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III.
Die Kinder von Schloß Wolfeck

Am nächsten Morgen wird Elisabeth durch einen Höllenspektakel aus dem Schlaf geweckt. Nebenan im Kinderzimmer brüllt der kleine Walter wie am Spieß, Inge und Fee sind in einem erbitterten Streit begriffen, den sie mit derben Kraftworten würzen, und dazwischen hört man Rosas ärgerliche Stimme: »Es ist aber auch schon zu arg, was ihr treibt! Inge, laß doch um Gottes willen die Wasserkanne in Ruhe, es schwimmt ja ohnehin schon alles im Zimmer … Fee, wirst du dir nun endlich die Schuhe anziehen lassen! Walterchen, ich bitte dich, höre doch nur zu schreien auf …«

Mit einem Satz ist Elisabeth aus dem Bett, wirft ein Morgenkleid über und öffnet die Tür zum Kinderzimmer. Beinahe wäre ihr dabei ein Schuh an den Kopf geflogen, den Inge eben Fee zugedacht hatte.

Fee, nicht faul, stürzt zornrot auf die Schwester zu und fährt ihr wütend mit beiden Händen ins Haar, sie tüchtig zausend, während Walter mit Händen und Füßen um sich schlagend und sein Gebrüll verstärkend, Rosa abzuwehren sucht, die ihm seine Strümpfchen anziehen will. Das ganze Zimmer gleicht einem Schlachtfeld. Betten und umgestürzte Stühle liegen umher, dazwischen Glasscherben und große Wasserlachen …

Einen Augenblick steht Elisabeth wie erstarrt. Sind diese kleinen Wilden wirklich dieselben Kinder, die gestern Abend so süß und rosig in ihren Betten lagen?

»Ruhe!« sagt sie dann laut und gebieterisch. »Werdet ihr wohl augenblicklich still sein und euch gesittet benehmen! Was fällt euch nur ein, solchen Lärm zu machen?«

»So treiben sie es jeden Morgen,« wirft das Stubenmädchen, das vor Arger Tränen in den Augen hat, ein, »nie wollen sie sich anziehen lassen! Und wenn die gnädige Frau dann durch den Spektakel in ihrer Ruhe gestört wird, macht sie unsereinen dafür verantwortlich! Gestern erst zankte sie mich aus …«

»Geschieht Ihnen ganz recht, Sie dumme Gans!« unterbricht sie Inge spöttisch. »Warum sagen Sie nicht einfach, daß wir Indianer spielen?«

»Inge hat mir ein Glas Wasser an den Kopf geschmissen!« schreit Walter dazwischen, »Fee soll sie dafür verdreschen …«

»Welche Ausdrücke, Kinder! Ich bin sprachlos!« Elisabeth wendet sich an Inge: »Inge, du bist die älteste und solltest deinen Geschwistern mit gutem Beispiel vorangehen, statt dessen benimmst du dich wie ein Gassenjunge! Schämst du dich nicht?«

»Nein, gar nicht. Warum denn? Wir spielen doch jeden Morgen Indianer …«

»Das ist kein Spiel für Mädchen, und in dieser Weise überhaupt nicht für gut erzogene Kinder. Hat euch Fräulein Wende dies denn erlaubt

»Wir haben sie doch gar nicht erst gefragt!« antwortet Inge halb trotzig, halb verächtlich. »Die lag ja auch meistens bis zehn im Bett und kümmerte sich nicht viel um uns … gottlob! Wenn sie aufstand, hatten wir uns schon immer irgendwo im Haus versteckt und kamen erst wieder zum Vorschein, bis sie mit Papa im Auto weggefahren war. Papa fuhr sie nämlich vormittags meistens spazieren …«

Da hatte ich ja eine nette Vorgängerin, denkt Elisabeth, und darf mich eigentlich über nichts wundern! Laut fragt sie das Stubenmädchen: »Wie lange war denn Fräulein Wende auf ihrem Posten hier?«

»Oh, kaum vier Wochen. Auch ihre Vorgängerinnen hielten es nie länger als vier bis sechs Wochen aus. Die Kinder sind ja auch zu schlimm … Sie werden es bald merken, Fräulein Benedikt! Von Folgen ist keine Rede … sie machen einfach, was sie wollen, niemand kümmert sich um sie – außer dem jungen Herrn, der ihnen manchmal die Leviten liest und sich mit ihnen beschäftigt … Aber der hat ja so viel mit der Fabrik zu tun, daß er auch nur selten dazu kommt und dann natürlich keine Wunder wirken kann. So hat unsereins seine liebe Not mit den Kindern …«

»Beruhigen Sie sich, Rosa, das wird von nun an anders werden. Ich werde mich sehr eingehend um die Kinder kümmern, denn ich sehe, wie nötig sie dies haben … und dazu bin ich ja da.«

Sie wendet sich wieder an Inge.

»Liebe Inge, willst du mir nun sagen, wie eure Tageseinteilung bisher war? Ich meine, um welche Stunde ihr aufstandet, wann ihr lerntet, womit ihr euch in euren Freistunden beschäftigtet und so weiter?«

Inge starrt sie verwundert an.

»Tageseinteilung? Gott, wir standen auf, wann es uns beliebte und taten dann, was uns gerade einfiel. Manchmal mußten wir wohl auch lernen – wenn Fräulein eben gerade Zeit hatte … meist aber nur nachmittags, oder wenn es regnete und Fräulein nicht mit Papa spazierenfahren konnte.«

»Hm – ihr konntet also so ziemlich tun, was ihr wolltet und scheint euch nicht viel mit dem Lernen geplagt zu haben? In Zukunft, das will ich euch gleich sagen, wird dies eure Hauptbeschäftigung sein und das Spiel nur als Lohn für fleißige Arbeit eingeschoben werden. Auch eine feste Tageseinteilung wollen wir zusammen aufstellen, in der jede Stunde ihre Bestimmung bekommt …«

»Ich mag aber nicht lernen,« unterbricht sie Inge, bei dieser Eröffnung ein schiefes Gesicht ziehend, »und Fee mag es auch nicht! Mädchen brauchen auch gar nicht viel zu lernen, sagt Mama,« fügt sie altklug hinzu, »sie brauchen bloß schön zu sein, gute Manieren zu haben und zu gefallen verstehen!«

»So? Da wirst du deine Mama aber jedenfalls gründlich mißverstanden haben, liebe Inge, sonst hätte sie euch wohl keine Erzieherin kommen lassen.«

»Bah – die soll uns Mama doch bloß vom Leib halten, weil Mama Kinder nicht mag! Wir gehen ihr auf die Nerven, sagt sie …«

»Darüber werde ich selbst mit eurer Mama sprechen. Jedenfalls sind derzeit eure Manieren noch sehr schlecht, und mit ›schön sein‹ und ›gefallen‹ hat es auch noch viele Jahre Zeit bei euch. Wir wollen uns also vorläufig mit näherliegenden Dingen befassen. Ich hoffe, daß ihr sehr bald gern lernen werdet, denn ihr seid doch kluge Mädchen und müßt euch sagen, daß dumme, unwissende Mädchen sehr beklagenswerte Geschöpfe sind, da niemand sie achtet. Man achtet und liebt nur Menschen, die ihre Pflicht tun, und in eurem Alter besteht die Pflicht eben darin, sich nach allen Richtungen hin Wissen anzueignen und … gehorchen zu lernen.«

Inge tauscht einen Blick mit Fee, in dem so deutlich geschrieben steht: Na, da sind wir ja an eine nette Person geraten …, daß Elisabeth beinahe laut aufgelacht hätte. Sie aber tut, als hätte sie den Blick nicht bemerkt, und fährt ruhig fort: »Nun noch eins. Du hast Rosa vorhin in sehr häßlicher Weise beleidigt, Inge, indem du ihr ›dumme Gans‹ zuriefst. Entschuldige dich dafür bei ihr.«

»Ich? Mich entschuldigen?!« fährt Inge entrüstet auf. »Das tue ich nicht! Rosa ist doch nur ein Dienstbote! Und ich …«

»Soll das heißen, daß du dich für mehr hältst als Rosa, liebe Inge?«

»Selbstverständlich!«

»Dann laß dich belehren, liebes Kind, daß du heute noch gar nichts bist als ein unreifes, unwissendes Kind, das noch nichts geleistet hat im Leben, und was es besitzt, nur der Güte seiner Eltern verdankt. Rosa aber verdient sich ihr Brot durch ehrliche Arbeit – steht also als erwachsener Mensch, der seinen Platz im Leben ausfüllt, weit über dir. Außerdem hast du sie beleidigt, es ist also nur selbstverständlich, daß du dich dafür entschuldigst. Auch ich würde dies im gleichen Fall ohne Zögern tun. Man hat kein Recht, seinen Nebenmenschen zu kränken, wer immer es auch sei.«

Inge starrt sprachlos vor sich hin. An eine derartige Sprache war sie nicht gewöhnt.

»Nun?«

»Ich tue es nicht! Ich lasse mir überhaupt nichts befehlen!« lautet die trotzige Antwort.

Elisabeths bisher freundliche Miene wird plötzlich ernst.

»Laß mich das nicht noch einmal hören, Inge! Mit Trotz und Widerstand wirst du bei mir nichts erreichen, als daß du dir selber das Leben schwer machst. Und ich möchte dich gern recht von Herzen lieb haben können und deine Freundin werden. Also sei nett und gehorche nun rasch.«

Mehr als Ton und Blick wirken auf das Kind die Worte, die von unbeugsamer Festigkeit, aber trotzdem voll Wärme sind. Inge ist dunkelrot geworden und senkt den Kopf. Im nächsten Augenblick geht sie zu Rosa, die mit großen Augen ganz verlegen dasteht, und murmelt leise: »Verzeihen Sie, Rosa … ich will es auch nie wieder sagen …«

Elisabeth schließt das Kind in die Arme und drückt einen innigen Kuß auf seine Lippen.

»Das war lieb und nett von dir, mein Herz! Und gelt, nun wollen wir künftig dafür sorgen, daß solch kleine unangenehme Notwendigkeiten uns erspart bleiben?«

»Darf ich nun die Kinder ankleiden?« fragt Rosa.

»Gewiß. Aber doch wohl nur Walter? Ihr großen Mädchen werdet euch doch wohl schon allein ankleiden? Es wäre ja eine Schande, wolltet ihr euch noch wie kleine Kinder anziehen lassen! Geschwind macht euch ans Werk – auch ich will mich jetzt rasch ankleiden, und wir wollen sehen, wer zuerst fertig sein wird – ihr oder ich.«

Sie wendet sich wieder an Rosa.

»Von morgen an werde ich Walterchen selbst ankleiden. Sie brauchen uns dann nur um acht das Frühstück zu bringen … oder frühstücken die Kinder gemeinsam mit ihren Eltern?«

»Nein, nie. Die gnädige Frau nimmt das Frühstück stets schon im Bett.«

»Ist die gnädige Frau schon auf?«

»Gott bewahre, es ist ja erst neun Uhr, und vor zehn steht sie nie auf! Heute wird es wohl noch später werden, denn die Gäste blieben gestern bis lange nach Mitternacht.«

»Gut. Wenn die gnädige Frau aufgestanden ist, melden Sie ihr, daß ich sie im Laufe des Tages um eine Unterredung bitten lasse.«

»Ich werde es melden, aber ich mache Fräulein darauf aufmerksam, daß sie nur ungern mit Dingen über die Erziehung der Kinder behelligt sein will. Die früheren Erzieherinnen durften sich damit nur an Herrn v. Schlomm oder den jungen Herrn wenden …«

»So? Nun, ich ziehe es jedenfalls vor, mich über die nötigen Punkte direkt mit der Mutter meiner Zöglinge ins Einvernehmen zu setzen. Richten Sie meine Botschaft also nur aus.«

»Gewiß, und vielleicht haben Fräulein Erfolg, weil Herr v. Schlomm gerade verreist ist. Er ist nämlich heute nacht mit einigen der Gäste, die aus Wien kamen, dorthin gefahren. Er will der gnädigen Frau von dort eine neue Kammerzofe schicken und dann noch einige Wochen dort bleiben, da Herr Ronald, wie ich bei Tisch reden hörte, ihn um die Erledigung einiger geschäftlicher Angelegenheiten gebeten hat.«

Elisabeth atmet unwillkürlich heimlich auf. Gottlob, so blieb ihr eine Wiederbegegnung mit dem Hausherrn vorläufig erspart!

Und das verdankte sie Ronald Schlomm …

Inge und Fee haben sich inzwischen ans Ankleiden gemacht und bemühen sich mit Feuereifer, ihre Strümpfe an die Beine zu bekommen.

Elisabeth nickt ihnen fröhlich zu.

»Seht ihr, wie gut es geht? Alles, was man ernstlich will, kann man auch! Diesen Grundsatz müßt ihr euch recht gut einprägen. Und nun will ich euch nur rasch noch sagen, daß wir heute einen Freitag einschalten wollen, damit wir uns erst mal richtig kennenlernen und Freundschaft schließen. Nach dem Frühstück sollt ihr die für gestern abend versprochene Geschichte und die Schokolade bekommen, und nachher wollen wir zusammen einen Spaziergang machen, da das Wetter trocken ist. Dabei müßt ihr mir dann Haus und Park und all eure Lieblingsplätze zeigen, ja?«

Die Frage wird mit begeistertem »Ja« und »Hurra« beantwortet. Elisabeth kann sich mit dem befriedigenden Bewußtsein in ihr Zimmer zurückziehen, daß sie auf dem besten Wege ist, sich die Herzen der Kinder zu gewinnen …


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