwischen Traum und Wachen, von unerhörter Schönheit, wie es seinem schon umnebelten Sinne schien, und dann schlief er ein.


Wochen vergingen, und eines Tages kam Caecilie in ihre gewohnte Häuslichkeit zurück. Als der Kapellmeister grade am Flügel arbeitete, legte sich von hinten etwas Festes, warmes um seine Augen, und eine warme, weiche Wange an die seine. Er bog sich leise zurück. Nun, sagte er mit träumerischer, sanfter Stimme, haben wir dich wieder bei uns? Ich hab dich lang genug entbehren müssen! Sie antwortete nicht; in ihrem Gesicht, das er nicht sehen konnte, stand noch das erste glückliche Lächeln, ein Lächeln, das wartete, und in das allmählich der Keim einer Enttäuschung trat. Endlich sagte sie: Ja, willst du dich wirklich nicht erheben?! – Aber Kind, antwortete er, stehn wir so mit einander, daß ich vor dir wie vor einem Gaste aufstehn muß? Was machst du denn für ein Gesicht, Caecilie? – Sie sagte gar nichts. – Caecilie, ich bitte dich: Mach nicht so ein Gesicht! Du hast keine Ahnung, wie du dann aussiehst! Du siehst aus, als hätte ich eine Todsünde begangen! – Sie versuchte zu lächeln; er sah auf ihren geschlossenen, festen Mund, küßte ihn und murmelte: Ich bin ein schlechter Mensch, Caecilie, aber ich bitte dich, bedenk doch: Grade als du hereintratst, hinter mich, war ich mitten in der Arbeit! Und noch jetzt, wo ich mit dir rede, klingt es halb unbewußt in mir weiter, dagegen kann ich nichts machen! Weshalb hast du einen Musiker geheiratet, die sind eben anders als andre Menschen. Sei mir nicht böse und glaube mir: Ich habe dich so lieb wie immer, ja noch viel lieber! – Sie sah ihm mit einem Blicke in die Augen, in dem so viel Verschiedenes lag, daß er nicht alles davon in sich aufnahm: Hingebende Liebe, Forderung von Liebe, Glaube an seine Künstlerschaft, ein kleiner Selbstvorwurf wegen ihrer egoistischen Gekränktheit, und zugleich doch wieder ein Wille, nichts von sich aufzugeben, unter allen Umständen fest zu verharren wie sie war. – Wie siehst du denn aus? fragte er, weshalb hast du denn grade heute dies wundervolle Kleid angezogen? – Weil ich zum ersten Male wieder vorn in meinen schönen Räumen bin und mich selbst ein wenig bewundern möchte in den großen Spiegeln! – So sagte sie, und ihre Augen sprachen dagegen: Das alles war doch nur für dich, nachdem du mich so lange in den häßlichen und viel zu bequemen Morgentoiletten hast sehen müssen!

Nun, sagte sie, als sie sich zum Frühstück niedersetzten, und du hast mich noch immer nicht gefragt, wie ich nun unsern Sohn nennen will? – Ja? hast du dich inzwischen besonnen? – Sie errötete etwas und sah ihn mit heimlichem Glücke an: Du möchtest ja immer, sagte sie, daß er Heinrich heiße, so wie du. Aber ich will das nicht, es soll nur einen Heinrich geben. Nun ist mir ein wundervoller Ausweg eingefallen: Enzio wollen wir ihn nennen! – Enzio? wiederholte er; hm; gefällt mir eigentlich wenig. In ihre Augen trat sofort jener Ausdruck, wie ihn Kinder haben, wenn sie streiten: Unumstößlicher Glaube an das eigene Rechthaben, und Vergessen aller übrigen Beziehungen. So ein schöner Name! rief sie; ich dachte, du würdest begeistert sein über meinen Vorschlag, und statt dessen ... Aber liebes Kind – suchte er sie zu unterbrechen – ich habe doch noch gar nichts gesagt – Herrlich ist der Name! rief sie dazwischen, es gibt so eine Fülle von Namen, kein einziger paßt; du heißt Heinrich und der Name Enzio ... Aber du erlaubst doch wohl, unterbrach er sie, jetzt auch erregter, daß ich mich erst ein wenig gewöhne! Ich will dir ja durchaus nicht dreinreden in deine Pläne! – Beide schwiegen. Sie hatte sich so sehr gefreut auf ihre Überraschung, und nun verdarb er ihr die ganze Freude. – Endlich sah sie ihn wieder an, mit einem warmen Blick. sei mir nicht böse, sagte sie und streckte ihm die Hand hin über den Tisch. Und, um diese kleine Gewitterwolke ganz zu verscheuchen, fügte sie hinzu: Heut wollen wir zum erstenmal zu dritt sein! Ich gehe und hole unsern kleinen Sohn.

Merkwürdig, dachte er, wie er allein zurückblieb, wie grundlos gereizt sie manchmal ist. Ich glaubte, das wäre ganz vorbei. – Diese sonderbare Seite, scheinbar grundlos verletzt zu sein, gehörte einmal zu ihr und war unzertrennbar von ihrem Verhältnis zu ihm. Und er wußte auch, wo die Wurzel hiervon lag: In ihrer ganz instinktiven Auffassung von der Ehe, oder vielmehr ihrer Ehe: Eines sollte in dem andern aufgehn, eines genau die Wünsche des andern haben. Es fiel ihm, wie er so nachsann, ein kleines Erlebnis vergangener Jahre ein: Da war sie eines Tages, als er nach Haus kam, abgereist, und ein kleiner Zettel, den sie zurückgelassen, sagte ihm, sie sei ins benachbarte Gebirg gefahren, für drei Tage, um einmal ganz still für sich zu sein. Von blinder Eifersucht geplagt, reiste er ihr nach und fand sie, ganz allein, im Walde, in einem dicken, mehrbändigen Buche lesend. Ein Roman war es, in dessen Haupthelden sie sich beinah verliebt hatte. Es knüpften sich an dies Erlebnis endlose Gespräche über Ehe, die nie zu einem Ziele führten; und aus allem fühlte er heraus, daß sie von ihrem Zusammenleben enttäuscht war, und daß es nach ihrer Meinung nur in seiner Hand lag, das frühere Glück, so wie es gewesen war, wieder herzustellen. Sie liebte keinen andern, sie liebte ausschließlich ihn, das wußte und fühlte er, und es gab ihm die Beruhigung, daß er um ihre Treue nicht zu bangen habe. Dann kam die Zeit, wo sie ihr Kind erwartete, und wo sie still und ausgeglichen war und in seiner Liebe keinen Mangel zu empfinden schien. – Und jetzt – sollte jene frühere Zeit etwa zurückkehren? Gut, dachte er, daß dieses Kind geboren ist! Es wird sie mehr ausfüllen als ihr früheres Leben, und sie wird fühlen, daß ich ein besserer Vater bin, als sie vielleicht gedacht hat.

Caecilie kehrte zurück, strahlend, das Kindchen auf dem Arm. Enzio – wie er nun wirklich genannt wurde, hatte sich in diesen Wochen zusehends entwickelt und an Form gewonnen. Seine Augen blickten groß auf dem Tisch umher und seine kleine Hand streckte sich nach einem Glas mit Wein aus.

Du goldenes, du entzückendes Kind! sagte der Kapellmeister mit sentimentaler Stimme: Nächste Woche werden wir dich taufen, und du wirst einen schönen südländischen Namen bekommen. Man wird dich mit Wasser taufen, ich aber taufe dich mit einem Weine aus dem Lande der Musik und Liebe!

Mit diesen Worten tauchte er die Spitze seines Fingers in das Glas und ließ den Tropfen, der sich an sie heftete, auf die Stirn des Kindes fallen, worauf er es wieder schmachtend ansah.



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