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Einige Tage später – es ist Sonnabend – sagt Herr v. Schlomm, sich beim Abendessen an seine Gattin wendend: »Liebe Irene, die Kinder betteln schon lange darum, mit ihnen einmal für den ganzen Tag nach St. Barbara zu fahren. Nun haben wir den Ausflug für morgen festgesetzt. Willst du uns nicht die große Freude machen, auch daran teilzunehmen? Es würde dich gewiß zerstreuen!«
»Ein – Familienausflug?« antwortet Irene, die Lippen spöttisch verziehend, »das glaubst du doch selber nicht!«
»Doch, du hast dir nur noch nie die Mühe gegeben, seinen Reiz kennenzulernen …«
»Danke. Damit kann man ja bis zum Greisenalter warten … vorläufig fühle ich mich wenigstens noch viel zu jung für derartige patriarchalische ›Zerstreuungen‹. Übrigens bin ich morgen nachmittag gar nicht frei.«
»Ah – du bist eingeladen?«
»Ja, bei Seretschenskis. Wie du weißt, haben sie Sonntag ihren Jour, und als ich Frau v. Seretschenski neulich in Lobstein traf, machte sie mir Vorwürfe, daß ich so lange nicht bei ihr gewesen sei, und nahm mir das Versprechen ab, morgen ganz bestimmt zu kommen.«
Hans Schlomm sagt kein Wort mehr. Er weiß, daß Seretschenskis alte Bekannte Sascha Kelims noch von Rußland her sind, Flüchtlinge wie er, die sich auf seinen Rat seinerzeit gleichfalls hier ankauften und in lebhaftem Verkehr mit ihm stehen.
Schlomm kann sich also denken, wen Irene dort zu treffen hofft …
Er wendet sich an Elisabeth.
»Aber Sie werden doch hoffentlich mitkommen, Fräulein Benedikt? Soviel ich weiß, kennen Sie St. Barbara noch gar nicht, und es würde Ihnen seiner landschaftlichen Reize wegen gewiß sehr gefallen!«
Elisabeths Gesicht nimmt einen verlegenen Ausdruck an. Sie hat an den drei letzten Sonntagen die Ausflüge der Kinder stets mitgemacht, und es war dabei sehr nett und gemütlich gewesen. Aber diesmal will sie lieber nach Waldheim; sie hat sich dort bereits schriftlich angesagt und Erhard gebeten, sie um vier Uhr abzuholen.
Ihr Herz, das sich seit dem Abschied von Ronald in der Bibliothek und durch das feindselige Verhalten der Hausfrau ihr gegenüber fremd und einsam in Wolfeck fühlt, dürstet förmlich nach einem warmen, aufrichtenden Wort der lieben Menschen in Waldheim, die sie so lange nicht gesehen hat. Aber das kann sie Herrn v. Schlomm selbstverständlich nicht sagen, ohne ihre Verwandtschaft mit Gadenbrucks und damit ihr Inkognito zu verraten, was sie durchaus zu vermeiden wünscht.
So antwortet sie errötend: »Ich bin davon überzeugt, Herr v. Schlomm, und danke herzlich für Ihre freundliche Aufforderung. Vielleicht darf ich mich ein andermal anschließen. Sie werden morgen gewiß nicht das letztemal nach St. Barbara fahren. Für diesmal muß ich aber leider danken, da ich bereits andere Pläne für den morgigen Nachmittag habe.«
»Schade! Nun, so wollen wir es bald nachholen, damit Sie St. Barbara kennenlernen.«
Weder Edine noch Irene ist Elisabeths Erröten und Verlegenheit entgangen. In Irene zuckt sofort wieder das eifersüchtige Mißtrauen auf.
Sollte die Person eine Verabredung mit Sascha haben? Aber nein – das war ja gar nicht möglich! Zu dem Jour bei Seretschenskis kam er bestimmt – noch niemals hatte er einen ausgelassen – außer früher zuweilen, wenn sie ihn ausdrücklich darum bat, weil sie ihn lieber für sich allein haben wollte.
Nein, nein, zu Seretschenskis kommt er morgen ganz bestimmt, und darum muß auch sie hin … es ist die einzige Möglichkeit, ihn bestimmt zu treffen …
Edine fühlt sich nicht beunruhigt. Sie hat bereits früher mit Ronald verabredet, daß sie beide morgen zu Ebelings nach Fichtenwinkel wollten, wo man gemeinsam mit Bekannten Tennis spielen und tanzen würde. Bereitwillig hat Ronald zugesagt und versprochen, sie um drei Uhr in Haugenbichl abzuholen.
Aber sie hegt einen andern Verdacht, und als sie nach dem Essen ein paar Minuten allein mit Irene ist, teilt sie ihr diesen mit.
»Weißt du, was die Benedikt morgen vorhat? Gewiß will sie den jungen Gadenbruck in Waldheim aufsuchen – du hast doch ihre Verlegenheit bemerkt?«
»Ja – aber wie kommst du auf die Idee … kennt sie denn Gadenbrucks überhaupt?«
»Na, mindestens den jungen. Er ist ihr Geliebter.«
»Woher weißt du das?«
»Vom Prinzen Kelim, der die beiden öfter Arm in Arm im Wald spazierengehen sah und einmal auch beobachtete, wie sie sich küßten. Er erzählte es mir neulich einmal, als wir von der Benedikt sprachen – als Beweis, daß sie nicht der Tugendspiegel ist, auf den sie sich hinausspielt … was ich ja übrigens längst wußte.«
Irene ist ganz aufgeregt.
Einerseits wäre diese Neuigkeit ja beruhigend – aber anderseits beweist sie doch auch wieder, daß Sascha dieser Person heimlich nachspioniert …
»Aber wie verhält sich denn die alte Gräfin diesen Dingen gegenüber?« fragt sie.
Edine zuckt die Achseln.
»Da fragst du mich zuviel. Wie soll ich das wissen? Vielleicht drückt sie ganz gern die Augen zu, weil diese Liebschaft den Sohn verhindert, ihr eine Schwiegertochter ins Haus zu bringen und sie so Alleinherrin in Waldheim bleibt.«
»Aber das wäre ja schmachvoll! Diese hochmütige Aristokratin, die sich zu gut dünkt, unsereinen zu empfangen oder den Besuch zu erwidern!«
»Na, du bist nicht die einzige – Mama und mich hat sie auch abgelehnt. Im Punkt der Moral wird auch in gräflichen Häusern mit Wasser gekocht … wenn's der eigene Vorteil so erheischt. Übrigens, du – bezüglich der Benedikt habe ich schon einen feinen Plan ersonnen, der allerdings unser beider tiefstes Geheimnis bleiben muß – ob du ihn nun ausführen willst oder nicht … aber still, Ronald kommt …«
»Und wann …?«
»Ich komme übermorgen vormittag, wenn Ronald und dein Mann in der Fabrik sind, zu dir. Dann teile ich ihn dir mit, und wir wollen darüber beraten,« flüstert Edine noch hastig und wendet sich dann mit harmloser Miene Ronald zu.
»Es ist wohl schon Zeit, nach Hause zu gehen, lieber Ronald?«
»Das hängt allein von deinen Wünschen ab. Wir können auch später gehen. Jetzt ist es neun Uhr …«
»Oh, dann ist es aber wirklich höchste Zeit. Auf Wiedersehen also übermorgen, liebe Irene, und gute Nacht für heute.«
*
»Nun habe ich wieder mein liebes Haustöchterchen um mich,« sagt Gräfin Gadenbruck, einen zärtlichen Blick auf Elisabeth werfend, die ihr gegenüber behaglich in den Polsterstuhl geschmiegt liegt. »Wie hübsch das ist!«
»Ja, es ist wunderschön, daß ich hier bei euch sein darf! Endlich wieder mal ein Atemzug – daheim! Schier krank habe ich mich danach gesehnt.«
»Könntest du ja alle Tage haben, dumme Lisel, wenn du nicht so eigensinnig wärest und dich auf diese Schlomms versteiftest,« brummt Erhard, sich eine neue Zigarre anzündend.
»Ich tu's doch nicht zum Vergnügen, Erhard, sondern weil ich es für meine Pflicht den Kindern gegenüber halte – wie oft muß ich dir das noch in Erinnerung bringen?«
»Na ja – und so weiter …! Aber begreifen kann ich's trotzdem nicht. Nach dem, was du uns vorhin erzählt hast … es ist ja himmelschreiend, daß diese geschminkte Seifenfabrikantin sich erlaubt, dir Eifersuchtsszenen zu machen und dich nachher noch zu schneiden … und die Braut des jungen Schlomm dich wie eine Magd behandelt … ja, sag' nur, Mädel, wie hältst du dies Höllenleben denn aus?«
Elisabeths dunkle Augen gehen an ihm vorüber durch die offenstehende Balkontür hinaus ins Weite. Ein schwaches Rot ist in ihr schöngeschnittenes sanftes Madonnengesicht gestiegen.
»Man hält viel aus, wenn man guten Willens ist und eine Aufgabe zu erfüllen hat. Und es wird ja mit der Zeit wohl auch besser werben … Frau v. Schlomm wird sich gewiß beruhigen und einsehen, daß sie mir unrecht tut.«
»Ich glaube, da kannst du lange warten!«
»Ich habe viel Geduld …«
»Das merkt man, sonst wärest du ja längst nicht mehr auf Wolfeck! Wie sind denn übrigens Vater und Sohn Schlomm zu dir? Der Alte war ja sattsam als Don Juan bekannt …«
»Ich sagte dir schon öfter, daß er es längst nicht mehr ist. Beide Herren benehmen sich tadellos gegen mich – sonst wäre ich doch auch die letzten Sonntage nicht mit ihm und den Kindern ausgefahren. Und nun laß mich zufrieden mit deinen Fragen, Erhard, und gönne mir die paar glücklichen Stunden, auf die ich mich schon so namenlos freute!«
»Ja, Kinder, streitet nicht, sondern freuen wir uns lieber des Beisammenseins!« mischt sich die Gräfin ein. »Lisel, erzähle mir von deinen Kindern! Das interessiert mich immer sehr. Schade, daß ich sie nicht kenne, ich habe sie schon aus deinen Schilderungen liebgewonnen! Und rück' deinen Stuhl hier dicht an mich heran und gib mir deine Hand … so, nun ist's gut, mein Liselein.«
Ja – so war es gut! Ganz so, als säße sie wieder daheim auf Benediktenberg bei Mamachen … Elisabeth denkt es mit feuchten Augen und einem tiefen Dankbarkeitsgefühl in der Seele …
Wie wohl ihrem armen, frierenden Herzen die Wärme tut, die von Tante Bernarda ausgeht und alle Räume dieses traulichen alten Hauses durchströmt!
Während sie der Tante von ihren Zöglingen vorplaudert, sitzt Erhard stumm mit finsterer Miene daneben.
Sein Stolz, aber auch seine herzliche, brüderliche Zuneigung zu Elisabeth können es nicht verwinden, daß die Kusine nicht nur in abhängiger Stellung bei Schlomms lebt, sondern außerdem auch noch Beleidigungen durch die Frau des Hauses erdulden muß. Dazu noch die Nachstellungen dieses dreisten Prinzen … alle Knochen im Leibe hätte er ihm dafür mit Vergnügen zerbrochen …
Und Lisel erlaubt nicht, daß er für sie eintritt …
Was sie heute wieder erzählt hat – er ahnt nicht, wie wohl Elisabeth diese rückhaltlose Aussprache mit ihresgleichen getan hat –, wurmt Erhard ganz besonders.
Plötzlich sagt er, aus seinem Grübeln auffahrend, mitten in das friedliche Gespräch der Damen hinein aufgebracht:
»Höre, Lisel, erlaube mir wenigstens, daß ich mir den Burschen nächstens ausborge und ihm meine Meinung sage!«
»Welchen Burschen?«
»Na, den Kelim natürlich, der dich mit Liebesanträgen verfolgt! Dem muß man doch das Handwerk legen! Und ich fürchte mich gar nicht vor ihm – sein Prinzentitel ist mir ganz schnuppe …«
»Aber Erhard, fängst du schon wieder mit solchen Tollheiten an? Sieh, es tut mir so unsagbar wohl, mich bei euch über alles offen aussprechen zu können, was zuweilen auf mir lastet. Wenn es aber solche Folgen hat, könnte ich nie mehr etwas erzählen. Willst du mich dieser Wohltat wirklich berauben?«
»Aber bedenke doch …«
»Genug! Sei überzeugt, daß ich deiner Hilfe gar nicht bedarf, weil ich schon selber den Mut habe, mich zu wehren, wenn man mir zu nahe tritt. Ob Prinz oder Tagelöhner, macht dann keinen Unterschied. So, und nun versprich mir ein für allemal, Erhard, daß du dich künftig einfach nicht mehr um diese Dinge kümmerst.«
Sie streckt ihm die Hand hin, in die er zögernd die seine legt.
»Na – in Gottes Namen, weil du's durchaus willst und ich dir den Aufenthalt in Waldheim beileibe nicht verekeln möchte. Verzeih also … es ist ja nur, weil ich dich so liebhabe und dich als mein kleines Schwesterchen betrachte … das Mama mir leider schuldig blieb!«
»So ist's recht. Hab' mich lieb, sage mir gelegentlich ein tröstendes Wort, wenn's not tut, aber …«
»Mische dich gefälligst im übrigen nicht in meine Angelegenheiten! Das wolltest du doch sagen?« ergänzt Erhard, schon wieder besänftigt, fröhlich lachend.
»Ganz richtig – und damit ist also der Friede zwischen uns endgültig geschlossen!«