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An einem Theaterabend war er mit seiner Mutter in der Pause im Foyer, und nicht weit von sich sah er ein Mädchen in einem weißen Kleid; sie schien jünger zu sein als er. Sie war mit zwei hochgewachsenen, vornehmen Menschen zusammen, die sich mit einem weißhaarigen alten Herrn unterhielten, der grade wie ein Jüngling neben ihnen stand. Wer ist das? fragte Enzio leise. – Der alte Herr? Caecilie sagte den Namen; es war ein Graf, und Minister war er auch. – Den meine ich nicht! sagte Enzio, ich meine die daneben. – Die Frau ist seine Tochter, und das entzückende Mädchen wird wohl ihre eigne Tochter sein. Der andere ist ihr Mann, ein hochberühmter Bildhauer! Sie nannte ihm den Namen.
Jetzt trat ein Herr auf seine Mutter zu, und während sie mit ihm redete, näherte sich Enzio jenem Mädchen immer mehr, bis er beinah vor ihr stand. Unwillkürlich richtete sie die Augen auf ihn, erst als ob sie ihn nicht sähe, und dann stillverwundert, fragend. Ihre schmalen, formenvollen Lippen waren geschlossen, der ganze Kopf bewegungslos und ernst. Dann drehte sie sich wieder zu den andern und schien von neuem zuzuhören, und Enzio sah ihr Profil. Die feine Nase war ein wenig vorspringend, ebenso das Kinn. Beide gaben dem Gesicht einen außergewöhnlichen, herben, fast etwas knabenhaften Charakter. Ihr Haar war glatt und ließ die gehobene Steilheit des Hinterkopfes deutlich hervortreten. Ganz versunken stand Enzio, bis sie abermals zu ihm hinschaute, diesmal mit einem scheuen, kurzen Blick. Er errötete, kehrte sich ab und ging zu seiner Mutter zurück. – Dieses Bild grub sich tief in sein Herz ein; Wochen, Monate vergingen, ehe er sie zum zweiten Male sah, diesmal in einem Konzert; sie trug dasselbe Kleid wie damals und sah genau so aus wie an jenem ersten Abend. Sie erkannte ihn ebenfalls, als sie zufällig in die Reihe hinter sich zurücksah, und blickte schnell wieder weg von ihm. –
Wo ist denn Enzio? fragte seine Mutter jetzt öfter am Nachmittag, wenn er sich nicht blicken lassen wollte. Und während sie ihn suchte, saß er weit weg vom Haus, versteckt in einem dichten Gebüsch im Stadtpark, unten an dem Flusse, und sah träumerisch hinüber auf ein schönes Haus in einem schönen Garten, der sich jenseits sanft ansteigend in die Höhe zog. Meistens lag alles still und ruhig, manchmal aber schimmerte ein Kleid durch die Büsche, und einmal sah er sie lange auf einer Bank sitzen, in einem Buche lesend, das Gesicht quälend, halb verdeckt von einem Kastanienblatt. Kam er dann endlich nach Hause, so sagte er, er sei mit Kameraden in den Wald gegangen.
Einmal, als er zufällig am Nachmittag allein im Toilettenzimmer seiner Mutter stand, fiel sein Blick auf ein seidenes Kissen, auf dem Broschen und Nadeln steckten. Er sah sie eine Zeitlang an, dann ergriff er eine schöne Brustspange, verbarg sie in seiner Tasche und schlich sich in der Dämmerung davon. Dieses Mal suchte er das Haus von der andern Seite auf. Er ging immer langsamer, je näher er der Gartenmauer kam, stand lange davor, und endlich, als alles still und dunkel war, kletterte er hinüber, und nun stand er in dem Garten selbst. Ein leichter Schwindel befiel ihn, wie er vorwärts ging, nachdem er anfänglich Schritt für Schritt geschlichen war. Seine Füße traten auf harten Kies, dann auf weichen Rasen; er blickte um sich. Wenn ihn jetzt jemand entdeckte! Endlich kam er zu jener Bank, auf der er sie kürzlich noch gesehen hatte. Er setzte sich nieder. Und wenn nun jemand durch den Garten kam und ihn hier fand? Er würde den Weg zur Mauer nicht zurückgewinnen können. Er sah in die dunklen Kastanienblätter hinauf und träumte. Da fiel ihm eine schöne Melodie ein, und er dachte sie immer von neuem. Endlich blickte er sich um, dann schritt er zu dem Fuß des Baumes und legte seine schöne Spange nieder. Plötzlich nahten Schritte. Er schrak heftig zusammen; sein erstes Gefühl war so entsetzlich, daß er dachte, er müsse sterben. – Gehen wir zur Bank! hörte er eine schöne Frauenstimme sagen, es ist so ein milder Abend heute! – Im nächsten Augenblick hatte er seine Spange in die Tasche gestopft, halb besinnungslos starrte er einen Moment noch geduckt durch die Bäume, dann war er mit ein paar leisen Sätzen unten an dem Wasser, warf sich ohne einen Moment weiterer Überlegung in den Fluß und schwamm hinüber.
Dieser Abend war ein Ereignis in Enzios Knabendasein. Er hatte sich geopfert, er hatte, wie er zu sich selber sagte, sein Leben aufs Spiel gesetzt, und von diesem Tage an schaltete und waltete er mit dem Gedanken an jenes Kind, dem seine Seele gehörte, wie mit etwas, das ihm ganz zu eigen war.
Er erfuhr jetzt bald auch ihren Namen.
Einmal gab es nachmittags ein großes Gewitter, und als die Sonne unterging, wurde der Himmel tief durchsichtig und farbig wie eine Seifenblase. Der Kapellmeister und Caecilie hatten Lust, noch einen schönen Spaziergang zu machen, Enzio schloß sich ihnen an, und sie gingen in den Park. Die Erde duftete, und in den perlenschweren Büschen schlugen die Nachtigallen, flötend leise und metallisch laut. Sie gingen jenen Weg entlang, an den Stellen am Fluß vorbei, wo Enzio jeden Baum und jedes Strauchwerk kannte. Drüben aus dem Garten scholl ein fröhliches Lachen, dazwischen tönte vom Haus her eine Frauenstimme, dieselbe, die er an jenem Abend im Garten gehört hatte, und dieses Mal rief sie: Irene! –
Traumhaft schön war in seiner Erinnerung dieses Ganze.
Dann schien es, als sei alles ein für allemal vorbei. Als er wieder zum Fluß herabkam, war es still dort drüben und alle Läden waren fest verschlossen. Das nächste Mal war es ebenso, und endlich konnte er nicht mehr im Zweifel sein, daß dort niemand mehr zu Hause war. Ob sie alle miteinander ausgezogen waren? Wieder ging er hinüber, zur Gartenmauer, dieses Mal trat er ohne Angst zur Tür hinein, eilte leise die paar Stufen bis zur Eingangspforte hinauf und blickte durch das Schlüsselloch, durch einen Raum hindurch in einen andern Raum, und grade auf ein großes, altes Bild: Eine herrliche, nackte Frau lag dort unter einem dunklen Baum und hielt den Blick genau – so schien es Enzio – auf ihn selbst geheftet, still und unbeweglich. – In halber Befangenheit zog er sich wieder zurück. –
Die sind verreist und kommen frühestens in einem Monat wieder! sagte ein Mann, der draußen am Wege arbeitete, zu ihm, im Glauben, er habe dort einen Besuch machen wollen. Trotzdem ging Enzio, halb in Hoffnung, halb aus Anhänglichkeit, die nächste Zeit noch zuweilen an dem Haus vorbei. Später sehe ich sie wieder! tröstete er sich endlich. Seine Gedanken wurden aber bald gänzlich abgelenkt von diesen Erinnerungen, denn eines Tages machte er eine wirkliche Bekanntschaft, die ihn vorläufig sehr beschäftigte.
Morgens, wenn er zur Schule ging, sah er seit einiger Zeit ein kleines Wesen, das seinen Schulweg in entgegengesetzter Richtung nahm; ein Mädchen, ungefähr im gleichen Alter mit ihm selbst, aber in ihrer Erscheinung etwas zurückgeblieben, obgleich sie recht niedlich aussah. Auf dem Rücken trug sie ein Ränzchen, auf dessen Außenseite ein weißer Pudel dargestellt war, sie hatte Schleifchen an dem geschneckelten Haar, ein rundes Mützchen auf dem Kopf und sah mit etwas versorgtem Hausmütterchengesicht stets in die Ferne, bis sie einmal durch Zufall auch auf Enzio blickte, der ihr sogleich ein komisches Gesicht schnitt, ohne selbst zu wissen warum. Sie nahm dies durchaus nicht übel, im Gegenteil: Sie drehte das Gesicht seitwärts zu ihm hinüber, lächelte verständnisvoll und doch fast höflich, und zog dabei ihre kleine Nase etwas kraus. – Dies war der Anfang ihrer Bekanntschaft. Das nächste Mal schnitt er ein noch komischeres Gesicht, diesmal gab sie vor Freude kleine, glucksende Töne von sich, beide drehten sich fortwährend nacheinander um, und das drittemal sprachen sie miteinander. Sie hieß Mathilde, wurde aber nur Pimpernell genannt. Wie Enzio diesen Namen hörte, war er ganz glücklich. Sie fragte auch nach seinem eignen Namen, und wie er ihn sagte, behauptete sie, das sei nicht wahr, den Namen Enzio gäbe es nicht, sie ließe sich nicht anführen. Erst als er ihr seine Hefte vorwies, glaubte sie ihm, meinte dann aber, solche Namen solle es lieber nicht geben. Ihr Vater war Schuldirektor, und als Enzio erzählte, der seinige sei Kapellmeister, sah sie ihn halb mißtrauisch von der Seite an und sagte: Du lügst! worauf er ihr versprach, er werde ihr eine Visitenkarte von ihm mitbringen.
Dies Pimpernell begleitete Enzio jetzt sehr oft ein Stück des Weges, von der Schule aus, und er wußte selbst nicht, wie das kam: Er erfand ihr gegenüber eine Masse Geschichten, in denen er selber die Hauptrolle spielte, und zwar stets eine sehr glänzende. Sie hatte nach ihren ersten klargestellten Irrtümern ein großes Vertrauen zu ihm gewonnen, glaubte ihm nun alles aufs Wort, bewunderte ihn rückhaltlos, und gab am Schlusse seiner Erzählungen kopfschüttelnd kleine Schnalztöne von sich, wie eine alte Dame etwa, die in der Stille ihrer Stube gelegentlich Bericht empfängt über die Dinge, die draußen in der geräuschvollen Welt vor sich gehn. – Was zahlt ihr für euer Haus? fragte sie einmal. – Das weiß ich doch nicht! rief er, dann aber log er eine beträchtliche Summe. Eines Tages, in der Nähe des Theaters, sah er von ferne Fräulein Battoni ihnen entgegenkommen. Er sagte, das sei die schönste und berühmteste Sängerin, die es gäbe, und er selber sei mit ihr befreundet, Pimpernell sah achtungsvoll auf die Erscheinung, dann sprach sie: Nun geh aber auch auf sie zu und sprich mit ihr! Enzio hatte Fräulein Battoni seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen und war etwas befangen, vielleicht kannte sie ihn gar nicht mehr? Aber gespornt von Ehrgeiz lief er auf sie zu, sie erkannte ihn augenblicklich, breitete die Arme aus, umfing ihn und küßte ihn mitten auf seine schimmernde Stirn. – Inzwischen trabte Pimpernell vorbei, zog plötzlich kichernd Schultern und Augenbrauen hoch und ihre Nase kraus, blickte dann schnell wieder ernsthaft drein und tat, als starre sie interessiert irgendwo in die Luft. – Also endlich, endlich nach so langer Zeit lerne ich deine Freundin kennen, Enzio; nun, das ist einmal ein possierliches und armes Würmchen! Ist das denn wirklich dein Geschmack, Enzio, mein bildschöner, wundervoller Junge?! – Er beeilte sich zu sagen, daß Pimpernell gar nicht seine Freundin sei; beide sahen ihr nach und Pimpernell, die merkte, daß über sie geredet wurde, drehte den Kopf bald nach links, bald nach rechts zu ihnen zurück, und endlich blieb sie stehn. – Lauf nur wieder! sagte Fräulein Battoni, und doch hielt sie Enzios Hand fest, drehte und drückte sie in der ihren, hob sie auf einmal hoch und sagte: Nein, was hat der Junge für gutgepflegte Finger; Enzio, deine Hand ist ja wie die Hand von einem Kavalier!! Pimpernell wurde das Warten langweilig, sie ging wieder regelmäßig gradeaus, den Kopf etwas im Nacken. Enzio sah ihr mit offnen Lippen nach. Fräulein Battoni lachte: Also lauf nur, sie ist ja doch deine kleine Freundin, du magst sagen was du willst. Ich war auch einmal so jung wie du, gelt, Enzio, da hätten wir uns kennen müssen! – Sie warf ihm einen Blick zu, der weit über seine Jahre ging, Pimpernell war wieder stehen geblieben. Sie hatte sich entschlossen, nochmals zu warten, und sah zurück. – Hast du gehört, Enzio, was ich eben sagte? – Ja? fragte er zerstreut und sah sie an. Da zupfte sie ihn am Ohr, nannte ihn einen durchtriebenen Schlingel und ließ ihn laufen.