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An jenem Abend gab man eine Operette, die sich in kurzem die ganze Welt erobert hatte. Richard kannte sie nicht, aber ihre Melodien pfiff und sang man auf allen Straßen; er verfolgte sie mit seinem Haß und pflegte die Popularität dieses Werkes als ein Symptom allgemeiner musikalischer Verrohung und seichtester Verflachung hinzustellen. Jetzt seufzte er schwer und kaufte die Billetts.
Zur bestimmten Zeit wartete er vor Linas Haus. Endlich erschien sie, in einem Kleid mit hohem Halskragen, und sah ihn unter einem stolz aufgeputzten Hute freundlich an, indem sie ihm die Hand entgegenstreckte, die bis zu den ersten Fingergelenken mit gelben Filethandschuhen bedeckt war. Sie fühlte sich wunderbar dick an. wäre es noch Zeit gewesen, so hätte Richard sich schleunigst umgedreht um davonzulaufen. – Ja, sagte er jetzt. Soweit wären wir nun. Es bleibt nur zu überlegen ... er verstummte. Wenn er wenigstens mit ihr schon in irgendeiner hintersten Ecke eines Cafés säße, wo ihn niemand beachtete! Halb unschlüssig sah er sie wieder an. Ihr Körper steckte in einem ungefügen Korsett, das Kleid ging bis zur Erde, von der ganzen schönen Gestalt war nichts mehr übrig. – Worauf warten wir denn noch? – Gehn wir vielleicht gleich dort durch die kleine Gasse? – Das wollte sie nicht: Am Sonntag geht man in schönen, breiten Straßen. – Gut, gut, sagte Richard eifrig. Dann setzten sie sich in Bewegung. Er knöpfte seinen Mantel von oben bis unten zu, reckte seinen Körper empor wie eine Gerte, steckte die Hände in die Taschen und warf den Kopf etwas zurück. Seine Augen spähten immer nach vorn und seine schmalen Lippen spannten sich, wie wenn er in ihren Winkeln kleine Kugeln festzuhalten habe. Sein Gesicht sah schlimm aus, fast wie die Karrikatur eines geistreichen, überreizten Menschen. – So, sagte sie, als sie am Markt ankamen; jetzt möchte ich in das Restaurant da drüben! Das war eins der allerersten, dort verkehrten Professoren, Künstler, die sich sehr verwundert hätten, Richard in solcher Begleitung zu sehn. Unmöglich, sagte er. wir gehn noch weiter. – Ich habe aber Hunger! – Sie war schon stehn geblieben, jetzt ließ sie sich zum ersten Schritt wieder auf ihren rechten Fuß nieder, nachdem sie zuvor parallel auf beiden Beinen ausgeruht hatte. Dann kamen sie zu einem entfernteren Restaurant. Richard wußte nicht, ob er oder sie voranzugehen habe, und ließ sie vor sich eintreten. Zögernd hob sie einen Fuß, wie ein Huhn, das einen fremden Garten betritt. Bald darauf begann sie zu essen, daß Richard Herzklopfen bekam.
Die Schmier' ist ausgezeichnet! – Wie? – Sie wiederholte ihre Worte und deutete auf ihre Mayonnaise. – Ziehn Sie doch wenigstens diese Dinger aus! Er meinte damit die Filethandschuhe. – Wenn sie Ihnen nicht gefallen, zieh ich sie gleich aus! – Der Mayonnaise folgte ein gehacktes Beefsteak, dann kam eine Omelette.
Wie heißen Sie eigentlich mit Ihrem Zunamen? fragte Richard, da er fühlte, daß er sie zu wenig unterhielt. Sie nannte ihn, und abermals fragte er: Wie? nur, daß er sich diesmal noch etwas mehr vorneigte. Dann sank er zurück und starrte an die Decke. Lina schien seine Schweigsamkeit nicht sehr zu bemerken, sie hatte sich satt gegessen, und wenn sich ihre Blicke trafen, lächelte sie nur zufrieden. – Was denkt sie wohl von mir? dachte Richard; ich glaube, sie denkt sich überhaupt nichts. – Darin irrte er. Lina dachte sich schon genug. Nur wäre er erstaunt gewesen, wenn sie diese Gedanken offen ausgesprochen hätte.
Endlos lange saßen sie in dem verrauchten Lokale; in aller Verzweiflung holte er Witzblätter und Journale, las ihr die Anekdoten vor, und als das beendet war, kam er auf die Idee, Gedichte herzusagen, um sich selber etwas zu entschädigen. Sie begriff den Sinn niemals, wollte aber immer mehr davon hören und sah ihm mit großen, andachtvollen Augen auf die Lippen. – Müssen wir noch nicht fort? fragte sie ab und zu dazwischen. Er sah dann nach der Uhr und schüttelte jedesmal mit dem Kopfe. Solange es irgend anging, wollte er hier sitzen bleiben, wo er wenigstens unbeachtet war. Die Zeit der Theaterwanderung mußte auf ein Minimum beschränkt werden.
An diesen Theaterabend dachte er später mit Grauen zurück. Jene Musik, und alles was mit ihr zusammenhing, ärgerte ihn nicht, nein, sie peinigte und quälte ihn bis aufs Blut. Er litt wie unter schlimmsten körperlichen Schmerzen. Und diese verruchten und verfluchten Melodien hängten sich wie mit kleinen Widerhaken in die Seele ein, sie schlichen wie auf Hintertreppen ins Gedächtnis und setzten sich da fest. – In der ersten Pause hatte Lina Hunger, und in der zweiten auch. Dann kam der letzte Akt. Da geriet Richard in seiner stummen, verbissenen Verzweiflung auf ein Gewaltmittel, um entgegenzuarbeiten gegen diesen schmutzig-lauen Fluß, der ihn mit fortnahm. Mitten in das öde, wiegende Dreivierteltaktgetänzel warf er stumm einen andern, gewaltigen Rhythmus, und jetzt begann es wie ein Kampf auf Leben und Tod. Mit aller Kraft der Konzentration, die ihm zu eigen war, hörte er gegen das laute Gefiedel im Orchester dort unten den Sturm eines klassischen Symphoniesatzes. – Schön ist es, gelt! sagte Lina, als sie einmal seine unbewußte Taktbewegung fühlte.
Auf dem Nachhauseweg war er nervös zerrüttet, dann bekam er einen Gähnkrampf. Ich glaube, Sie mögen mich nicht mehr, sagte Lina. Er schloß hastig den Mund, den er grade wieder weit aufgerissen hatte, und fragte: woher wissen Sie denn, daß ich Sie gemocht habe? – Nicht? ich dachte mir ... Auf einmal sah er sie wieder mit neuen Augen an. Er hatte grade beschlossen gehabt, daß mit diesem Abend ihre Beziehungen ein Ende nehmen sollten. Er glaubte, er sei ihr vollständig gleichgültig. Ihre letzten Worte aber klangen wie eine Aufmunterung zum Gegenteil. – Sie sind selbst ganz anders als sonst! sagte er; Sie kommen mir fremd vor in dieser Kleidung, die paßt nicht zu Ihnen. – Das nächste Mal kann ich mich ja anders anziehn, meinte sie. – Und die Filethandschuhe müssen unbedingt gänzlich fortfallen! – Auch dazu war sie bereit. Unter der Haustür bat sie ihn, ob er ihr nicht drei Mark leihen wolle: Sie müssen nämlich wissen, ich habe am letzten Mittwoch ... Schon gut, schon gut, beschwichtigte er; das brauche ich nicht zu erfahren, wozu Sie sie nötig haben. Darf ich sie ... Ihnen so ohne weiteres ... in die Hand geben? – Natürlich; wie denn sonst? – Er gab sie ihr. Danke! sagte sie, sah ihn zögernd an und dann fühlte er für einen Moment ihre vollen Lippen auf den seinen. – Lina! wollte er sagen; aber er brachte dieses Wort nicht heraus. – Wann sehn wir uns wieder? fragte sie; nächsten Sonntag? – Könnte es nicht schon während der Woche sein? Vielleicht einmal am Abend? – Sie dachte nach: Ja, das ginge! Sie setzten ihn näher fest, dann trennten sie sich. Richard ging gedankenvoll die Straße hinab, blickte zum Mond auf und schnitt im peinlichen Durcheinander seiner Gefühle eine Grimasse, die stehn bleiben zu wollen schien.
Bist du verrückt geworden? Was pfeifst du denn da? fragte Enzio am nächsten Tage. Richard brach ab, mit einer Art von Todesschreck. Aber nach ein paar Tagen pfiff er gedankenlos etwas verwandtes, aus derselben Operette. – Warst du drin, am letzten Sonntag? Enzio sah ihn verwundert an. – Ich? Nein! wie kommst du darauf? – Enzio betrachtete ihn aufmerksam: Du warst da! Ich sehe es dir an! Dann machte er einen plötzlichen Gedankensprung und brach in ein helles Gelächter ans. – Was hast du denn? fragte Richard mißtrauisch. – Das finde ich ja herrlich! Armer Richard! Ist sie blond? – Ich war überhaupt mit keinem Mädchen da. – Also bist du dagewesen! Du willst mir doch nicht einreden, daß du zu deinem Vergnügen hingegangen bist! – Richard zuckte die Achseln. Enzio blieb mit seinen Vermutungen im Dunkel. Aber eines Tages, nach Wochen, sagte er: Höre mal, ich glaube, du hast Unglück in der Liebe! Du bist entsetzlich nervös, diese ganze Zeit, irgend etwas ist in dich gefahren, was früher nicht da war. Du kannst das ableugnen soviel du willst, ich weiß es doch. – Richard unterdrückte einen Seufzer, aber er schwieg.
In der Tat hatte er es hart. Dieses Mädchen war ihm ein Rätsel. Sie hatten sich nun inzwischen so oft gesehn, daß es sich längst hätte herausstellen müssen, ob sie etwas anderes außer Wohlwollen für ihn empfand. Aber davon hatte Richard keine Ahnung. Manchmal schien es ihm, als sei er ihr durchaus gleichgültig, mehrmals hatte er ihr schon gesagt, er käme nun nicht wieder, aber dann hatte sie ihn stets mit einem Blicke angesehn, der seinen Vorsatz sofort wieder umstieß. Nach jenem schlimmen Sonntag sah er sie nur noch in ihrem kleidsamen, einfachen Kostüm der Woche, die Erinnerung an jene fatale Verwandlung war in ihm geblaßt, er fand sie anziehender als je; hätte sie einen andern Namen gehabt, so war sie nach seinem Empfinden in sich selbst vollendet, wenn er allein war, so nahm er sich oft vor, mehr Mut zu haben ihr gegenüber, sah er sie dann, so stellten sich alle alten Hemmungen ein und er brachte kein Wort davon über die Lippen. – Es geht so nicht weiter, sprach er zu sich selber, ich quäle mich entsetzlich, und dann ... Was dann noch folgte, dachte er nur, denn seine Diskretion ging so weit, daß er sogar vor sich selbst etwas laut auszusprechen vermied, was sie zu verletzen schien. Und dieser Punkt betraf das Geld. Lina hatte eine leichte und selbstverständliche Art, ihn jedesmal, wenn sie sich trennten, um irgendeine Summe zu bitten. Nicht schenken sollte er sie, sondern »leihen«. Sowie sie ihren Lohn ausgezahlt erhalten oder auch von zu Hause Geld geschickt bekommen würde, wollte sie ihm alles zurückgeben. Über dieses stets sich wiederholende Versprechen ging er immer sehr schnell hin. Sie tat ihm leid, wegen ihrer knappen Mittel, und wenn ihm diese fortwährenden kleineren und größeren Opfer auch empfindlich waren, da er selber in so sehr beschränkten Verhältnissen lebte, so hätte er doch niemals einen Pfennig von ihr zurückgenommen. Er antwortete ihr nur, das werde sich alles finden, da er glaubte, es könne ihr unangenehm sein, wenn er es gradezu ausspräche, daß er nie eine Rückzahlung erwarte. Aber jetzt dachte er doch: Hier muß einmal ein Ende gemacht werden, ich kann das nicht auf die Dauer durchführen. Schließlich stehe ich wie ein ganz dummer und alberner Mensch da. Ob sie mich wohl schon längst so ansieht? – Und dann machte es ihm Sorge, daß sie das letztemal angedeutet hatte, sie habe eine große Bitte an ihn, aber getraue sich nicht sie auszusprechen. Was um alles in der Welt konnte sie meinen? Sollte er ihr beim Suchen einer neuen Stelle behilflich sein? Gab es häusliche Differenzen mit ihren Eltern, bei denen er den Vermittler spielen sollte? Er beschloß, sie ein letztes Mal zu sehn und dann nicht wiederzukommen. Sie erriet das sehr leicht in seinem Wesen. – Weshalb denn nur? fragte sie; wir mögen uns doch sehr gerne! – Ich weiß, daß ich Ihnen ganz gleichgültig bin. – Sie mögen mich ja auch nicht. – Dieses »ja auch nicht« griff ihm sehr kühl ans Herz. Trotzdem sagte er: Sie müssen es längst bemerkt haben, daß ich Sie sehr gerne mag. – So! rief sie lebhaft, Haben Sie ein einziges Mal du zu mir gesagt? Immer Sie! und so nennt man keinen Menschen, den man wirklich gern hat. – Sie haben doch auch nicht du zu mir gesagt! antwortete er, schon ein Stück wärmer, hoffnungsvoller. – Ich? das paßt sich nicht, daß ich das zuerst tue! – Ja, möchten Sie es denn gern, wenn wir uns du nennen? – Frag doch nicht so dumm. – Diese Einleitung einer größeren Intimität verdutzte ihn zunächst, aber er half sich mit dem Gedanken darüber hinweg, daß einfache Mädchen auch eine gröbere Sprache führen. Nun fand er auch leichter die Worte über das zu sprechen, wozu ihm bisher der Mut fehlte. Sie schien nicht überrascht zu sein, faßte seine Hand und sagte: Herzl, das weiß ich ja schon längst, daß es so kommen muß. Gedulde dich nur noch, ganz kurze Zeit. Komm diesen Mittwoch, da bin ich allein.
Hast du dich verlobt? sagte Enzio; du bist so sonderbar gehoben! Richard lächelte: in ein paar Tagen werde ich dir alles erzählen. Diese Tage vergingen, und was er dann erzählen konnte, war anders, als er dachte.
Er kam zu ihr am Mittwoch. Sie sagte, sie habe sich geirrt: Gestern sei der Tag gewesen, wo ihre Leute fort waren; o, sie sei furchtbar böse. – Es war, wie wenn ein Wind, der ein Segelschiff stark vorwärts treibt, mit einem Male aufhört, so daß ein Stillstand eintritt und die Leinen um die Masten klatschen. – So, sagte er nur. – Schatz, ich kann wahrhaftig nichts dafür! Du mußt doch einsehen, daß du heut nicht bei mir sein kannst! Sie spannte ihre fünf Finger in die seinen, und in der Berührung schmolz sogleich jene Kälte, die er anfänglich empfand und über deren Grund er sich gar nicht klar war. – Komm am Sonntag, flüsterte sie, da gehn alle über Land! – Nun war er wieder ganz in seiner zerrenden Unruhe. Als sie sich trennten, gab sie seine Hand nicht frei. – Was möchtest du denn noch? – Ich wollte dich doch immer um etwas bitten, sagte sie zögernd. – Ja, meinte er mit unbehaglichem Gefühl, ich tue gerne alles, was ich kann, worum handelt es sich denn? – Da ist so eine Frau, begann sie. – was für eine Frau? – Nein, du wirst böse! – Absolut nicht, was für eine Frau? – Eine Schneiderin, die mich schon dreimal gemahnt hat, und jetzt mit dem Gerichte droht. – Also wieder Geld, dachte Richard. Dann fragte er nach der Höhe der Summe. Sie war größer als alle vorher geforderten. Er mußte vieles entbehren, wenn er ihr das bezahlte. – Es ist das allerallerletzte Mal, daß ich dich um Geld bitte! Nie wieder! das verspreche ich dir hoch und heilig! Kannst du es nicht? – Doch, ich kann es, sagte er hastig; nur kann ich es heute nicht. – Es muß aber heute sein! bat sie dringlich. – Weshalb denn durchaus heute? – Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen halb befangen an: Es muß heute sein, ich weiß bestimmt, morgen früh kommt sie wieder! – Er brachte es noch am selben Abend. – Es ist für den Hut und für die Bluse, in denen ich mit dir damals ins Theater ging, sagte sie. Dann bat sie um seine Adresse. – Weshalb? – Damit ich später genau weiß, wohin ich alles Geld zu schicken habe. – Er wollte sie ihr nicht geben. – Ich muß sie aber wissen! du könntest plötzlich sterben – – Ich sterbe doch nicht plötzlich! rief er lachend. – Schon manche Menschen sind über Nacht gestorben! ich bin abergläubisch und denke: wenn du sie mir nicht gibst, passiert etwas Schreckliches. – Da gab er sie. – Als sie sich trennten, bat sie ganz von selbst: Gib mir noch einen Kuß! Dann küßte er sie so lange, bis sie ihn abwehrte.
Sein Geld erhielt er niemals wieder, aber am nächsten Abend traf ein Brief für ihn ein, mit einer Aufschrift, die ihn wieder an ihren sonderbaren und ungeschickten Gang in den zu langen Kleidern erinnerte.
Sie erzählte ihm darin, daß am gleichen Tag ein früherer Schatz von ihr plötzlich zurückgekommen sei. Er wohne im selben Hause, und nun müsse es aus sein zwischen ihr und Richard. Es tue ihr so schrecklich leid! Sie danke ihm noch für alles und würde ihm bei nächster Gelegenheit die Auslagen zurückerstatten, die er um ihretwillen gehabt habe, vielleicht könne es sehr lange dauern. Sie bäte ihn auf das dringendste, nie wieder zu kommen, ihr Schatz habe große Kräfte und würde ihn aus dem Hause werfen, und das wolle sie nicht.
Richard las diesen Brief mehrmals durch, dann begegneten seine Augen zufällig seinem Spiegelbilde, wendeten sich aber gleich wieder weg. Er schwieg lange, dann murmelte er: das war ein kompletter Reinfall. Ein Gefühl von Scham und von Kälte gegen sich selbst war in ihm, daß er sich durch lange Zeit so gröblich hatte täuschen lassen können. Seine versperrte Empfindung suchte nach einem Ausweg, und sie brach sich Bahn in rücksichtsloser Selbstverspottung. Als dies Geschäft beendet war, fühlte er sich beinah heiter. Und nachdem er noch in alle Winkel dieser Angelegenheit psychologisch hineingeleuchtet hatte, jetzt, nachdem er das Ganze überschaute, kam sie ihm schon so zurückliegend, so abgeschlossen vor, so außerhalb seiner selbst, daß er mit einer Art von Befriedigung Enzio alles mitteilte.
Der machte anfangs erstaunte, strahlende Augen, bis der Moment kam, wo er ein erstes Lachen unterdrückte. Als er aber dann den Brief las, war er voll Empörung: So eine raffinierte, durchtriebene, gemeine Person! rief er. Den Kerl, ihren Bräutigam, müssen wir verhauen. Und dann schicken wir ihr den Gerichtsvollzieher. – Richard wollte davon nichts wissen. – Du scheinst nicht einmal Rachegedanken zu haben? – Ich? nein, weshalb? Dies Mädchen hat von Anfang an meine Eitelkeit ausgenützt, das war nicht schön von ihr, aber auch nicht dumm. – Aber irgend etwas muß geschehen, rief Enzio: Ich werde hingehn und ihr den Standpunkt klarmachen. Richard lachte: Du bist wohl neugierig wie sie aussieht? Möchtest ihr dann eventuell nach deiner Predigt den Mund tröstend mit einem Kuß verschließen, wie? – Enzio protestierte dagegen und sagte, der ganze Einfall sei nicht ernst von ihm gemeint: Aber sag mir, wie heißt sie eigentlich mit Zunamen? – Diese Frage hatte Richard schon seit langem gefürchtet. Er sah Enzio mit einem Blicke an, als sei sie eine ganz komplizierte, auf die er im Augenblick keine Antwort geben könnte, dann aber dachte er: Besser, ich sage den Namen gleich, als daß ich mir ihn langsam herausquetschen lasse. So sprach er ihn denn aus, als sei er so selbstverständlich wie jeder andere. Statt einer Antwort fiel Enzio ihm um den Hals und rief: Ach, Richard, du bist doch der rührendste Mensch auf der ganzen Welt! – Der Name ist freilich nicht schön, sagte Richard. – Wenn man keinen schönen hat, muß man sich umtaufen lassen, so wie die Battoni: Armida Battoni! wie stolz klingt das! – hieß die denn nicht immer so? – Weißt du das nicht? die heißt doch eigentlich Emma Schmälzle!
Dies alles, sagte Richard am Schluß der Unterhaltung, habe ich dir unter strengster Diskretion erzählt, du mußt mir versprechen, niemandem ein Wort davon zu sagen. Enzio versprach es. Aber diese Geschichte war zu verlockend: Noch am selben Tage erzählte er sie seiner Mutter wieder. – Du lachst ja gar nicht? sagte er am Schluß enttäuscht. – Sie schwieg erst. Ich weiß nicht, sagte sie dann, was dabei Lustiges ist. Ich sehe nur ein verderbtes Geschöpf vor mir, und ich begreife Richard nicht, daß er das nicht auch von Anfang an bemerkt hat. Freilich, wenn man verliebt ist, sieht man manches nicht. – Du machst ja so sonderbare Augen? – Ich? sie lachte: hoffentlich sind seine künftigen Erfahrungen besser.
Dies hätte mir Enzio lieber nicht erzählen sollen, dachte sie später, als sie allein war. Und dann bemühte sie sich doch wieder alles zu verstehn. Richard war und blieb ein so lauterer, reiner Mensch, daß diese Züge, die ihr nicht zu seinem Bilde passen wollten, doch irgendwie sich einordnen und eine andere Beleuchtung bekommen mußten, als sie, für sich genommen, zu haben schienen. Sie hatte den Willen dies zu glauben, und sie zwang ihr Gefühl dazu.
Enzio hatte von seiner Messe das »Gloria« beendet; er spielte und sang es Richard vor. Der war erstaunt über den großen Wurf dieser Leistung, den er ihm nicht zugetraut hatte. Schwelgerisch prächtig und dekorativ war diese Musik. – Endlich einmal ein anerkennendes Wort! rief Enzio glücklich: weißt du, Richard, wenn du dich auch hiergegen wieder ablehnend verhalten hättest, so würde ich künftig nichts mehr auf dein Urteil gegeben haben. – Du mußt irgendwoher einen innern Stoß bekommen haben! Das war wohl lange in dir aufgespeichert, ohne daß du selbst davon wußtest. Wenn du so fortfährst, dann werden wir noch einmal etwas Großes an dir erleben!
Enzio machten diese Worte viel glücklicher, als er zeigte, er begab sich mit frischen Kräften an die Fortsetzung seines Werks, wie eine große Welle war die Inspiration über ihn gekommen. Er arbeitete den ganzen Tag durch, und spät am Abend, wenn er, um frische Luft zu schöpfen, draußen unter dem Sternenhimmel ging, holte er tief Atem, sah hinauf zu den blinkenden Lichtern und dachte: Bin ich nicht der glücklichste Mensch auf der Welt? Gibt es etwas Herrlicheres, Beseligenderes als die Musik, die man aus sich herausschafft? So wird es nun mein ganzes Leben weiter gehn!
Wie sein Werk endlich nach Monaten vollendet war, hatte er das Gefühl, als sei er in einer Einsamkeit gewesen und komme zum ersten Male wieder unter Menschen.
Richard hatte Enzio nun so oft entmutigt, daß er jetzt, wo er anerkennen konnte, seinem Urteil unwillkürlich größere Worte gab. Er sagte zu Caecilie, ihm mache das Werk einen ähnlichen Eindruck wie Wand- und Deckenmalereien der Barockkunst, zu der Enzio eine innere Verwandtschaft zu haben scheine: Ein großer Zug pomphaften Lebens, eine voll sich gehen lassende Freude an der dramatisch bewegten Linie, lebensgenüßliche Sinnlichkeit bei allem äußerlich dargestellten Schmerz. Dies war nicht seine eigene Welt, aber er erkannte an, daß sie auch ihre Berechtigung habe, sowie sie sich in wirklichem Stil zusammenfasse.
Caecilie war stolz auf dieses Werk, nur der Kapellmeister brummte, Enzio möge zwar so fortfahren, sich aber im übrigen vor Überhebung hüten: Die Bäume wüchsen zu leicht in den Himmel. Bei diesen letzten Worten dachte er sich gar nichts. Gleich nach jenem Werke komponierte Enzio einen Walzer, in einem Vormittag, aus einem Guß. Er war hinreißend, im Schwung, bravourös, voll von rhythmischen Kunststücken, und er nannte ihn » valse impromtu«.
Hat das Bienle nicht geschrieben? Dies war Enzios gewöhnliche Frage an Caecilie, in der ersten Zeit nach seiner Rückkehr, morgens wenn er zum Kaffee erschien; und er hatte oft gesagt: Wie sehne ich mich zu ihr zurück, ich bin ja gerne hier, aber ich werde doch froh sein, wenn ich sie erst wieder habe! Dann waren seine Fragen seltener geworden, und jetzt, wenn er morgens einen Brief auf seinem Teller fand, schien er ihn achtlos zu lesen. Einmal ließ er sogar einen auf dem Tischtuch liegen, so daß Caecilie ihm sagen mußte, er möge weniger zerstreut sein. War seine Leidenschaft schon verrauscht und verraucht durch diese kleine Zeit der Trennung? – Hast du sie nicht mehr lieb? fragte sie einmal. – Er sah sie groß an: Wieso? – Es scheint mir beinah, als ob es so wäre. – Er widersprach lebhaft: Ich kann mich doch nicht einschließen und immer nur an sie denken, das wäre lächerlich von mir! – Mir kommt es vor, als dächtest du überhaupt nicht mehr an sie. – Enzio wurde eifrig: O doch, aber was habe ich davon? Ich würde mich nur vor Sehnsucht krank machen, und dann: ich schreibe ihr doch jedesmal, wenn ich einen Brief von ihr bekomme! In ihren Briefen steht allerdings fast nichts; wenn sie solche Sachen erzählt, ist es entzückend, aber in den Briefen sehe ich sie doch nicht! Und außerdem: Wir haben uns das feste Versprechen gegeben, uns nicht aneinander zu binden, das weißt du doch. – So ist es wohl nicht unmöglich, daß sie inzwischen einen andern Freund gefunden hat? – Ganz unmöglich! sagte Enzio mit Überzeugung, und fuhr fort: das wollte ich ihr nicht geraten haben! – Caecilie schüttelte den Kopf, dann sagte sie: Du bist ein Tyrann, Enzio. – Er schwieg halb schuldbewußt, und wenn er in sein Inneres sah, so kam es ihm selbst so vor, als sei da nicht alles in Ordnung. Zu Irene hatte er nie das leiseste Wort gesagt, daß er eine Freundin habe, die ihm so eng verbunden war. Ja, ihr gegenüber tat er, als habe er stets nur an sie gedacht. Es riß ihn so mit fort, er konnte nicht anders. Er fühlte, daß er in ihrem Herzen den ersten Platz einnahm, und er hätte sein eigenes Selbst entzweireißen müssen, wenn er ihr nicht ebenso geantwortet hätte. Die Wirklichkeit war stark, so stark, daß es ihm allmählich umgekehrt zu gehn schien wie zu Anfang, als er Irene wiedersah: Damals erschien ihm sein ganzes früheres Zusammenleben mit ihr wie ein Traum, und nun war ihm, als sei dieses von Anfang an die Wirklichkeit gewesen, und als liege der Traum da, wo er die Wirklichkeit zu fühlen glaubte. Er tröstete sich mit dem Gedanken: Sowie ich wieder fort bin, sowie ich das Bienle wiedersehe, wird alles so sein, wie es gewesen ist. Und ihr selber wird es sein, als läge gar keine Zeit dazwischen, denn sie denkt doch nur an mich und glaubt, daß auch ich nur an sie denke, und darin ist sie glücklich. Es wäre eine Dummheit, wollte ich sie mit Dingen beunruhigen, die im Grunde nichts an den Beziehungen zwischen uns ändern.