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Enzio sah sehr gerne Bilderbücher an; die traurigen Bilder liebte er mehr als die lustigen, aber eins gab es, das liebte er über alles: Es stellte das magisch erleuchtete Innere einer Höhle dar, aus deren bodenlosem Grunde weibliche Schemengestalten emporstiegen und einem Jägersmanne winkten, der in diese Höhle eingedrungen war. Er machte eine Gebärde der Abwehr und des Entsetzens. Und diese Mädchen waren doch alle so wunderschön! Das mittlere, die Königin unter ihnen, trug ein Diadem aus blitzendem Kristall im Haar, und diese liebte er am meisten. Es schien, als ob sie ihn selber ansehe, ihm selber winke, und oft beugte er sich nieder, um ihr Gesicht zu küssen. Das ward von diesen Küssen im Lauf der Zeit entstellt und schmutzig. Hierüber war er traurig, liebte sie nun aber nicht mehr so und sah nachdenkend auf all die andern, um herauszufinden, welche nun die Schönste sei.

Auf das Engste verbunden lebte er mit seiner Mutter. Caecilie fand und nährte das in ihm, was sie in ihrem Manne vermißte. Enzio hatte von früher Kindheit an einen instinktiven Blick für ihre Mienen, er wußte wahre Heiterkeit von erkünstelter oder beherrschter wohl zu unterscheiden, und es konnte vorkommen, daß er bei Tische sagte: Papa, wenn du so mit dem Messer und dem Teller klapperst, so tust du Mama weh! so daß der Kapellmeister erstaunt vom Essen aufsah und fragte: Fühlst du dich nicht wohl, Caecilie? Dann lächelte sie und sagte: doch, ganz wohl, aber sie reichte Enzio die Hand dabei. Caecilie merkte zuweilen, daß sie neben ihrem Sohne auch sich selbst ein wenig miterzog. Sie ließ ihre Sachen nicht mehr so unbekümmert herumliegen, wie sie es früher gewohnt war, riß in seiner Gegenwart niemals Kartons auseinander, wenn sie sich nicht gleich öffnen wollten, und gewöhnte sich selbst an eine größere Pünktlichkeit in allen Dingen, die das häusliche Leben betrafen. Doch war ihre Natur zu stark, als daß sie nicht gelegentlich glatt all diese Regeln durchbrochen hätte. Wenn ihr eine hübsche Jacke, die sie für ihn arbeitete, schließlich im Schnitt doch nicht gefiel, riß sie den Stoff mit plötzlichem Entschluß mitten durch, warf ihn in die Ecke und meinte: besser ein für allemal kaputt, als immer diesen dummen Anblick an dir haben, nur weil das Ding einmal gemacht ist.

Es ist doch nun ganz egal, sagte der Kapellmeister, ob der Junge eine Jacke trägt, die tadellos im Schnitt ist oder ob sie etwas weniger gut sitzt. Mir selber zum Beispiel wäre es vollkommen gleichgültig, ich sehe so etwas gar nicht. – Und doch, antwortete Caecilie, hast du vor vierzehn Tagen deinem Schneider den Abschied gegeben, weil du erfuhrst, daß der Stoff deines neuen Anzuges nicht mehr ganz modern war. – Das sagte nicht ich, rief er eifrig, das sagte unser Intendant! Der weiß so etwas stets viel besser und sicherer als ich! Da habe ich natürlich sofort meinen Schneider zur Rede gestellt! Ich werde doch nicht in Stoffen von unsern Vorvätern herumlaufen! – Ein andermal entdeckte er, daß Enzio wundervoll polierte Nägel hatte. – Wie kommst du denn dazu? – Das macht Mama mir, jeden Morgen. – Hol mir doch mal den Kasten! Enzio brachte ihn, und der Kapellmeister zog sich auf eine ganze Stunde damit zurück. Später verglich er Enzios Finger mit den seinen und fand, daß, was bei seinem Sohne natürlich und schön aussah, für seine eignen Formen wenig passend erschien. – Was soll denn das mit Enzios Fingernägeln! sprach er nörgelnd zu Caecilie; du machst den Jungen eitel! Nägelpflege! so eine Dummheit! – Eitel, antwortete sie, sind Menschen nur dann, wenn sie ihren besseren Zustand nicht als natürlich, nicht als normal empfinden. Für Enzio gehört so etwas ganz selbstverständlich zur Morgentoilette. Wenn ein Erwachsener seine Finger pflegt, warum soll man einem Kinde nicht die Finger pflegen? – Dann sag mir wenigstens: wie machst du das, daß die Ränder so glatt und rund werden? – Sie verstand ihn zunächst nicht, bis er ihr seine eigenen polierten und etwas verschnittenen Nägel vorhielt.

Solche pädagogischen Unterhaltungen, die von seiner Seite am Schluß oder auch am Anfang schon entgleisten, fanden öfter zwischen ihnen statt. Manchmal auch war es umgekehrt: daß Caecilie ihrem Manne etwas vorwarf, vor allem, daß er Enzio zu sehr verwöhne: Ich drücke viel zu oft ein Auge zu, weil ich mir sage: du siehst das Kind nur in den Erholungsstunden und sollst bloß Freude an ihm haben; all meine schönen Prinzipien schlägst du mit irgendeiner Erlaubnis, die sie durchbricht, entzwei, und wenn ich dann mit dir scheinbar derselben Meinung bin, so geschieht es, weil ich die Ansicht habe: Kinder dürfen nur einen Willen über sich empfinden. Es ist manchmal schwer für mich, denn Enzio kennt mich so genau, daß ich fürchte, er merkt zuweilen doch mein inneres Schwanken.

Was Caecilie da aussprach, entsprang ihrer Überzeugung, nur war eines dabei die stillschweigende, unausgesprochene Voraussetzung: daß die Stimme des Vaters sich nach der der Mutter zu richten habe. Und die geheime Triebfeder dieser Forderung war das Gefühl: Enzio sollte bei allem, was er genoß, die Empfindung haben, daß er es in erster Linie ihr verdanke. Sie wollte ihm die Nächste sein und bleiben. Sie hatte Angst, er könne sich vielleicht mehr seinem Vater anschließen, ganz kindlich-egoistisch, wenn er bei dem mehr Duldung seiner Schwächen, eine größere Verwöhnung spüre. Halb im Scherz sagte einmal ihr Mann zu ihr: wenn du noch ein anderes Kind hättest, außer Enzio, würdest du wohl nicht so eifersüchtig über ihm wachen! – Ich will kein anderes Kind haben außer Enzio! sagte sie mit einer Leidenschaftlichkeit, die ihn erstaunte, ohne daß er sich jedoch weiter den Kopf darüber zerbrach.

Es kam die Zeit, wo Caecilie sich entschließen mußte, Enzio in die Schule gehen zu lassen. Sie hatte länger damit gezögert als andere Mütter, da es ihr schwer ward, sich von ihm zu trennen, und doch freute sie sich nun auch auf diese Schulzeit. Für sie beide ergab sich eine neue, einigende Beschäftigung in dem Anfertigen der Schularbeiten, dem Wiederholen des Gelernten, es mußte sich für ihn eine neue Welt erschließen, die sie aus nächster Nähe mit genoß. Viel Erinnerungen an ihre eigne Kindheit gab es da, die wieder aufwachen würden, an die sie anknüpfen konnte, so daß Enzio auch ein Bild davon gewinnen würde, wie seine Mutter als Kind gewesen war.

Eines Tages ward er angemeldet für die unterste Klasse der Volksschule, und der Kapellmeister schnitt ein säuerliches Gesicht, als er es bei Tisch erfuhr. Volksschule! sagte er; ich glaubte, du würdest ihn in eine Privatschule schicken! – Sie warf ihm einen Blick zu, welcher bat zu schweigen, aber der Kapellmeister sah ihn nicht, steckte ein Praliné in den Mund und sagte kauend: wenn ich an den Tag denke, wo ich zum ersten Male in die Volksschule ging! Es stank! Ich habe gar keinen andern Ausdruck. Alle Schüler spuckten; einer immer auf den andern; und ich saß mitten drin. Der Lehrer spuckte auch; der allerdings immer nur auf den Fußboden. Es war fabelhaft. Enzio hörte erst voll Neugierde, dann mit steigendem Entsetzen zu. Den Kapellmeister belustigte dies groß auf ihn gerichtete Gesicht und spornte ihn zu immer neuen Übertreibungen. – Da will ich nicht hin! sagte Enzio und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Mama hat mir gerade das Gegenteil davon gesagt, aber wenn das so ist, – da gehe ich nicht hin. Caecilies Blicke zu ihrem Mann hin waren immer flehender geworden. Er bemerkte sie erst, nachdem er bereits geendet. – So ist es gar nicht! sagte sie, dein Vater, Enzio, ist zu einer Zeit in die Schule gegangen, wo es noch ähnlich sein mochte, aber das hat sich alles inzwischen längst geändert. Jeder muß sich tüchtig waschen, gerade so wie du, und gespuckt wird überhaupt nicht. Aber auf Enzio hatten die Beschreibungen einen viel zu starken Eindruck gemacht. Sie redete noch eine weile auf ihn ein, und als alles nichts half, wurde sie auf einmal so eifrig, als ob sie einen Erwachsenen vor sich habe, redete von hygienischen Vorschriften, Ventilationsapparaten und andern Dingen, die ihm nicht einmal dem Namen nach bekannt waren, und schließlich rief sie ihrem Manne zu: So rede du doch auch ein Wort! Du hast doch dies Ganze angerichtet! – Hättest du den Jungen nicht so verwöhnt, mit deiner »Körperpflege«, antwortete er, so würde er sich als ein rechter Junge freuen auf die Schule! Sie verschluckte ihre Antwort auf diesen unsinnigen Einwurf, wurde aber ganz blaß vor Selbstbeherrschung. Nachmittags sprach sie noch mehrere Male mit Enzio, ohne Erfolg, aber gegen Abend kam er ganz von selbst, in seinem schönsten Anzug, und erklärte, er gehe nun sehr gerne morgen in die Schule, da er heute ins Theater dürfe.

Das ist ganz gegen meinen Willen, sagte sie zu ihrem Mann, noch dazu so ein dummes Ausstattungsstück! Und wo er morgen früh frisch sein soll! – Am Abend dieses Tages dachte Enzio kaum mehr an die Schule; er dachte nur an jene schöne Tänzerin, die er gesehen, deren Rücken so seidenweich und nackt und schimmernd war, daß er zu seinem Vater sagte: ach, wenn ich sie doch nur ein einziges Mal streicheln dürfte! so daß der Kapellmeister laut lachte und diesen Wunsch seines Sohnes in seinem Beisein während der Pause mehreren Bekannten erzählte. Am nächsten Morgen wachte Enzio gleich wieder mit dem Gedanken an sie auf, und erst als er sich anzog, fiel ihm ein, daß er ja zur Schule müsse. –

Caecilie hatte etwas Angst vor seinen Eindrücken, aber es stellte sich im Lauf der Zeit heraus, daß Enzio ganz gern zur Schule ging, viel Vergnügen machten ihr seine Beschreibungen der Schüler und der Lehrer. Fast alle mochte er leiden, und die wenigen, die er nicht gerne mochte, beschrieb er so, daß doch immer wieder irgendwo ein heimliches Wohlwollen zu liegen schien.

Am Sonntag nachmittag war das Haus jetzt stets voller Jungen, die er sich einlud. Einmal seufzte er, daß ein gewisser Schüler, den er nicht mochte, ebenfalls käme. – Aber warum hast du ihn dann eingeladen? – Er mag mich so gerne!

– Das ist doch noch kein Grund! – Wenn er mich gerne mag?! fragte Enzio erstaunt. – Wie sieht er denn aus? – Häßlich. – Aber deshalb kann er doch ein sehr netter Junge sein! – Wenn er häßlich ist, dann ist er doch nicht nett! – Aber er kann doch sehr nette Eigenschaften haben. – Ja – sagte Enzio gelangweilt, ich mag aber keine Menschen, die nicht hübsch aussehn. – Jetzt, wo sie zum ersten Male darüber nachdachte, fiel es Caecilie auf, daß in der Tat alle Knaben, die er sich einlud, zum mindesten angenehme Gesichter hatten. – Wir können nicht immer nur mit schönen Menschen verkehren! Erstens gibt es gar nicht so viele– –Aber eine Masse! fiel Enzio ein, fast alle Menschen sind doch schön! –

Wie sie nun den Verkehr mit seinen Kameraden beobachtete, bemerkte sie mit Verwunderung, daß er keinen von ihnen allen bevorzugte. Manchmal schien es, als habe er eine tiefere Neigung gefaßt, aber plötzlich war sie dann vorbei, und er sagte: ich mag ihn nicht mehr, zuckte auf weitere Fragen die Achseln und machte nur ein tief unglückliches Gesicht, wenn sie sagte: du sollst dich schämen, Enzio! – um sie gleich darauf wieder süß und unbefangen anzulächeln. –

Der einzige Mensch, auf den er all seine Liebe und Zärtlichkeit ausschüttete, war, und blieb seine Mutter. Zuweilen war sie überrascht über die Art seiner Liebkosungen. Er strich ihr das Haar zurück und küßte sie langsam und innig auf die Stirne, oder wenn sie in ihrem geschmackvollen Kleide mit dem weiten Halsausschnitt am Tische saß und Briefe schrieb, kam er von hinten, und sie fühlte seine warmen, weichen Lippen voll auf ihrem Nacken ruhn, oder aber, wenn es geschehen konnte, nahm er ihren Kopf, bog ihn zu sich hinab, vergrub Nase und Mund in ihr volles Haar, atmete eine Zeitlang darin, küßte mitten hinein und sagte mit einem wohligen Seufzer: O, riechen deine Haare herrlich! Sie duften ganz anders als Papas Haare oder alle Haare in der Schule! – Oft umschlang er sie auch unversehens von hinten, daß sie fast umfiel, nachdem sie grade gesagt hatte, nun habe er sie genug geküßt und er solle jetzt an seine Arbeit gehn; und wenn sich ihre zierliche Figur dann freimachen wollte, hielt er sie fest, lachte laut über ihr Sträuben und ruhte nicht eher, als bis er seinen Willen hatte. Sie war oft halb erschöpft von diesem Ringen und dachte manchmal: Mein Gott, wie kurz liegt die Zeit zurück, wo ich ihn noch unter meinem Herzen trug, und nun ist er so groß und stark geworden, daß ich mich in ein paar Jahren im Ernstfall kaum noch gegen ihn wehren könnte! Ich mag das nicht mehr, sagte sie einmal, scheinbar ärgerlich, was zuviel ist, ist zuviel! – Da sah er sie mit sprechenden, zärtlich überlegenen Blicken an, und mit geöffneten, weichen Lippen, und antwortete: wenn ich dir alles glaube – das glaube ich dir doch nicht!

Wenn er abends zu Bette ging, erst seinem Vater, dann seiner Mutter den Gutenachtkuß gab, dann war es jedesmal, als seien sie beide andere, ja, der Kapellmeister sagte manchmal: Du dürftest deiner Mutter wohl etwas weniger flüchtig gute Nacht sagen, Enzio! Dann sah er seinen Vater erschrocken an und tat es noch einmal. – Vor dir geniert er sich, sagte Caecilie bei Gelegenheit, Enzio ist, wenn wir allein sind, ganz anders gegen mich. Sie hatte dies nicht sagen wollen, aber irgend etwas trieb sie dazu. – Du siehst ja beinah triumphierend aus? meinte er gemütlich. – Ich? wieso, denn? fragte sie erstaunt.

In der Schule war Enzio ziemlich fleißig, das Lernen machte ihm viel Freude, und er wurde stets einer der Ersten von einer Klasse in die andere versetzt. Seine Lehrer hatten ihn sämtlich gern, verwöhnten ihn, nannten ihn mit Vornamen, und er durfte sich viel mehr gegen sie erlauben als die übrigen Schüler. Er wiederum merkte, daß er sie gerne hatte, erst in dem Augenblicke, wo er sich von ihnen trennen sollte. Einmal, als ein neues Schuljahr begann, brachte er einen Blumenstrauß mit in die Klasse, um ihn einem besonders verehrten Lehrer, der in der verlassenen zurückblieb, nach der Schule zu überreichen. – Nun, was hat er gesagt zu deinem Strauß? fragte Caecilie, als er heimkam. Enzio errötete und blickte sie an wie ein Mädchen, dem ein Geständnis schwer wird: Er hat ihn gar nicht bekommen! sagte er endlich; und dann kam es heraus, daß er ihn dem neuen Lehrer schenkte, weil der ihn einmal während der Stunde so besonders angesehn und ihm dann zugenickt hatte.

Ist Papa eigentlich »berühmt«? so fragte er eines Tages. In der Schule war dies Wort in einer Lektüre vorgekommen, und der Lehrer hatte es erklärt. – Berühmt? fragte Caecilie, und unterdrückte einen leisen Seufzer. Nein, was man berühmt nennt, ist er nicht. Aber er wird vielleicht noch einmal sehr berühmt! – Warum ist er es denn noch nicht? Ist er noch nicht alt genug? – Ein andermal fragte er: Kann ich auch einmal berühmt werden? Und als sie dies bejahte, galt ihm ihre Antwort soviel wie eine ganz feste Zusicherung.



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