Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Rasch, wie immer, wenn Elisabeth bei ihren Lieben in Waldheim weilt, sind die Stunden verflogen. Eben sinkt die Sonne hinter den westlichen Bergen hinab, im Scheiden noch einmal alles in leuchtenden Goldglanz tauchend, obwohl ringsum zerrissene Gewitterwolken aufgestiegen sind.
Elisabeth erhebt sich.
»Meine Stunde hat geschlagen. Du bist wohl so lieb, großer Bruder, und begleitest mich wieder bis ans Parktor?«
»Gern, gern, aber – jetzt schon? Es kann ja kaum viel über sieben sein …«
»Es ist halb acht, und um acht wollte Herr v. Schlomm mit den Kindern zurück sein. Außerdem möchte ich, daß du noch trocken wieder heimkommst, Erhard. Sieh nur, wie viele Wolken auf einmal am Himmel sind, und vorhin war es mir, als hörte ich in der Ferne bereits etwas wie Donnergrollen. Spute dich also!«
Elisabeth hat richtig vermutet. Rasch ziehen sich die goldgesäumten Wolken zu einer dunklen Masse zusammen, und als sie mit ihrem Begleiter das rückwärtige Parkpförtchen von Wolfeck erreicht hat, donnert es schon ganz ordentlich, und fahle Blitze erleuchten in kurzen Abständen die Gegend.
Hastig verabschiedet Elisabeth sich von Erhard, der rasch den Rückweg antritt.
Hoffentlich erreicht er Waldheim noch, ehe das Wetter losbricht – gar so nahe scheint es ja, gottlob, noch nicht zu sein, denkt Elisabeth, während sie mechanisch das Vexierschloß des Pförtchens öffnet, mit dem Blick Erhards sich eilig entfernender Gestalt folgend.
Darüber entgeht ihr, daß sich bei ihrem Eintritt in den Park von einer dem Ausgang nahegelegenen Bank eine Männergestalt erhebt und sich ihr rasch nähert …
Es ist Sascha Kelim, der hier seit einer Stunde auf sie wartet. Er ist nicht zu Seretschenskis gegangen heute, da er von Frau v. Seretschenski, die ihm damit eine Freude machen wollte, schon gestern brühwarm erfahren hat, daß man Irene dort erwarte.
Mißgestimmt hatte er sich nach Tisch in seinem mit orientalischem Luxus ausgestatteten Herrenzimmer auf den Diwan gelegt, geschlafen, Zigaretten geraucht und Dann geträumt …
Wieder einmal plagte ihn die Langeweile entsetzlich, und er befand sich in schlechtester Laune.
Daß man in dieser Krähwinkelgegend auch so gar nichts mit der Zeit anzufangen wußte! Nirgends war etwas los – für das Vergnügen so gut wie gar nicht gesorgt …
Der Teufel hatte ihn geritten, daß er sich gerade hier ankaufen mußte, bloß weil Ravelsperg gerade billig zu haben war und das Wiener Verkehrsbüro es ihm aufschwatzte!
Anfangs war es ja noch gegangen. Die Einrichtung des Schlosses, das sehr feudal angelegt war, zerstreute ihn. Dann kam der Flirt mit Irene Schlomm. Er beschäftigte ihn angenehm und zuweilen intensiv. Ihre stolze und zugleich lockende Schönheit zog ihn an … fesselte ihn sogar eine Weile ganz gewaltig …
Bis er erkannte, daß sie im Grunde nur eine gewöhnliche kleine Bürgersfrau war – geistig unbedeutend, aber anspruchsvoll – und … geheiratet sein wollte.
Heiraten? Na ja – er hatte ja schon manchmal daran gedacht … es würde die Langeweile verkürzen, konnte das ewige Einerlei des Alltags reizvoll beleben …
Aber dann durfte es keine Irene Schlomm sein, sondern eine Frau, wie er deren in Paris kennengelernt: pikant, abwechslungsreich, geistreich, anregend … eine Frau, die die Gabe besaß, ewig neu zu erscheinen, einem täglich Rätsel aufzugeben und einen dadurch beständig in Atem zu halten …
Hier um Lobstein herum kannte er nur eine, der er diese Fähigkeit zutraute: Edine Werndl!
Aber sie war bereits verlobt und ihm nur Freundin und Vertraute geworden … Zu lieben wäre sie wohl auch gar nicht fähig gewesen, indes – vielleicht war gerade das das Interessante und Anziehende an ihr …
Und dann war da noch eine, die ihn unwiderstehlich anzog und nach der er sich verzehrend sehnte … das Mädchen mit dem silberflimmernden Blondhaar … Elisabeth Benedikt – die nichts von ihm wissen wollte und ihm auswich, als sei er der Gottseibeiuns …
Wie süß ihr feines, rosiges Gesicht war! … Immer stand es vor ihm im Wachen und Träumen … ein lockendes Rätsel, hinter dem tausend Geheimnisse schlummerten …
Zu dumm, daß sie gerade in Wolfeck leben mußte, wo Irenes Nähe jede Annäherung erschwerte, ja fast unmöglich machte! Ohne das wäre er gewiß schon längst am Ziel.
Für eine Heirat kam Elisabeth freilich nicht in Betracht, so stark auch seine Leidenschaft ihn zu ihr drängte. Erstens war sie nur eine simple Erzieherin – zweitens die Geliebte Graf Gadenbrucks. Eine künftige Prinzessin Kelim aber mußte von Rang und tadelloser Unbescholtenheit sein …
Immerhin – hätte er Elisabeth nicht auch sonst noch genug zu bieten? Seine Liebe … seinen Reichtum …
Wenn er sie nur ein einziges Mal ungestört sprechen könnte! Aber da ist immer die Furcht vor Irene …
So weit in seinen Träumen gekommen, geht es plötzlich wie ein Ruck durch ihn hindurch, und er richtet sich jäh auf.
Eben erst ist ihm zum Bewußtsein gekommen, daß heute ja Sonntag ist und Elisabeth daher vielleicht wieder nach Waldheim zu Gadenbrucks gegangen sein könnte …
Und Irene ist gut und sicher bei Seretschenskis festgelegt! Vor neun kommt man dort beim Jour nie los, denn erst um sieben wird der Tee serviert.
Vor ihr wäre man also sicher. Und Ronald sitzt am Sonntag sicher auch nicht daheim, sondern bei der Braut. Und sein Vater macht wieder die obligate Spazierfahrt mit den Kindern – die einzige Frage ist nur, ob auch Elisabeth mitfährt oder – nach Waldheim geht. Aber das läßt sich ja vielleicht feststellen …
Und dann … eine so günstige Gelegenheit kehrt vielleicht niemals wieder …
Mit Windeseile hat sich Sascha zum Ausgehen angekleidet. Er blickt auf die Uhr. Sechs vorüber.
Gut, also zuerst nach Waldheim. Er kennt dort an der Westseite des Gitters eine Stelle, die ziemlich nahe am Wohnhaus liegt und von der aus man einen großen Teil des Parkes überblicken kann.
Vielleicht, wenn Elisabeth dort ist, geht das Liebespaar im Park spazieren …
Als Sascha die Stelle am Parkgitter erreicht hat, blickt er spähend über die Wege und Rasenflächen. Sie sind leer, niemand geht im Park spazieren. Aber die Fenster im Erdgeschoß des Hauses stehen sperrangelweit offen, und man hört Stimmen …
Sascha atmet plötzlich tief auf.
Ihre Stimme … unzweifelhaft Elisabeths Stimme. Sie ist also da …!
So. Und nun zurück nach dem Wolfecker Park und sich dort ein verborgenes Plätzchen gesucht, um sie zu erwarten. In ungefähr einer Stunde kann sie kommen. Wie gewöhnlich begleitet Gadenbruck sie bis ans Pförtchen. Aber er tritt dann nie in den Park ein, sondern verabschiedet sich stets schon draußen …
Saschas Berechnungen entsprechen der Wirklichkeit. Des Wetters wegen kehrt Elisabeth sogar schon eine halbe Stunde früher heim, als er erwartet hat.
Und nun steht er ihr gegenüber – zum erstenmal allein.
Sie prallt erschrocken zurück, als er plötzlich, wie aus dem Erdboden gewachsen, vor ihr auftaucht, und will natürlich mit doppelter Eile weiterschreiten, ohne ihn zu beachten.
Er aber vertritt ihr den Weg.
»Gottlob, daß Sie endlich da sind, gnädiges Fräulein! Trotz des drohenden Gewitters erwarte ich Sie hier seit einer halben Stunde …«
»Was ebenso unklug wie überflüssig war. Sie werden gut tun, schleunigst den Heimweg anzutreten, sonst werden Sie naß, Durchlaucht.«
»Was liegt daran? Wenn ich Sie nur endlich einmal ungestört sprechen kann! Ich habe Ihnen viel zu sagen …«
»Wir haben einander gar nichts zu sagen. Geben Sie den Weg frei, Durchlaucht, oder Sie zwingen mich, die Dienerschaft zu Hilfe zu rufen.«
»Die Sie, gottlob, gar nicht hören würde aus dieser Entfernung!«
Elisabeth weiß das nur zu gut, hat aber gehofft, ihn durch diese Drohung einzuschüchtern. Nun will sie mit Gewalt an ihm vorüber.
Statt dessen nimmt er ihre Hände und hält sie fest.
»Sie müssen mich anhören, Elisabeth! Ich liebe Sie mehr, als Sie es ahnen,« stößt er, blaß vor Leidenschaft und überstürzt, heraus. »Seit Monaten warte ich auf eine Gelegenheit wie diese, um es Ihnen zu sagen …«
»Sie haben es mir bereits wiederholt gesagt, Durchlaucht, und ich habe Ihnen klar und unzweifelhaft darauf geantwortet, daß ich nichts von Ihnen wissen will – weder heute noch in alle Ewigkeit. Haben Sie nun endlich verstanden?«
»Ja, aber ich gebe mich nicht zufrieden damit! Sie müssen die Meine werden, ich kann ohne Sie nun einmal nicht leben! Elisabeth … Liebe, Teure … warum wollen Sie mir nicht dasselbe gewähren wie Graf Gadenbruck? Ich liebe Sie viel heißer, als er Sie je lieben kann … und kann Ihnen viel mehr bieten. Meinen ganzen Reichtum will ich Ihnen zu Füßen legen …«
Elisabeth ist bei der Nennung von Erhards Namen betroffen zusammengezuckt und blickt nun fassungslos in Saschas Gesicht. Gleichsam durch ein Blitzlicht hat sich das Dunkel erhellt, das bisher über Saschas neulicher Anspielung für sie schwebte und dem sie soviel nachgegrübelt hatte.
Also Erhard hat er gemeint – und glaubt …
Empört tritt sie einen Schritt zurück, dabei vergeblich bemüht, ihre Hände freizubekommen.
»Sie sind ein ganz elender, gemeiner Mensch trotz Ihres Prinzentitels,« sagt sie, tiefste Verachtung in Ton und Blick legend. »Wer gibt Ihnen ein Recht, meine Ehre anzugreifen? Zwischen Graf Gadenbruck, der ein Verwandter von mir ist – und mir bestehen die reinsten geschwisterlichen Gefühle, sonst nichts …«
»Um so besser! Sie nehmen mir einen schweren Stein vom Herzen. Aber dann – Liebe, Teure, Angebetete, sind Sie ja frei und Ihr Herz wird sich mir zuwenden …«
»Nie! Schweigen Sie und geben Sie meine Hände endlich frei!« unterbricht ihn Elisabeth zornig.
»Nicht, ehe Sie mich zu Ende gehört! Hören Sie, Elisabeth – Sie und ich gehören zusammen! Vertrauen Sie mir doch Ihr Schicksal an! Wir wollen zusammen ins Ausland gehen, und ich werde Ihr Leben gestalten wie das einer Königin … die Sie ja auch unter den Frauen dieser Erde sind, kraft Ihrer Schönheit und Ihres Liebreizes! Alles – alles, was das Leben zu bieten vermag, will ich Ihnen zu Füßen legen und selbst nur Ihr demütiger Sklave sein …«
Er sucht sie mit Gewalt an sich zu ziehen und zu küssen. Elisabeth fühlt, wie er am ganzen Leib zittert. Seine heißen Hände umklammern die ihren wie Schraubstöcke. Wilde Leidenschaft loht ihr aus seinen schwarzen Augen entgegen …
»Geliebtes süßes Mädchen …«
»Hilfe!« schreit Elisabeth, von Angst und Grauen übermannt, laut auf …
Da knirscht der Kies hinter Sascha unter hastig darüber hineilenden Tritten. Bestürzt fährt er herum, dabei unwillkürlich Elisabeths Hände loslassend … und blickt in Irene v. Schlomms wutentstelltes Antlitz …
Irene hat bis sechs Uhr bei Seretschenskis auf Saschas Kommen gewartet. Als er nicht kam, läßt sie sich nicht halten und will nach Hause fahren. Unterwegs fällt ihr ein, er könne vielleicht krank und daher daheim in Ravelsperg sein. Sie schickt Kutscher und Wagen nach Wolfeck und eilt zu Fuß nach Ravelsperg. Dort sind alle Fenster dunkel, und Iwan, Saschas Kammerdiener, erklärt, Seine Durchlaucht sei schon vor anderthalb Stunden fortgegangen, wohin wisse er nicht.
Das immer drohender herannahende Gewitter zwingt Irene zur Heimkehr. Der nächste Weg für sie ist der durch das rückwärtige kleine Parkpförtchen. Enttäuscht, mutlos, beständig mit Tränen kämpfend, schlägt sie ihn ein, um dann, am Pförtchen angelangt – die Bestätigung ihrer langgehegten Befürchtungen zu erblicken …
Sascha, mit beiden Armen die Benedikt umschlingend, ihr heiße Liebesworte vorstammelnd!
Einen Augenblick steht sie wie erstarrt. Dann fliegt sie förmlich auf die beiden zu, einer gereizten Tigerin gleichend. Ihre tiefe Niedergeschlagenheit hat sich jäh in sinnlose Wut gewandelt, die aber weniger Sascha, den sie für den Verführten hält, gilt, als Elisabeth …
Diese, von Saschas brutalen Händen befreit, ist erleichtert aufatmend zurückgetreten und im Augenblick wieder ganz ruhig geworden, da sie sich ja keiner Schuld bewußt ist.
Ihr Bestreben ist nur mehr darauf gerichtet, Frau v. Schlomm die nötigen Erklärungen zu geben und dann möglichst rasch zu verschwinden.
Aber Irene kommt ihr zuvor und faucht sie an: »Also ist es doch wahr, was ich schon immer vermutete – Sie benutzen Ihren Aufenthalt in meinem Haus, um Liebesverhältnisse mit meinen Gästen anzuspinnen! Schämen Sie sich denn gar nicht, Sie … Sie gemeine Person …«
»Gnädige Frau …«
»Ah – wollen Sie etwa noch leugnen, was ich mit eigenen Augen gesehen habe? Ich bin doch nicht blind!«
»Aber Sie verkennen die Situation, gnädige Frau,« sagt Elisabeth, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, doch mit blitzenden Augen. »Ich spinne keine Liebesverhältnisse an, am wenigsten mit – einem Prinzen Kelim! Der Prinz hat sich – und leider nicht zum erstenmal – sehr ungebührlich gegen mich benommen und wollte mich zuletzt sogar mit Gewalt küssen. Das ist der wahre Sachverhalt. Ich wußte mir gegen seine Unverschämtheit nicht anders zu helfen, als daß ich nach Hilfe schrie – Sie müssen das doch gehört haben …«
»Lassen Sie die albernen Ausreden! Allerdings habe ich es gehört, aber Sie riefen erst um Hilfe, als Sie mich kommen sahen!«
»Das ist ein Irrtum, gnädige Frau. Ich sah Sie erst, als Sie bereits vor mir standen …«
»Schweigen Sie! Packen Sie Ihre Sachen, Sie sind entlassen … und werden das Haus morgen früh verlassen, verstanden? Ich behalte keine … Dirne auf Wolfeck!«
Elisabeth zuckt nicht zusammen bei dem häßlichen Wort, erwidert auch keine Silbe mehr darauf. Schweigend wendet sie sich von Frau v. Schlomm ab und schreitet dem Haus zu.
Es wäre unter ihrer Würde gewesen, fühlt sie, an diese wutschnaubende Furie mit dem rotfleckigen verzerrten Gesicht, die gar nicht mehr wußte, was sie sprach, auch nur ein einziges Wort zu verschwenden …
Irene blickt ihr triumphierend nach. Wie wohl das tat, der Person endlich einmal die Wahrheit gesagt zu haben!
Dann wendet sie sich um, um mit Sascha abzurechnen. Aber Sascha Kelim ist verschwunden. Schon bei Irenes ersten Worten hat er es für klüger gehalten, das Schlachtfeld zu räumen …
Elisabeth beizustehen, fällt ihm keinen Augenblick ein. Ja – hätte er noch auf ihre Liebe hoffen können – aber so? Mochte sie nun zusehen, wie sie mit Irene fertig wurde. Er war gründlich abgekühlt, seit Elisabeths kalte Verachtung und ihr heftiger Widerstand ihn endgültig belehrt hatten, daß er nie Aussicht haben würde, sein Ziel zu erreichen.
Mit dieser Erkenntnis verflackert auch seine Leidenschaft merkwürdig rasch. Mag sie denn laufen, die hochmütige Gans! Er wird ihr nicht mehr lästig fallen … es gibt ja genug andere schöne Mädchen …